Die chinesischen Little Pinks und das Londoner Pianogate

Am WEF 2024 in Davos versuchte der chinesische Premier Li Qiang unterstützt von einer rekordverdächtig hohen Zahl von Ministern und anderen Funktionären, das Vertrauen in die chinesische Wirtschaft wiederherzustellen. Mit mässigem Erfolg, seine Rede wurde als zu wenig konkret abgetan. Einen vollen Erfolg konnten dagegen eine Gruppe «Little Pinks» verbuchen, die sich in der Londoner Bahnstation St. Pancras ein Wortgefecht mit dem Pianisten Brendan Kavanagh lieferten. Jedenfalls wenn sie bezweckten, das Interesse der internationalen Medien zu wecken. Bezüglich der chinesischen «Landeskommunikation» wie auch in persönlicher Hinsicht war die Aktion ein Desaster.

von Maja Blumer, 26. Januar 2024

Brendan Kavanagh, «Dr. K», ist ein streitbarer britischer Pianist, der sich mit seinen Auftritten in Fussgängerzonen oder öffentlichen Gebäuden auf Youtube eine Anhängerschaft von über zwei Millionen Followern geschaffen hat und unzählige Passanten begeistert, von denen sich viele entweder selber ans Klavier setzen oder sich zu einer Tanzeinlage hinreissen lassen.

So hätte es auch am 19. Januar 2024 sein können, als Brendan Kavanagh in der Londoner Bahnstation St. Pancras am von Elton John spendierten Klavier Platz nahm, um ein bisschen Boogie Woogie zu spielen. Das Piano hat schon legendäre Auftritte gesehen, unter anderem von Elton John selbst, Lang Lang, Alicia Keys, Rod Stewart und Tausender anderer mehr oder weniger talentierter Pianisten. Einige spielen zum puren Vergnügen, andere wollen sich vermarkten. Die britische Zeitung The Guardian schrieb am 15. Dezember 2023 dazu:

Forget Wembley – if you have an album to promote (and both Stewart and Keys do), there’s only one place to be seen, and that’s between Mac Cosmetics and Accessorize at the bottom of the lift to St Pancras platforms 1-4. Viral social media content is guaranteed. – Esther Addley, Alicia Keys, Elton John … and Joe from the Guardian: why they’ve all played the St Pancras piano, The Guardian, 15. Dezember 2023

Kavanagh überlässt seinen Platz «Jim», der den Blues hat und soeben dabei ist, mit einer japanischen Filmcrew Aufnahmen zu machen. Anschliessen schäkern Jim und Dr. K. mit Adelina, die im Hintergrund aufgetaucht ist und einer der Chinesen aus der Entourage von Adelina stellt sein Talent am Klavier ebenfalls mit einem Blues zur Schau. Ein freundlicher Wettstreit von drei sehr talentierten Musikern aus verschiedenen Ecken der Welt um die Gunst des Publikums wäre gewährleistet gewesen:

Jim hat den Blues: If you ever change your mind.

Doch danach läuft irgend etwas bezüglich der Völkerverständigung schief, wie das darauffolgende Video zeigt, welches um die Welt gegangen ist und inzwischen gegen 9 Millionen Views verzeichnet. Bereits zu Beginn des Livestreams (Minute 0:38) weist Brendan Kavanagh darauf hin:

There’s a lot of kind of uh surreptitious activity going on in the station. I might need your help. – Brendan Kavanagh

Vorahnung bezüglich der verstohlenen Aktion, die sich hinter seinem Rücken abwickelt, oder abgekartete Sache? Im Hintergrund ist immer noch das Grüppchen Chinesen am Werk, zu denen Adelina und der talentierte unbekannte Pianist gehört. Inzwischen sind sie bewehrt mit roten Schals, gelben Spickzetteln und kleinen roten Flaggen. Jim taucht wieder auf und spielt den Blues und Brendan Kavanagh lädt Adelina zu einem Tänzchen ein und spielt weiter, als sie ablehnt. Danach weist Jim darauf hin, dass die Chinesen eine Runde spielen möchten.

Eine weitere chinesische Influencerin, Liu Mengying wendet sich an Dr. K. Augenscheinlich geht es nicht um die Benutzung des Pianos, sondern um etwas anderes. Liu Mengying stellt sich vor «We are Chinese TV» und will Brendan Kavanagh verbieten, seinen Auftritt zu streamen. Begrundung: Die Anwesenheit der chinesischen Gruppe sei «not disclosable»:

«You’re not allowed because because we’re for TV this is not…disos…it’s not disco…not disclosable…» – Liu Mengying

Das stösst bei Dr. K. auf Unverständnis. Verständlich: Wie sollte seine Darbietung an einem öffentlichen Klavier möglich sein, die nicht nur von ihm selbst sondern auch von Dutzenden von Passanten aufgenommen geteilt wird? An einem Klavier, dass wie gesagt Social Media Content garantiert, ob nun Lang Lang oder Dr. K. oder «Joe from the Guardian» darauf spielt!

Ein weiterer chinesischer Influencer, Newton Leng mischt sich ein und erklärt:

It’s just just make sure that we are very very secure in the reason that we don’t want our voice or picture being filmed and then yeah that’s just the relationship between you and me you and us basically what relationship just now we are very so I’m going to repeat that us basically what relationship just now we are very so I’m going to repeat that all of us we cannot share our images online right yeah there’s no reason that’s our choice that’s our right oh so it’s it’s not a legal thing it is a legal thing because this is our right we’re protecting and we want don’t want our voice or images to be raled online I’m really appreciating it this is not your fault obviously and this is not our fault obviously that we we have our own agreement with other people that we cannot be shown online okay yeah so sorry about this so who who’s allowed to record you then just just making sure you’re not recording us yeah because if you are recording us that when we are saying this you’re still recording and hen we will put legal action into it oh okay we will put a legal action we will I’m sorry this is the end of the conversation this is our right.

Im Ergebnis heisst das: Nicht die Anwesenden entscheiden im offenen Diskurs, wer von der Medienöffentlichkeit des Klaviers von St. Pancras profitiert, auch nicht Elton John, der das Klavier geschenkt hat, um allen eine Freude zu machen, nicht die Betreiber der St. Pancras Station, welche Grund und Boden für das Klavier zur Verfügung stellen, nicht die Mitarbeiter in den Läden in der Umgebung, nicht die britischen Gesetze, welche die Frage von Aufnahmen in der Öffentlichkeit regeln. Wenn es nach Newton ginge, entschieden darüber seine Auftraggeber – mutmasslich das chinesische Staatsfernsehen – ob, wann und wer am Piano in der St. Pancras Station gefilmt werden darf.

Dr. K. wendet ein, es handle sich um einen öffentlichen Platz in einem freien Land und man sei in Grossbritannien, nicht in China. «When in Rome do as the Romans do.» Ein Argument, dass die Little Pinks nicht verstehen. Adelina mischt sich ein, sie sei auch Britin. Dr. K. fragt, was denn mit der chinesischen Flagge sei, die Adelina in der Hand trägt.

Newton rastet darauf aus: «Stop touching her» (obwohl Brendan Kavanagh nur kurz die Flagge berührt hat und eindeutig physisch auf Abstand ging) schreit er unzählige Male, während Adelina mehrmals sagt «Don’t shoot him». Ob sie (berechtigte) Angst hatte, jemand würde ein Video Vorfall schiessen, ob sie befürchtete, Newton würde von einer (verdeckten) Schusswaffe gebrauch machen oder ob das Englisch der «Britin» so mangelhaft ist, dass sie eigentlich sagen wollte, «don’t shout at him», ist nicht so ganz klar.

Am Ende schreitet die Polizei ein, das Piano wird eine Weile unter Quarantäne gestellt und das Ansehen Chinas hat weiteren Schaden genommen. Die Profile der drei Influencer werden in den sozialen Medien Chinas gelöscht. Der Streisand Effekt und der Umstand, dass die drei Influencer im chinesischen Internet «gedoxt» (Doxing: von englisch dox, Abkürzung für documents = Dokumente, das Zusammentragen und anschliessende Veröffentlichen von personenbezogenen Daten) ist nur der Anfang der Tragödie.

Entspricht es dem Plan der drei «Little Pinks» – jungen Kämpfern der kommunistischen Partei Chinas, die den Wolf Warriors nacheifern, um die Würde ihres Landes zu verteidigen – und dem chinesischen Fernsehen, in dessen Auftrag sie sehr wahrscheinlich gehandelt haben, nicht nur das Interesse beim chinesischen Publikum zu wecken, sondern auch der Weltöffentlichkeit? Wohl eher nicht, denn Little Pinks gelten nicht nur als hyper-agressiv und hyper-nationalistisch, sondern auch als hyper-sensitiv. Mit Sarkasmus, Parodie oder rationalen Argumenten, die nicht in ihr Weltbild passen, können sie nicht umgehen. Dies zeigt der Wortwechsel mit Brendan Kavanagh deutlich.

Newton kann beispielsweise nicht erklären, wieso er meint, die chinesische Flagge, die er und die Mitglieder seiner Gruppe in der Hand halten, sei keine kommunistische Flagge. Liu Mengying doppelte später in ihrer Verteidigung auf den sozialen Medien nach, und behauptete, es sei Gegenstand einer Kontroverse, ob die chinesische Flagge eine kommunistische Flagge sei. Mao würde sich im Grab umdrehen, symbolisiert doch der grosse gelbe Stern (im Entwurf ergänzt durch Hammer und Sichel) die kommunistische Partei. Nelson wirft Dr. K. an den Kopf «go educate yourself» (was dieser dann auch tut).

«Go educate yourself», ein Rat, den auch Qin Gang, damals Aussenminister der Volksrepublik China, hier bei einem Vortrag über die chinesische Verfassung am 7.3.2023 besser beherzigt hätte. Qin Gang hat seine Bildungslücken hinsichtlich der chinesischen Verfassung mutmasslich mit dem Leben bezahlt. (Bild: https://www.mfa.gov.cn/eng/zxxx_662805/202303/t20230307_11037190.html)

Die Taktik, der Gegenseite Bildungslücken vorzuwerfen, wenden auch die Wolf Warriors gerne an. Man erinnere sich etwa an den Auftritt von Qin Gang am 7. März 2023 mit der Verfassung der Volksrepublik China, mit er den versammelten Medien erklärte, wieso die Annektion des von der Republik China beherrschten Territoriums zwingend sei. Das ist ein ziemlich schwaches Argument, wenn man bedenkt, dass die Verfassung der Republik China schon seit 75 Jahren in Kraft ist, während die Verfassung der Volksrepublik China sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten als nicht besonders stabil erwiesen hat. Qin Gang hat den Versuch, mit seinem Auftritt in der Weltöffentlichkeit zu punkten, auch nicht sehr lange überlebt. Er wurde zuletzt am 25. Juni 2023 gesichtet und es gehen Gerüchte um, dass er exekutiert wurde.

Ein anderes Beispiel für den Umgang mit der Projektion, die andere Seite sei ungebildet, bot kürzlich Mao Ning, die dem philippinischen Präsidenten empfahl, mehr Bücher zu lesen, um zu verstehen, welchen Fehler er gemacht hat, als er William Lai zur Wahl ins Präsidentenamt der Republik China gratuliert hat. Der Backlash war insbesondere im Fall von Mao Ning beträchtlich, und zwar nicht nur von offizieller Seite, sondern auch in der philippinischen Bevölkerung.

It is unfortunate that the (Chinese) ministry of foreign affairs spokesperson stooped to such low and gutter-level talk – resorting to insulting our president and the Filipino nation, and further debasing herself, the ministry, and party she represents in the process. – Gilberto Tedoro, Philippinischer Verteidgungsminsiter, 17. Januar 2024

Oy, Deputy Mao Ning, only we the sovereign Filipino people can insult our presidents, granted most of them have been eminently deserving. You have no right. Our presidents may bungle, but they’re our bunglers. And, Deputy Mao Ning, since I’m not the Philippines’ head of state or the ambassador to China, I can insult your Great, Glorious, and Correct Leader back without sparking a diplomatic brouhaha like you did. – Rene Ciria Cruz, Philippinischer Bürger, 25. Januar 2024

Newton kann oder will auch nicht sagen, ob er Mitglied der kommunistischen Partei ist. Das ist insofern bedeutsam, als die KPC eine elitäre Partei ist, welche ihre Mitglieder etwa bei den besten Hochschulen und den wirtschaftlichen Eliten des Landes rekrutiert. Es kann sehr wohl sein, dass Newton noch nicht zu diesem erlauchten Kreis gehört. Es kann aber auch sein, dass er Parteimitglied ist und deshalb fürchtet, für den Gesichtsverlust, den er und die Partei erleiden, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Reaktion von Newton Leng kann insofern eher als Panik denn als Agression gewertet werden, sein «please, please, please» als echte Bitte und seine Forderung, dass sich Brendan Kavanagh entschuldigen soll, als wirklicher Versuch der Deeskalation.

Sicher ist, dass die drei Little Pinks keine unbeschriebenen Blätter sind. Adelina Zhang wird in Verbindung mit der Arbeit der Einheitsfront (United Front) der Kommunistischen Partei Chinas gebracht. An einigen Anlässen, bei denen sie als Moderatorin wirkte, und über welche auch in den chinesischen Staatsmedien berichtet wurde, trat sie zusammen mit Newton Leng auf, unter anderem bei den Asian Games im letzten Sommer. Newton soll ein Lehrerdiplom von der University of Edinburgh haben, in Verbindung mit den berühmt-berüchtigten Konfuziusinstituten stehen (deren Verbot in Grossbritannien diskutiert wurde), als Consultant für die Financial Times arbeiten und eine eigene Beratungsfirma haben, mit der er Chinesischlehrer coacht. Die Dritte im Bunde, Liu Mengying, soll an der Universität Nottingham Künstliche Intelligenz studiert haben und für Intel und Deutsche Bank tätig gewesen sein. Sie soll als Coach hunderten von Studenten geholfen haben, ihren Traumjob in Grossbritannien zu ergattern.

Der Werdegang der drei «Little Pinks» könnte erklären, weshalb Newton und Angelina so panisch reagiert hat. Der Ausraster Newtons dürfte weder seiner Karriere in der Kommunistischen Partei Chinas förderlich sein, noch seiner «Beratungstätigkeit» in Grossbritannien.

Nun kann man natürlich sagen, wer nicht nur ein «Little Pink» sein will, sondern ein grosser Wolf Warrior, muss mit den Wölfen heulen. Ob sich das bezahlt macht? Berühmte Wolf Warriors wie Verstummen gebracht worden: Zhao Lijian wurde zum Grenzsteine-Pinseln abkommandiert, Qin Gang möglicherweise exekutiert worden sein, Lu Shaye (Botschafter in Frankreich) soll unter de facto unter Hausarrest gestellt worden sein, Guo Yezhou plötzlich entlassen worden sein und einer der diplomatischen Vertreter bei der UNO, Geng Shuang hatte ebenfalls mit Gerüchten um eine Affäre zu kämpfen.

Was aber haben die Little Pinks in der Bahnstation St. Pancras wursprünglich bezweckt? Zum einen ging es wahrscheinlich tatsächlich um einen Auftritt fürs chinesische Fernsehen, und zwar für die grosse Neujahrsgala, die beim chinesischen Neujahr über alle Bildschirme aller chinesischen Haushalte flimmert – tagelang und in Endlosschlaufe. Darauf deuten nicht nur Aussagen hin, dass sie im Auftrag des chinesischen Fernsehen im Bahnhof St. Pancras seien und einen Zeitplan einzuhalten hätten, sondern auch die roten Schals, welche sie sich umgehängt haben und das Symbol eines Drachens zeigen. Dass ein solcher Auftritt im Staatsfernsehen nicht vorzeitig über die sozialen Medien verbreitet werden soll, ist irgendwie verständlich. Gleichzeitig handelten sie wohl mindestens indirekt im Auftrag des chinesischen Führers Xi Jinping, der gemäss einer Rede vom 29. Dezember 2023 eine «diplomatische eiserne Armee» formen will, die gegenüber der kommunistischen Partei loyal ist mit Haltung, stetige Bereitschaft und dem festen Willen, «starken Mächten zu trotzen». Gleichzeitig soll diese eiserne diplomatische Armee mit Samthandschuhen operieren:

We must make broad and deep friendships, and the fight to win people’s hearts must be carried out at all levels. We must use foreign language and methods to tell the China story well, – Xi Jinping, 29. Dezember 2023

Warum aber St. Pancras? Die einfache Antwort ist, dass solche Einblendungen von im Ausland gefilmten Segmenten in der Neujahrsgala Tradition haben. Es kann aber auch sein, dass die Chinesen wussten, dass die Japaner am gleichen Tag in St. Pancras filmen würden – Jim erwähnt etwas in die Richtung, als er sagt, dass er eine Bewilligung eingeholt hat. Anzunehmen ist auch, dass die Chinesen wussten, dass Dr. K. an diesem Tag dort filmen würde. Und schliesslich war das Elton-John-Piano auch Zentrum eines Auftrittes der Regenschirm-Revolutionäre Yinfi Lu und Ricker Choi aus Hong Kong, welche vor einem Jahr die (in Hong Kong und der Volksrepublik China verbotene) Hymne «Glory to Hong Kong» und «Do You Hear the People Sing».

Es wäre interessant zu wissen, welche Darbietung die Chinesen

Dr. K. ist damit bewusst oder unbewusst in einen Showdown in einem Propagandakrieg geraten, der an den Filmklassiker Casablanca aus dem Jahr 1942 erinnert. Dort nehmen die Nazis das Klavier von Sam in Rick’s Café Américain in Beschlag und singen das Hitlerlied «Die Wacht am Rhein». Die Band von Rick – der seine Zustimmung mit einem kurzen Nicken gegenüber dem Bandleader bestätigt und damit Position bezieht – und die Flüchtlinge im Nachtklub stehen auf und singen die französische Nationalhymne «La Marseillaise». Rick’s Café Américain wird daraufhin dichtgemacht.

Interessant wäre, zu wissen, was Adelina und ihre chinafähnchenschwingende Gruppe mit dem Klavier genau planten. Was stand auf den gelben Kärtchen, die sie mit sich trugen? Was wollten die Little Pinks der Hymne «Glory to Hong Kong» und dem Lied «Do You Hear the People Sing» entgegenhalten? Ein chinesisches Pendant zur «Wacht am Rhein» wo der Rhein, der durch sechs Länder fliesst, plötzlich zum «deutschen» Rhein wurde, ein Ziel, dass die Nazis im Zweiten Weltkrieg beinahe erreicht haben? Etwa «To Taiwan in 2035» oder «The Red Sun Must Illuminate Taiwan»? Und was hat es zu bedeuten, dass Adelina ein Kostüm trägt, das an die Vierzigerjahre erinnert? War das eine Bezugnahme auf die Zeit des Zweiten Welkriegs oder ein blosser Zufall?

Inzwischen gibt es auf der musikalischen Ebene bereits eine Gegenreaktion. Der berühmte Rapper Namewee, der die Little Pinks bereits mit seinem Song «Fragile» auf die Schippe genommen hat, hat am 26. Januar 2024 ein neues Musicvideo veröffentlicht: Ft. Winnie the Poo, The People of the Dragon. Das Video ist innert wenigen Stunden viral gegangen.

Brendan Kavanagh wusste sich zu wehren, nicht zuletzt weil einige «Old China Hands» auf Youtube wie Lei von Lei’s Real Talk, David Zhang von China Insider oder Serpentza, C-Milk von The China Show – auf das Risiko hin, selber ins Visier der Zensur zu geraten. Bis jetzt sind Versuche, Dr. K. stummzuschalten gescheitert.

Die Geschichte hat aber auch rechtliche und politische Aspekte, welche auf staatlicher Ebene geklärt werden müssen, bevor die Dinge vollends aus dem Ruder laufen. David Zhang weist darauf hin:

The piano was cordoned off, and thank God it’s back. But it just shows, you know, the level of pressure that the CCP has exerted onto every different country around the world and how much that actually impacts people. You know back in the days we think that China is a distant country, right, as long we get get friendly with them we can enjoy the mutual benefit. But today clearly that’s not the case and you can’t escape China.– David Zhang, China Insider with David Chang, 26. Januar 2024

Kann es einfach hingenommen werden, dass mutmassliche Vertreter der Einheitsfront der Kommunistischen Partei Chinas eines staatlichen chinesischen Fernsehsender eine Propagandasendung im Ausland drehen, dazu noch für eine Fernsehsendung mit Milliardenpublikum, dabei chinesische Fähnchen schwenken und dabei noch einen Bürger des Gastlandes mit rechtlichen Schritten bedrohen, diesen anschuldigen, rassistisch zu sein, versuchen, seinen Youtube Channel zu löschen? Können die Betroffenen keinen Schutz von den Behörden Ihres Landes erwarten?

Es handelt sich beim Zensurversuch gegenüber Dr. K. keineswegs um einen Einzelfall. Auch in der Schweiz werden Leute, die es wagen, sich kritisch zu China zu äussern, mundtot gemacht. Wenige Fällen, in denen sich Betroffene erfolgreich für ihre Meinungsäusserungsfreiheit wehren (ein Beispiel wäre Christoph Rehage, der in Deutschland von einem Landsmann (erfolglos) verklagt wurde), stehen unzählige Fälle gegenüber, in denen jemand zur Selbstzensur greift und lieber gar nichts mehr zu Themen wie der Verbesserung der Beziehungen zu Taiwan, zu den dortigen Wahlen, dem Freihandelsabkommen mit China, dem Schutz der Schweizer Wirtschaft im Rahmen der Investitionskontrolle oder die Menschenrechtssituation in Xinjiang oder Hong Kong sagt, auch wenn er vielleicht etwas zu sagen hätte. Mit Kontakten in China oder Hong Kong spricht man lieber nicht mehr über sensitive Themen. Erst recht wagt man es kaum mehr, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen. Das schadet allen: dem eigenen Land und China.

Ein Umdenken zeichnet sich nicht ab. Ende Dezember 2023 wurde vom Bundesrat nach fünf Jahren mit Mühe und Not die Botschaft betreffend das Investitionsprüfgesetz (Investitionskontrollen) widerwillig verabschiedet; bis ein solches Gesetz allenfalls in Kraft treten würde, wäre der Schaden zweifellos schon angerichtet. Das gleiche gilt für das Freihandelsabkommen mit China: Die schweizerische Bundesverwaltung hat zusammen mit der chinesischen Regierung sage und schreibe sieben Jahre eine «Studie» abzuschliessen, um die Grundlage einer «Verstärkung» des Freihandelsabkommens bzw. der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu legen. Der Inhalt dieser «Studie» ist offensichtlich unter Verschluss, ebenso die Namen der «Experten», welche an dieser Studie beteiligt war. Das einzige, was man dazu dem MOU vom 15. Januar 2024 entnehmen kann, ist, dass der Privatsektor und insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen, bei den Gesprächen des gemischten Ausschusses Schweiz-China involviert werden sollen. Das wäre vor 15 oder 10 Jahren sicher eine gute Idee gewesen. Wer bis jetzt von den KMU in der Schweiz im Umgang mit China noch keine individuelle Lösung gefunden hat (was für die meisten heisst, dass sie sich ganz vom chinesischen Markt zurückgezogen haben), hat sicher Besseres zu tun, als seine Meinung in einem «gemischten Ausschuss» mitzumischen.

Kurzum: wenn die Diplomatie versagt und die Politiker in der Bubble von Davos nicht in der Lage sind, das Vertrauen in sie wiederherzustellen, werden eben Leute wie die Little Pinks, Brendan Kavanagh, Rene Ciria Cruz und Christoph Rehage die Sache selber in die Hand nehmen. Gerichte und diplomatische Kanäle sowie die vielen diplomatischen «Dialoge» werden dadurch obsolet.

Das ist weder neu oder tragisch. Nur stellt sich die Frage: Für was zahlen wir eigentlich Steuern? Braucht es überhaupt noch diplomatische Vertretung, «Dialoge» auf Regierungsebene etc.?

Diese Frage wurde bereits in den letzten siebzig Jahren mehrfach aufgeworfen, namentlich in Taiwan, wo die Schweiz nur «rein private» politische (z.B. diplomatische bzw. konsularische Aufgaben), wirtschaftliche, kulturelle und staatsvertragliche Beziehungen (z.B. Doppelbesteuerngsabkommen) zulässt.

Die «taiwanesische Lösung» könnte auch anderswo funktionieren. In der Republik China war es bis in die Siebzigerjahre Albert Louis Münzhuber, der in Taiwan über viele Jahre quasi im Nebenberuf als Diplomat fungierte (im Hauptberuf war er für die Inventa AG bzw. Cosa-Liebermann SA tätig). Er erstellte beispielsweise Statistiken für diverse Schweizer Bundesämter, gab Auskünfte über die wirtschaftliche Zusammenarbeit, vermittelte entsprechende Kontakte zur taiwanesischen Regierung und lud die in Taiwan ansässigen Schweizer jeweils am 1. August in seine Villa in Taipei ein. 1974 richtete er die «Far East Trade Service» in Zürich ein, sozusagen ein Konsulat Taiwans, und er regelte dank seinen Kontakten zu Bundesrat Furgler, zu dem er freundschaftliche Beziehungen aus Studienzeiten pflegten, auch die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung der beiden Mitarbeiter dieses Quasi-Konsulats. Es war Münzhuber der im Bezug auf die Wehrsteuer die These aufstellte: pas de protection = pas de paiement. Das Problem wurde insofern gelöst, als Münzhuber ab 1970 keine Wehrsteuer mehr zahlen musste.

Die taiwanesische Lösung könnte allerdings dann heikel sein, wenn es hart auf hart geht, etwa bei einer weiteren Krise in der Taiwanstrasse, welche von einer überwiegenden Anzahl von Experten für 2024 als wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich angesehen wird (vgl. CSIS, Surveying the Experts, Januar 2024, S. 25). Hier bräuchte es entweder sehr talentierte private Vermittler, wie beispielsweise Friedrich Karl Belart, der 1920 in Aserbeitschan nach der Machtübernahme durch die Kommunisten für einige entscheidende Wochen die Rolle eines de facto-Konsuls übernommen hatte. Oder man vertraut darauf, dass die USA oder sonstwer einem aus der Patsche helfen.

Bundesrat Cassis hat sich zum Ziel gesetzt, sich bis Ende des Jahres 2024 Gedanken über die «Landeskommunikation» zu machen, d.h. zu prüfen, wie die Interessenwahrung der Schweiz im Ausland mit den Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützt werden kann, damit diese «zu einer positiven und differenzierten Wahrnehmung unseres Landes beiträgt.» Zugleich soll bis Ende Jahr eine «neue» Personalstrategie im EDA verabschiedet werden, wobei der Bundesrat gemäss einem Postulat zu prüfen hat «das Karrieresystem im EDA angesichts der Veränderungen in der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten einer Anpassung bedarf».

Man darf gespannt sein, wie der Bundesrat mit Wolf Warriors, Little Pinks und anderen Leuten, die sich wie Dr. K. und Rene Ciria Cruz nicht an diplomatische Gepflogenheiten halten wollen, umzugehen gedenkt. Nicht zu reden von informellen Diplomaten wie den Nachfolgern von Albert Münzhuber und den Vertretern von schweizerischen KMU, deren Mitwirkung bei der Nachbesserung des schweizerisch-chinesischen Freihandelsabkommens nun plötzlich vorgesehen ist.