Formosa hat gewählt – und die Schweiz täte gut daran, diese Wahl zu akzeptieren

Heute haben die 19,5 Millionen Stimmberechtigten auf den Inseln Taiwans das Recht und das Privileg gehabt, den Präsidenten und die Legislative der Republik China zu wählen. Im Mai 2023 soll Lai Ching-te sein Amt als neuer Präsident antreten, zusammen mit Hsiao Bi-khim, welche als Vizepräsidentin fungieren wird.

von Maja Blumer, 13. Februar 2024

Die Portugiesen haben das Land Ilha Formosa genannt, und dieses Land hat es nicht nur geschafft, diverse Kolonialherren abzuschütteln sondern auch eine Diktatur, welche die seit 75 geltende Verfassung jahrzehntelang ausser Kraft gesetzt hat. Heute hat dieses Land zum achten Mal in freien Volkswahlen einen Präsidenten gewählt. Und es ist zu erwarten, dass die offizielle Schweiz so tun wird, als gäbe es diese Wahl nicht, denn aus unerfindlichen Gründen hat ein Bundespräsident vor 73 Jahren und 361 Tagen beschlossen, es gäbe es dieses Land, seine Verfassung und seine Regierung nicht. Vielleicht wäre es nach 74 Jahren einmal an der Zeit, den Status quo zu akzeptieren.

Die Rede ist natürlich von der Republik China, besser bekannt als Taiwan, früher als Formosa bezeichnet. Heute, am 13. Januar 2024 wurde die Wahlbevölkerung von rund 19,5 Millionen Bürgern in 17’795 Wahllokalen in Taiwan an die Urne gerufen, um die Volksvertreter für die 113 Sitze in der Legislative (Legislative Yuan) sowie den neuen Präsidenten der Republik China zu bestimmen. Rund 14 Millionen Taiwaner, d.h. über 70% der Wahlberechtigten, sind dem Aufruf gefolgt und haben ihre Stimme abgegeben.

Das Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl ist wie folgt:

  • gewählt ist mit 5’586’019 Stimmen (40% der abgegebenen Stimmen) der aktuelle Vizepräsident der Republik China, Lai Ching-te, der Kandidat der Democratic Progressive Party (DPP)
  • auf dem zweiten Platz liegt mit 4’671’021 Stimmen (33,5%) Hou Yu-ih von der Kuomintang (KPT)
  • der dritte Kandidat Ko Wen-jie von der Taiwan People’s Party (TPP) hat 3’690’466 Stimmen (26,5%) auf sich vereint.

Auch wenn das Wahlresultat in der Rückschau klar erscheint, ist es keine Selbstverständlichkeit. Erstens waren da die Drohungen der Volksrepublik China, welche Lai Ching-te und die neue Vizepräsidentin, Hsiao Bi-khim als unverbesserliche Separatisten gebrandmarkt hat. Dass die Volksrepublik China mit solchen Separatisten nicht über grenzüberschreitende Probleme geschweige denn eine Zusammenarbeit diskutieren will, ist dass eine. Dass die Volksrepublik China eine solche Zusammenarbeit Drittländern verwehren will, das andere. Ein Beispiel ist Australien, welchem der dortige chinesische Botschafter gedroht hat, das Land werde in den Abgrund gestossen werden (“pushed over the edge of an abyss”), wenn es mit Lai Ching-te und den gewählten Volksvertreter von der DPP zusammenarbeite, wird sich bespielsweise wohl Gedanken machen müssen, ob es überhaupt noch möglich ist, mit dem maoistischen Regime gedeihliche diplomatische Beziehungen zu pflegen.

Zweitens stellt die Wahl 2024 einen Paradigmenwechsel dar. Anfang der Neunzigerjahre schaffte Taiwan den Sprung von der Einparteienherrschaft der Kuomintang (KPT) zu einer Demokratie, welche vorab von der KPT und der Democratic Progressive Party (DPP) geprägt wurde. Die erst im August 2019 geschaffene Taiwan People’s Party (TPP) erreichte 2020 einen ersten Achtungserfolg, indem es ihr gelang, auf Anhieb 5 Sitze im Legislative Yuan zu erobern. Über 26 Prozent der Stimmen in den Präsidentschaftswahlen auf sich zu vereinen, ist nicht mehr nur ein Achtungserfolg, sondern ein Paradigmenwechsel.

Ein weiterer Paradigmenwechsel in der taiwanesischen Politik ist, dass sich KMT und DPP in der Legislative die Waage halten, während die TPP und weitere Parteien das Zünglein an der Waage spielen.

Dieser doppelte Paradigmenwechsel bedeutet für Taiwan, dass mehr Kooperation unter den fähigsten Köpfen nötig ist, um mit einer Stimme zu sprechen. Und er bedeutet, dass sich der Rest der Welt damit abfinden muss, dass Taiwan eine Demokratie ist, in der das Volk das letzte Wort hat und sich so die politischen Gewichte verlagern können.

Konkret bedeutet das, Drittstaaten müssen sich entscheiden: Arbeiten wir mit der verfassungsmässig gewählten Regierung eines Landes zusammen, wenn es darum geht, Lösungen für zwischenstaatliche, regionale oder globale Lösungen zu finden? Oder mit dem Repräsentanten einer Partei, welche uns gerade in den Kram passt?

Für eine Demokratie müsste die Antwort eigentlich auf der Hand liegen. Ein Schweizer Bundesrat hat allerdings vor 73 Jahren und 361 Tagen im Alleingang, ohne den Gesamtbundesrat oder das Parlament auch nur zu konsultieren, beschlossen, die maoistische Regierung (nicht etwa die Volksrepublik China) anzuerkennen und so zu tun, als gäbe es die Republik China mitsamt seiner Verfassung nicht mehr. Dieser Entscheid eines einzelnen Bundesrats wurde von der Regierung, dem Parlament und dem Volk widerspruchslos geschluckt und nie wirklich in Frage gestellt. Das ist nicht nur mehr als peinlich, sondern schädlich für unser Land. Heute wäre die Chance gekommen, dies zu korrigieren.

Hier ein Formulierungsvorschlag für die Bundespräsidentin:

Dear Mr. Lai Ching-te:

My warmest congratulations on your election victory. As you enter the great office of President, I want to extend my very best wishes for success for you and your government and the people of the Republic of China. I look forward to the establishment of a close and friendly cooperation, based on mutual confidence and respect, which has been denied to our countries for so long.

With warmest personal regards.

Sincerely,

Viola Amherd

Bis Mai, wenn Lai Ching-te sein neues Amt übernimmt bleibt noch etwas Zeit, am Formulierungsvorschlag (leicht abgewandelt von dem Gratulationsschreiben, welche Präsident Lyndon B. Johnson 1964 an den Premierminister Harold Wilson geschickt hat) zu arbeiten (ich bin mit den diplomatischen Gepflogenheiten in der Schweiz nicht vertraut). Und natürlich die neue Vizepräsidentin. Übrigens verstehen beide gut Englisch, man kann also auch ganz einfach zum Telefonhörer greifen.

Von meiner Seite jedenfalls schon einmal die irrelevante aber herzliche Gratulation an die beiden Gewählten, Lai Ching-te und Hsiao Bi-khim, wie auch an die übrigen Kandidaten und die Bevölkerung Taiwans, welche diese Wahl überhaupt erst möglich gemacht haben.