Erste Anzeichen für das De-coupling und das Re-risking mit China: Welche Schlüsse lassen die Entwicklungen im Aussenhandel 2023 zu?

Die Regierungsvertreter aus den USA und vielen Ländern Europas gaben sich im vergangenen Jahr viel Mühe, Beijing zu versichern, man wolle kein «De-coupling», sondern «nur» ein «De-risking». Die offizielle Schweiz ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat den Vertretern der Volksrepublik China im Januar nicht nur im Rahmen eines quasi-Staatsbesuches den roten Teppich ausgerollt, sondern auch grossartig verkündet, es werde bald ein erweitertes Freihandelsabkommen geben. Aussenminister Cassis will nun seinem Kollegen Wang Yi in Beijing die Aufwartung machen. Aber heisst das, dass das Thema «Decoupling» und «De-risking» vom Tisch ist?

von Maja Blumer, 6. Februar 2024

Wieso fliegt Bundesrat Cassis nach China?

Wenn es nach dem Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis geht, ist die Antwort auf die Frage, ob das Thema «Decoupling» bzw. «De-risking» vom Tisch ist, ganz sicher «Ja». Kaum drei Wochen nach dem quasi-Staatsbesuch von Li Qiang in Bern am 15. Januar 2024 reist Bundesrat Cassis nach Beijing, um am 7. Februar 2024 den alt-neuen chinesischen Aussenminister Wang Yi für die Weiterführung des «strategischen Dialogs» zu treffen und Han Zheng, der den offiziellen Titel 中华人民共和国副主席 trägt, einen «Höflichkeitsbesuch» abzustatten. Mit Wang Yi soll Ignazio Cassis insbesondere die «internationale Sicherheitslage thematisieren, etwa den Krieg in der Ukraine, die Lage im Nahen Osten und die Situation auf der koreanischen Halbinsel». En passant will Bundesrat Cassis auch noch Indien, Südkorea (am 6. Februar 2024) und die Philippinen besuchen (am 8. Februar 2024)

Überflieger in einem Wandgemälde im Ihwa Mural Village in Seoul. Ob Bundesrat Cassis seinen Besuch in Südkorea ebenso unbeschwert erlebt? (Bild: privat)

Das wäre alles schön und gut, wenn diese beiden Treffen in der Volksrepublik China irgendeine geopolitische Bedeutung hätten. Der 70-jährige Wang Yi, der in der Geschichte um das Verschwinden von Aussenminister Qin Gang aber auch im Zusammenhang mit der Wolf Warrior Diplomacy eine zwieliechtige Rolle gespielt hat, soll möglicherweise schon im kommenden März abgelöst werden. Dass Han Zheng in der chinesischen Politik je eine wichtige Rolle spielt, ist eher unwahrscheinlich. Theoretisch käme er gemäss Verfassung als Stellvertretender Vorsitzender zum Zug, wenn Xi Jinping sein Amt nicht ausüben könnte. Sein Amt hat in der Geschichte der insgesamt vier Verfassungen der Volksrepublik China (1954, 1975, 1978 und 1982) keine Rolle gespielt, zumal die Position des Stellvertretenden Vorsitzenden in der von 1975 bis 1977 geltenden Verfassung der Volksrepublik China eliminiert worden war und damit beim Tod von Mao 1976 nicht zum Tragen kam.

Das Treffen mit Wang Yi und Han Zheng ist umso erstaunlicher, als der Schweizer Bundesrat, und insbesondere Aussenminster Cassis anlässlich des WEF 2024 State Secretary Blinken die kalte Schulter gezeigt hat. Wäre es nicht angezeigt gewesen, die internationale Sicherheitslage auch mit diesem zu thematisieren, wenn man schon die Gelegenheit dazu hatte?

Der Besuch in China ist auch insofern irritierend, als die EU-Staaten und insbesondere Deutschland eine dezidierte Strategie des De-risking verfolgen, während dieser Begriff in der Schweizer Politik praktisch tabu ist. Auch in der Unternehmenswelt sehen gemäss einer Studie des KOF lediglich etwa 7 Prozent die Abhängigkeit von Vorleistungen aus China als hoch oder sehr hoch an. Mehr als die Hälfte der Firmen hat gar keine Massnahmen getroffen, um die Abhängigkeit von China zu reduzieren.

Das demonstrative «Re-coupling» und «Re-Risking» des Schweizer Bundesrates und insbesondere von Aussenminister Cassis mit der Volksrepublik China könnte zum Schluss verleiten, die Schweiz setze ganz auf die Karte China, selbst auf das Risiko hin, es sich mit der EU und den USA zu verderben. Und auch auf das Risiko hin, den Schweizer Unternehmen, Studenten und Touristen vorzugaukeln, sie könnten bedenkenlos in China investieren, studieren und reisen.

Hat der Bundesrat die rechtliche Kompetenz, eine Strategie des Re-coupling mit China zu verfolgen?

Doch ist das Decoupling oder De-risking bzw. das Re-coupling bzw. Re-risking wirklich etwas, worüber der Schweizer Bundesrat oder Aussenminister Cassis entscheiden kann?

Die Antwort auf die Frage ist heikel: In Art. 54 Abs. 1 der schweizerischen Bundesverfassung ist festgehalten, dass die Aussenpolitik Sache des Bundes (sprich: des Bundesrates) ist. Es folgen aber gleich etliche Einschränkungen.

Erstens ist der Bund verpflichtet, gewisse Ziele zu verfolgen, etwa die Unabhängigkeit und Wohlfahrt der Schweiz, die Achtung von Demokratie und Menschenrechten etc. (Art. 54 Abs. 2 der BV).

Zweitens sind die Kantone in Entscheide einzubeziehen, jedenfalls soweit ihre Interessen betroffen sind (Art. 55 BV). Ein Re-coupling mit der Volksrepublik China, etwa in der Form einer «Vertiefung» des Freihandelsabkommens», ohne Konsultation der Kantone wäre rechtlich heikel.

Drittens muss die Bundesversammlung in die Aussenpolitik einbezogen werden (Art. 152 ParlG), insbesondere beim Abschluss, der Änderung oder Kündigung von völkerrechtlichen Verträgen im weiteren Sinne, die je nachdem dem Referendum unterliegen (Art. 166 und Art. 162 BV). Bei der beabsichtigten Nachbesserung des Freihandelsabkommens ohne Berücksichtigung der Menschenrechte wird eine Volksabstimmung zur Zitterpartie.

Die rechtlichen Probleme mit der erwähnten Vertiefung des Freihandelsabkommens dürfte noch zu reden geben. Bundesrat Guy Parmelin hat nämlich am 15. Januar 2024 anlässlich des Staatsbesuchs von Li Qiang zusammen mit dem chinesischen Wirtschaftsminister Wang Wentao eine «Déclaration conjointe sur la coopération» unterzeichnet, welche zwar den Einbezug von kleinen und mittleren Unternehmen in die anstehenden Diskussionen vorsieht, das Thema Menschenrechte aber weiterhin klar ausklammert.

Declaration-conjointe-cooperation-DFEFR-Ministere-du-commerce-Chine-texte-FR-1

Für den Moment ist festzuhalten, dass ein strategischer Entscheid des Bundesrats für ein Re-coupling zwar rechtlich problematisch aber zumindest in rechtlich «weniger wichtigen» Formen von völkerrechtlichen Verträgen wie der erwähnten «Déclaration conjointe» nicht gänzlich auszuschliessen ist.

Wie kann der Bundesrat eines Re-coupling oder Re-risking umsetzen?

Aber wie sieht es bezüglich der Durchsetzung eines Re-coupling im Sinne einer effektiven Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Bereich Handel, Investitionen, nachhaltiger Entwicklung und einem gemeinsamen Auftreten von der Schweiz und China im Rahmen der Reform der WHO? (All dies in der vorerwähnten Déclaration conjointe vorgesehen). Und wie lassen sich die Erfolge einer solchen Politik des Re-coupling messen?

An dieser Stelle ist vielleicht in Erinnerung zu rufen, was De-risking genau bedeutet. In Anlehnung an das amerikanische Aussenministerium, welches den Terminus unter Bezugnahme auf Finanzsanktionen definiert, kann De-risiking wie folgt umschrieben werden:

De-Risking bezieht sich auf das Phänomen, dass Finanzinstitute und Unternehmen Geschäftsbeziehungen mit Kunden oder Kundenkategorien beenden oder einschränken, um Risiken zu vermeiden, anstatt sie im Rahmen des Risikomanagements zu steuern.

De-risking ist damit aus Unternehmer- oder Bankensicht ein Mittel, zu dem man greift, wenn man Risiken nicht mehr anderweitig kontrollieren kann. Jeder vernünftige Unternehmer und Bankier wird seine Kundenbeziehungen nicht beenden, wenn er andere Wege sieht, die Risiken, die sich aus der jeweils in der Beziehung zu den jeweiligen Kunden (z.B. zu einer politisch exponierten Personen) bzw. Kundenkategorie (z.B. russische Oligarchen), ergeben, irgendwie anders zu managen.

De-risking ist ein Phänomen, das auf unzähligen Einzelentscheidungen von Akteuren basiert und erst sichtbar wird, wenn sich diese Einzelentscheidungen kumulieren.

Der Bundesrat kann hier Signale aussenden. Er kann beispielsweise in China darauf hinwirken, dass auf Touristenvisum verzichtet und damit mehr Schweizer Touristen China besuchen. Er kann Unternehmen seine Netzwerke wie Konsulate oder Beratungsorganisationen wie «Swissnex» oder «Switzerland Global Enterprise» zur Verfügung stellen. Er kann Studenten und Forscher, die in China studieren wollen, Stipendien gewähren oder nach ihrer Rückkehr interessante Stellen anbieten, so dass Netzwerkeffekte enstehen.

Dass mehr Schweizer an einer chinesischen Universität (hier: Szene auf dem Campus der Beijing Language and Culture University) studieren, mag für den Bund wünschenswert sein, doch am Ende ist es ein individueller Entscheid. (Bild: privat)

Letztendlich werden alle diese Personen und Unternehmen selber entscheiden, ob sie in China leben, arbeiten, reisen, studieren wollen, und die entsprechenden Chancen und Risiken in Kauf nehmen, oder eben andere Destinationen bevorzugen.

Erste Anzeichen für das Decoupling bzw. De-risking

In Bezug auf die Volksrepublik China und in reduzierten Masse bezüglich der First Island Chain (Südkorea, Japan, Taiwan und Philippinen) bestehen erste Indizien, dass ein De-risking oder Decoupling tatsächlich stattfindet.

Ein Indiz sind die «Expats», die im Ausland arbeiten oder studieren. Sie nehmen Umbrüche in ihrer selbstgewählten Heimat, die das Leben dort riskanter (oder weniger riskant) erscheinen lassen, am ehesten wahr, und haben am meisten zu verlieren, wenn sie voreilig die Zelte im Gasland abbrechen.

Hier war schon vor einem Jahr alarmierend, dass die Zahl der in der Festlandchina registrierten Schweizer bereits Ende 2022 unter die Marke von 1’000 Personen gefallen ist, auf weniger als die Hälfte des Höchstbestandes zehn Jahre zuvor. Ob hier der Tiefpunkt erreicht ist, wird in einigen Wochen bekannt werden, wenn die Auslandschweizerstatistik 2023 veröffentlicht wird.

Die Zahl der Studierenden aus der Schweiz war schon immer sehr gering, sowohl in Masterstudiengängen wie auch bezüglich Sprachstudien an der Mittel- und Oberstufe. Die Zahl dürfte in den letzten Jahren noch mehr zurückgegangen sein. Noch krasser ist die Abnahme bei den Studierenden aus den USA: In den Jahren bis 2019 studierten pro Jahr etwa 11’000 amerikanische Studenten in der Volksrepublik China, im Studienjahr 2022/2023 waren es noch 211.

Eine Sprachklasse der Beijing Language and Culture University, wo schon auf dem Höhepunkt des China-Booms Studierende im Jahr 2013/2014 aus der Schweiz auf der Mittel- und Oberstufe äusserst rar waren, was natürlich vorteilhaft ist, da man nicht in Versuchung gerät, mit seinen ukrainischen, russischen, agyptischen oder japanischen Klassenkollegen in Deutsch oder Englisch zu kommunizieren. (Bild: privat)

Und dann gibt es noch die Rechtsanwälte, die sich auf die Volksrepublik China spezialisiert haben und eine Türöffnerfunktion hatten. Keiner von ihnen wollte an die grosse Glocke hängen, dass er sich aus China zurückzieht. Aber die Zahlen der grossen Kanzleien sprechen für sich: Baker McKenzie hat seit 2018 die Zahl der Anwälte in Shanghai und Beijing von 60 auf 16 reduziert, Linklaters entliess im September 2023 in seinen Büros in diversen chinesischen Städten 30 Anwälte. Die 2015 erfolgte Fusion von Dentons (ein schweizerischer Verein!) mit der chinesischen Dacheng wurde im Juli 2023 zurückbuchstabiert. Inzwischen sagen es einige Chinaspezialisten offen:

What I  call the guilded age of China Tech is clearly coming to an end. – Benjamin Qiu, Elliott Kwok Levine & Jaroslaw, China Unscripted, 5. Februar 2024

Ein weiteres – allerdings volatiles – Indiz sind die Börsen. Der Hongkonger Hang Seng Index verlor im vergangenen Jahr ca. 26%, seit seinem letzten Peak im Januar 2018 sogar mehr als die Hälfte. In Festlandchina verlor der CSI 300 etwa 22%, seit seinem letzten Peak im Februar 2021 verlor er 45% seines Werts. Die Aktienmärkte im Rest der Welt, insbesondere in Japan und Indien, bewegten sich in die entgegengesetzte Richtung. Eine Vermutung ist, dass dies ein Anzeichen für eine Kapitalflucht aus China ist, welche sich nicht nur ausländische Investoren sondern auch die chinesische Bevölkerung erstreckt und auf grössere Probleme in der chinesischen Wirtschaft hinweist. Dies ist umso heikler, als der chinesische Aktienmarkt von rund 200 Millionen Retail-Investoren geprägt ist, Alternativen wie der chinesische Immobilienmarkt oder der chinesische Bondmarkt wenig attraktiv sind und Vermögenstransfers ins Ausland schwierig sind. Fehlinvestitionen sind zudem vorprogrammiert, weil negative Informationen unterdrückt werden. Nun soll der «säkulare Gott» Xi Jinping die finanzielle Misere beheben, heute wurde er von den Finanzmarktverantwortlichen Chinas offiziell über die Lage an der Börse orientiert.

«The entire giraffe community is filled with optimism.» So einer von 130’000 Posts von frustrierten Anlegern auf dem Weibo-Account der US-Botschaft in Beijing unter Bezugnahme auf entsprechende Propaganda. Für die optimistische Giraffe in dieser Wandmalerei bei der Gondelbahn Maokong in Taipei geht’s jedenfalls immer bergauf. (Bild: privat)

Handelsbeziehungen der Schweiz zur Frist Island Chain vs. Volksrepublik China

Und schliesslich ist da noch der Handel, einer der wenigen Bereiche, wo man bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in China noch verlässliche Zahlen hat. Allerdings nützen diese nur, wenn man sie in den Kontext sehen kann. Hier zeigen sich in erstaunliche Divergenzen zwischen den Ländern der First Island Chain und der Volksrepublik China, aber auch der Schweiz die ein De-risking abzulehnen scheint und Deutschland, dass eine entsprechende China-Politik verfolgt (Quelle der Zahlen für die Schweiz: Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit BAZG; Quelle der Zahlen für Deutschland: Statistisches Bundesamt DESTATIS):

Die Schweizer Exporte in die Volksrepublik China – Festlandchina, Hong Kong und Macau – nahmen 2023 gegenüber dem Vorjahr um 4% zu, von insgesamt rund CHF 20,2 Milliarden im Jahr 2022 auf CHF 21,0 Milliarden 2023, so viel wie nie zuvor. Spitzenreiter war hier Hong Kong, dorthin wurden 33% mehr importiert als im Vorjahr, während die Exporte nach Festlandchina leicht (-3.5%) und Macau (-7.2%) stärker zurückgingen. Es stellt sich nicht nur bezüglich der plötzlichen Exportzunahme nach Hong Kong sondern auch bezüglich der Exporte nach Festlandchina die Frage, ob diese Exporterfolge nachhaltig sind. Es ist denkbar, dass hier hier bewusst der Weg für eine «Nachbesserung» des Freihandelsabkommens geebnet wurde.

Bezüglich der Länder der First Island Chain – Südkorea, Japan, Taiwan und die Philippinen – reduzierte sich der Wert der dorthin exportierten Schweizer Waren um 16%, von rund CHF 15,2 Milliarden 2022 auf CHF 12,9 Milliarden 2023. Am stärksten brachen gegenüber dem Vorjahr die Exporte nach Japan ein (-18,1%) gefolgt von Taiwan (-15,6%) und schliesslich Südkorea -10,3%. Relativ stabil, aber auf sehr tiefem Niveau, waren die Philippinen (-2,7%).

Die Importe aus Festlandchina, Hong Kong und Macau in die Schweiz veränderten sich um -11%, hier vermochte eine Zunahme der Importe aus Hong Kong um 14,4% den fehlenden Exporterfolg Festlandchinas (-12,1%) und in Macaus (-9%) nicht wettzumachen. Kein Wunder, zeigt Beijing plötzlich ein Interesse an einer «Nachbesserung» des Freihandelsvertrags. Allerdings ist das «Minus» stark zu relativieren. 2022 schnellten die Importe aus der Volksrepublik China erstmals auf 21,4 Milliarden hoch, gegenüber CHF 18,9 Milliarden im Vorjahr 2021 und CHF 12,8 Milliarden 2013. Die Importe aus der Volksrepublik China und machten wie schon in den Jahren 2020 und 2021 über 9% der Gesamtimporte der Schweiz aus. 2023 kamen immer noch 8,5% der Schweizer Gesamtimporte aus der Volksrepublik China. Bei einer Störung von Handelsrouten, wie sie derzeit am Bab el Mandeb bzw. im Suezkanal stattfinden, wird die Schweiz überlegen müssen, ob sie sich wirklich auf die Volksrepublik China verlassen wollen, die bislang nicht gerade viel dazu beigetragen haben, die Situation zu entschärfen, sondern daraus Profit schlagen wollen.

Dass die Importe aus den Ländern der First Island Chain mit einem Plus von 2% insgesamt bloss stagniert haben, ist auf die Exporterfolge Japans und Südkoreas zurückzuführen. Südkorea legte innert Jahresfrist um 18,1% zu, Japan um immerhin 5,2%. Die Philippinen und Taiwan hatten mit -19,3 bzw. -19,6% extreme Einbussen zu verkraften.

Völlig andere Handelsentwicklung in Deutschland

Interessant ist der Vergleich mit dem grossen Nachbarn und Handelsweltmeister Deutschland. Die deutschen Exporte in die Volksrepublik China brachen durchwegs ein: Die Differenz zum Vorjahr beträgt -8,9% für Festlandchina, -1,7% für Hong Kong und -34% für Macau. Machen die Schweizer Exporteure hier ein Geschäft auf Kosten ihrer deutschen Kollegen?

Die deutschen Exporte in die Länder der First Island Chain gingen zwar auch etwas zurück, die Rückgänge waren aber weit weniger dramatisch als in der Schweiz. Die Differenz zum Vorjahr beträgt -1,4% für deutsche Exporte nach Japan, -5,1% nach Südkorea, -3,4% in die Philippinen und -10,4% nach Taiwan.

Auch bei den Importen sieht das Bild in Deutschland gegenüber der Schweiz ganz anders aus: -19,3% für Festlandchina, -18,8% für Hongkong und -15,9% für Macau. In absoluten Zahlen ist natürlich Festlandchina am bedeutesten. Wurden 2022 aus Festlandchina noch Waren im Wert von EUR 192’829’950’000 bezogen, waren es 2023 nur noch EUR 155’705’510’000, also EUR 37,1 Milliarden weniger. Wenn sich diese Tendenz fortsetzen sollte, werden bezüglich China in wenigen Jahren ganz andere Themen diskutiert werden müssen.

Düstere Aussichten für den Handel in Hong Kong, auch wenn die Schweiz im letzten Jahr die Ausnahme bildete. (Bild: privat)

Die Importe aus Südkorea und Japan blieben in Deutschland mit +0,5% und -0,2% relativ stabil. Die Philippinen und Taiwan litten mit -8,8% bzw. -7,1% zwar auch, aber nicht in einem extremen Ausmasse wie die Schweiz.

Fazit

Insgesamt bestehen in mehrfacher Hinsicht Indizien, dass ein Decoupling bzw. ein De-risking stattfindet.

Für die Schweiz ist das Decoupling bezüglich Taiwan augenfällig und zwar bezüglich Importen wie auch Exporten. Es handelt sich dabei um die Fortsetzung eines langjährigen Trends. Vorstösse des Nationalrats, die darauf abzielten, die wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen zu Taiwan zu verbessern, wurden vom Bundesrat abgeschmettert. Diese klare Parteinahme ist in Beijing sicherlich hochwillkommen. In Taiwan, der EU und den USA dürfte dies jedoch Irritationen auslösen. Und natürlich auch bei denjenigen Schweizern, die Taiwan schätzen, dort Handelsbeziehungen pflegen oder gar dort leben.

Erklärungsbedarf besteht auch bezüglich dem Einbruch der Importe aus den Philippinen. Aussenminister Cassis wird dort am 8. Februar 2024 auf dem Rückweg aus Beijing Halt machen. Nachdem sich Wang Yi und Mao Ning ziemlich in die Nesseln gesetzt haben, bräuchte eine Vermittlerrolle zwischen China und den Philippinen sehr viel mehr Landeskenntnisse und Fingerspitzengefühl, als Bundesrat Cassis oder irgendeinam anderen offiziellen Vertreter der Schweiz zuzutrauen ist. Dass Bundesrat Cassis der erste Bundesrat seit 2008 ist, der in Manila Zwischenhalt macht, sagt eigentlich schon genug. Die Situation ist nun noch brenzliger geworden, als der ehemalige (chinafreundliche) Präsident Duterte Sezessionsgelüste hinsichtlich seiner Heimatprovinz Mindanao hegt, die schon seit langem ein Pulverfass ist. Ideen zu einer Verbesserung der Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und den Philippinen dürften aber willkommen sein. Ob Ignazio Cassis entsprechende Vorschläge im Handgepäck hat?

Seit 2008 ist Bundesrat Cassis das erste Schweizer Regierungsmitglied, welches den Philippinen einen offiziellen Besuch abstattet. Für einen Besuch in El Nido (im Bild) dürfte die Stippvisite jedoch kaum reichen. (Bild: privat)

Ideen wären wohl auch bei den Schweizer Exporteuren gefragt, die an den Exporten nach Südkorea interessiert sind. Ignazio Cassis wird auf seinem kurzen Trip um die halbe Welt auch dort Halt machen. Vielleicht kann er wenigstens dort punkten und das Interesse an Schweizer Produkten wiederbeleben.

Bei den Exporten in die Volksrepublik China bestehen Anzeichen für ein Re-risking, indem die Versuchung besteht, in den Zahlen des letzten Jahres eine Trendwende zu sehen und zu erwarten, dass die Exporte weiter ansteigen, wie man es eigentlich schon bei den Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China und Hong Kong erwartet hatte (die Erwartung hat sich nicht erfüllt). Es ist natürlich zu hoffen, dass der Durchbruch mit dem «neuen» Freihandelsabkommen, das nun ausgehandelt werden soll, tatsächlich geschafft wird. Die Gefahr eines «Confirmation Bias» (Bestätigungsfehler), indem man aus den Zahlen das herausliest, was mit dem Freihandelsabkommen zu erreichen suchte, ohne den Kontext zu beachten (Kannibalisierung des Handels mit Hong Kong zugunsten der Volksrepublik China, sprunghafter Anstieg der Expoorte nach Hong Kong im letzten Jahr, Anteil an den Gesamtexporten.

Insbesondere ist durchaus denkbar, dass der Exporterfolg der Schweizer auf Kosten der deutschen Exporteure erzielt wurde. Dafür spricht insbesondere, dass die EU-weiten «thematischen» Sanktionen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen vom März 2021 gegenüber der Volksrepublik China vom Schweizer Bundesrat nicht mitgetragen wurden, was im Geheimen bereits im Dezember 2022 entschieden wurde.

Es besteht das doppelte Risiko, dass das «nachgebesserte» Freihandelsabkommen auf nicht stichhaltigen Zahlen beruhen wird und dass die Schweiz (einmal mehr) als Trittbrettfahrerin wahrgenommen wird, welche kurzfristige wirtschaftliche Interessen über langfristige Ziele wie Förderung der Demokratie und Achtung der Menschenrechte stellt.

Bezüglich Deutschland scheint die Abhängigkeit von chinesischen Importwaren bereits stark abgenommen zu haben, während sich für die deutschen Exporteure ein schleichender Niedergang des chinesischen Marktes abzeichnet. Die Handelsbeziehungen Deutschlands zu den Ländern der First Island Chain scheint deutlich ausgewogener zu sein als im Falle der Schweiz.