Die alt-neue Chinastrategie der deutschen Bundesregierung: Auf Sand gebaut

Nach langem Hin- und Her hat die deutsche Bundesregierung eine Chinastrategie verabschiedet. Die Reaktion im chinesischen Aussenministerium war gehässigt: Die Strategie würde «nur das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken» und «menschengemachte Risiken schaffen». Hat er vielleicht sogar ein bisschen recht?

von Maja Blumer, 17. Juli 2023

Auf den ersten Blick scheint es, als sei der am 13. Juli 2023 veröffentlichte China-Strategie der deutschen Bundesregierung seien bereits alle Zähne gezogen worden, bevor sie in Druck ging. In vielen Punkten ähnelt das deutsche Strategiepapier der vom Schweizer Bundesrat im März 2021 verabschiedeten China-Strategie 2021-2024.

Wie schon nach der Veröffentlichung der Schweizer China-Strategie liess das chinesische Aussenministerium kein gutes Haar am 64 Seiten umfassenden Papier der deutschen Bundesregierung. Wang Wenbin sagte dazu an der täglichen Pressekonferenz des chinesischen Aussenministeriums vom 14. Juli 2023, die Strategie würde nicht «nur das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken» sondern gar «menschengemachte Risiken schaffen». Und weiter: «Das Zetermordio über den sogenannten Wettbewerb der Systeme, Interessen und Werte widerspricht dem Trend der Zeit und wird die Spaltungen in der Welt nur verschärfen.»


德国《明镜》周刊记者:昨天,德国政府出台酝酿已久的“中国战略”。中方如何看待这份文件?它将对中德关系产生什么影响?

汪文斌:中方注意到德方发布的有关文件。我们认为,以“去风险”“降依赖”之名行竞争和保护主义之实,将正常的合作泛安全化、泛政治化,只会适得其反,人为制造风险。以价值观和意识形态划线鼓噪所谓“制度、利益、价值观竞争”,更是逆时代潮流而动,只会加剧世界分裂。

事实上,中德共识远多于分歧,合作远大于竞争,双方是伙伴而不是对手。在当前复杂动荡的国际形势下,希望德方全面、客观看待中国发展,制定理性、务实的对华政策,同中方携手应对全球性挑战,为世界和平与发展贡献更多稳定性和正能量。

Deutscher Spiegel-Reporter: Gestern hat die deutsche Regierung eine lang erwartete «China-Strategie» vorgestellt. Was hält China von diesem Dokument? Welche Auswirkungen wird es auf die Beziehungen zwischen China und Deutschland haben?

Wang Wenbin: China hat die entsprechenden Dokumente, die von deutscher Seite veröffentlicht wurden, zur Kenntnis genommen. Wir sind der Meinung, dass Wettbewerb und Protektionismus im Namen von «De-risking» und «Verringerung der Abhängigkeit» sowie die Überstrapazierung der Sicherheitspolitik für normalen Zusammenarbeit nur kontraproduktiv sind und menschengemachte Risiken schaffen. Das von Werturteilen und Ideologien geprägte Zetermordio über den «Wettbewerb der Systeme, Interessen und Werte» widerspricht dem Trend der Zeit und wird die Spaltung der Welt nur noch verschärfen.

Tatsächlich gibt es zwischen China und Deutschland weit mehr Übereinstimmungen als Differenzen, weit mehr Kooperation als Konkurrenz, und beide Seiten sind eher Partner als Rivalen. In der gegenwärtigen komplexen und unbeständigen internationalen Situation hoffen wir, dass Deutschland einen umfassenden und objektiven Blick auf Chinas Entwicklung wirft, eine rationale und pragmatische Politik gegenüber China formuliert, gemeinsam mit China die globalen Herausforderungen angeht und zu mehr Stabilität und positiver Energie für Frieden und Entwicklung in der Welt beiträgt.

Der Vorwurf einer irrationalen, dogmatischen Politik welche den Frieden und die Entwicklung in der Welt gefährdet klingt zunächst einmal übertrieben. Liegt es etwa am heissen Eisen Taiwan. Gut, 13x ist auch von Taiwan die Rede, das heisse Eisen hat die deutsche Regierung also nicht ausgelassen. Man wolle «enge und gute Beziehungen» zu diesem Land ausbauen (wie, das weiss der Himmel), Taiwan sei sowohl als Standort für deutsche Unternehmen als auch als Handelspartner von Bedeutung. Vielleicht wurde diese doch sehr zurückhaltende Formulierung als versteckte Drohung verstanden: im Rahmen unseres «De-risking» haben wir die Option, unsere Handelsbeziehungen mit Taiwan zu versärken. Angesichts der Grössenverhältnisse ist das zwar für viele Unternehmen keine Alternative, aber Taiwan ist für China nun einmal ein wunder Punkt.

Ein weiterer wunder Punkt ist der Terminus De-Risking, ein sowohl von der EU (insbesondere der aus Deutschland stammenden EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) als auch von den USA neuerdings bevorzugter Begriff, welcher Risikominderung, Diversifizierung, Risikostreuung etc. umfassen soll und nicht zu einer Abkoppelung, einem De-Coupling führen soll. All den westlichen Vertretern, die in den letzten Monaten nach Beiing gepilgert sind, haben es bisher nicht geschafft, der chinesischen Regierung zu erklären, was dann der praktische Unterschied zwischen De-Risking und De-Coupling ist. Die Diskussion dürfte auch ziemlich müssig sein, die Absetzbewegung aus China findet längst statt, ob man das nun als Decoupling bezeichnen will oder als Derisking schönreden will. Wer will schon in den kollabierenden chinesischen Immobilienmarkt investieren, oder in Bonds bankrotter Städte und Provinzen? Expats verlassen das Land in Scharen, wenn sie überhaupt noch können. Unternehmen überlegen, ob sie wirklich in China produzieren wollen, oder nicht lieber anderswo. Auf China spezialisierte Wissenschafter und Journalisten beschäftigen sich lieber mit anderen Dingen, um nicht entweder vom chinesischen Propagandapperat vereinnahmt zu werden oder aber von den China-Shills und Little Pinks angefeindet zu werden. Und damit wären wir beim nächsten grossen Problem: Dem Dialog.

Das Stichwort «Dialog» taucht in der China Strategie der Bundesregierung sage und schreibe 45 Mal auf – weniger oft allerdings als im schweizerischen Pendant, wo man es auf vierzig Seiten sogar 61 Mal geschaft hat, das Wort Dialog einzuflechen. Dialog scheint ein Allheilmittel zu sein. Was gibt es da alles für schöne Dialoge: Bilaterale Fachdialoge, Strategischer Dialog der Aussenministerinnen und -minister, Hochrangiger Finanzdialog, Hochrangiger Sicherheitsdialog, Menschenrechtsdialog, Rechtsstaatsdialog, Dialog zur Zukunft der Arbeit, Klima- und Transformationsdialog (neu seit 2023), Dialog zwischen den Parlamenten (offenbar hat noch niemand gemerkt, dass es so etwas wie ein Parlament im westlichen Sinne in China nicht gibt), Bilateraler Mediendialog, Dialog zum Kohleausstieg, Dialog zu den Standards und Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit, Dialog zur Ernährungssicherung (über das Deutsch-Chinesische Agrarzentrum, usw.

Nun hat China seit langem signalisiert, dass es kein Interesse an solchen «Dialogen» hat. Die von vielen Bücklingen begleiteten Besuche von Staatssekretär Blinken und Finanzministerin Yellen hat man noch knapp über sich ergehen lassen, Josep Borrell, den hohen Vertreter der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik hat man dan gleich kommentarlos ausgeladen. Das ist im Grunde genommen nur konsequent. «Jemanden aufzuwecken, der nur so tut, als ob er schlafe, ist unmöglich», sagte der legendäre Wolf Warrior Zhao Lijian dazu jeweils. Der Versuch der deutschen Regierung, für «Verständnis» für ihre «Position» zu werben, ist so gesehen zwar vielleicht gut gemeint aber schlicht sinnlos. Dass bezüglich von unzähligen Regierungen (auch der schweizerischen) geführte Dialoge zu rein gar nichts gebracht haben, ist eigentlich längst bekannt. Der auf China spezialisierte Prof. Ralph Weber sagte kürzlich in einem Interview in der Sendung Sternstunden im Schweizer Fernsehen dazu:

Dialog ist ein Wort das ich gerne aus dem politischen Diskurs fast schon bannen würde. Dialog haben wir lange probiert. Wo sind die Resultate von Dialog? 20 Jahre Menschenrechtsdialoge mit der VR China und die Menschenrechte sind schlechter geworden, nicht besser. Irgendwann wird Dialog zu einem Motiv, in das wir alle gern einstimmen, weil es ein schönes Motiv ist. Aber es kann auch zu einer Art Nebel werden, hinter dem man einfach weitermacht wie zuvor. – Prof. Ralph Weber, SRF Sternstunden, 20. März 2023

Diese Dialog kann also durchaus als kontraproduktiv angesehen werden, wenn er dazu führt, den Kopf in den Sand zu stecken und Dinge schönzureden, statt zu handeln und Alternative zu finden, um seine Ziele zu erreichen. Während beispielsweise der Dialog zum Kohleausstieg geführt wird, werden in China am laufenden Band Kohlekraftwerke gebaut. 2022 wurden neue Kohlenkraftwerke mit einer Leistung von mindestens 90 Gigawatt bewilligt, im 1. Quartal 2023 kamen über 20 Gigawatt dazu.

Aber kann man mit Wang Wenbin sagen, es würden mit der deutschen Regierung «menschengemachte Risiken» geschaffen? Gerade bezüglich der angestrebten «Dialoge» besteht ein echtes menschengemachtes Risiko für alle Beteiligten.

Für die beteiligten Regierungsvertreter ist es zunächst einmal der Gesichtsverlust und der Verlust der politischen Glaubwürdigkeit. Der State Secretary Blinken riskiert als «Bend over Blinken» in die Geschichte einzugehen. Vom kurz darauffolgenden Besuch von Finanzministerin Janet Yellen wurde in den USA vor allem ihre vollkommen deplatzierte dreifache Verbeugung in den Medien breitgeschlagen. Das Kowtowing hat in China zwar eine lange Tradition, führt aber selten dazu, seine eigene Verhandlungsposition zu stärken. Aber die beiden werden wohl ihre Gründe gehabt haben, den Anschein zu erwecken, sie würden sich vor ihren chinesischen Gesprächspartnern niederwerfen um einen Diealog zu führen.

Aber wie steht es mit den Dialogpartnern auf chinesischer Seite? Wichtige Gesprächspartner von Blinken und Yellen sind plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Im Fall von Yellen schon zum zweiten Mal: Im Januar 2023 hat sie sich am Rande des WEF mit dem damaligen Vizepremier Liu He getroffen, der spätestens seit Oktober 2022 als Lame Duck galt und wenige Wochen später auf Nimmerwiedersehen aus der chinesischen Politik verschwand (zuhanden von Yellen wurde er kurz aus der Versenkung geholt und als «Elder» gepriesen, der immer noch Einfluss auf die chinesische Aussenpolitik nehme). Für den Besuch Yellens in Beijing wurde eigens der Notenbankgouverneur Yi Gang reinstalliert, der eigentlich auch schon beim Parteikongress 2022 abserviert wurde, Yellen wurde aber klargemacht, dass der neue starke Mann Pan Gongsheng ist, wie kurz vor dem Besuch Yellens Anfang Juli 2023 bekanntgegeben wurde. Noch schlimmer ging es State Secretary Blinken. Er traf zwar auch seinen chinesischen Amtskollegen Qin Gang, doch schon damals schien sein Vorgänger Wang Yi die Federführung übernommen zu haben. Wenige Tage später verschwand Qin Gang von der Bildfläche. Seit Wochen wird wild spekuliert, ob er tatsächlich krank ist oder ob sein Verschwinden mit seiner angeblichen Affähre mit der prominenten Fernsehreporterin Fu Xiaotian zu tun hat.

Es sieht ganz danach aus, als wären die Aktionen geplant gewesen, um die amerikanischen Besucher ins Leere laufen zu lassen. Nun, dass man Dialoge mit Personen führt, die politisch in Ungnade fallen und nichts mehr zu sagen haben, kommt vor. Mit diesem Risiko muss jeder Politiker leben können.

Wie aber steht es mit den menschengemachte Risiken für die Zivilgesellschaft? Der möglicherweise in Ungnade gefalllene Qin Gang soll darauf hingewiesen haben, wie wichtig es sei, den Austausch zwischen den Bürgern der USA und Chinas zu erleichtern. Vertrat er diesbezüglich die Meinung seiner Regierung? Wir wissen es nicht. Sicher ist: Die zivilgesellschaftlichen «Dialoge» und der zivilgesellschaftliche Austausch nehmen in der deutschen China-Strategie eine zentrale Position ein. Es wird dazu ausgeführt:

Zivilgesellschaftlicher Austausch ist das Fundament, das unsere Beziehungen zu China breit und tragfähig macht. Als wichtige Elemente gehören dazu ungehinderte Mobilität und offene Wissenschafts- und Bildungssysteme, um das Interesse aneinander und an einem unabhängigen Dialog jenseits der Regierungen zu erhalten.

Konkret erwähnt werden in der deutschen Chinastrategie etwa das Deutsch-chinesische Dialogforum als Plattform des zivilgesellschaftlichen Austausches, der bilaterale Mediendialog, die deutschen Auslandsgemeinden «der beiden grossen Konfessionen» (deren «Beitrag zum Dialog mit chinesischen Christinnen und Christen» gewürdigt wird) und schliesslich das (allerdings mit staatlicher Unterstützung funktionierende) Mercator Institute for China Studies (Merics).

Nun bin ich zwar nicht Deutsche, hätte aber immerhin – ganz rein theoretisch – die nötigen Fähigkeiten, mich an einem solchen zivilgesellschaftlichen Austausch zu beteiligen. Das Argument, dass der zivilgesellschaftliche Austausch das Fundament der Beziehungen zu China breit und tragfähig macht leuchtet ein, denn ein solcher Austausch dient in der Regel den Interessen und Zielen beider Seiten. Zweifellos auch wirtschaftlichen Interessen, aber auch persönlichen Interessen, etwa dem Wunsch, seinen Horizont zu erweitern. Mit Wehmut denke ich an die Zeit zurück, als man China tatsächlich einen unabhängigen Dialog jenseits der Regierungen führen konnte, an die Stunden im Gespräch mit meinen Professoren und Lehrern, Kommilitonen und Freunden, Messebesuchern der katholischen Untergrundkirche (von der deutschen Auslandsgemeinde habe ich dort allerdings nichts gemerkt) und unabhängigen Verlegern oder ganz einfach Leuten wie Du und ich, 老百姓. Es gab eine Zeit, da konnte man sogar über Tienanmen und Kulturrevolution, über Gott und die Welt, Zwangsabtreibungen und Heirat, über Wünsche und Hoffnungen. Über fast alles. Jenseits des finanziellen Werts haben diese Gespräche nicht nur meinen (chinesischen) Wortschatz erweitert, sondern auch den Schlüssel zu einem Wissenschatz gegeben, den man in keiner Bibliothek und keiner Universität findet. Diese Zeiten sind vorbei.

An der BLCU: Als man in China trotz der allgegenwärtigen Überwachung im Klassenzimmer (oben links) noch über Manches sprechen konnte. (Bild: privat)

Als gewöhnliches Mitglied der Zivilgesellschaft (welche nicht über eine geschützte Stelle beim Staat oder an einer staatlichen Institution verfügen) können solche Dialoge heute für alle Beteiligten existenzgefährdend sein. Ich will meine eigenen Erfahrungen mit der chinesischen Zensur und Überwachung nicht ausbreiten (auch den von der chinesischen Staatssicherheit auf mich angesetzten «Romeo» zähle ich zu meinen geschätzten Gesprächspartnern). Ein eindrücklicheres Beispiel dazu, welche Risiken jemand eingeht, der den Dialog nicht scheut, hat Christoph Rehage geliefert. Rehage (der ausgezeichnet Chinesisch spricht) befindet sich zu Fuss auf dem Heimweg aus China, wo er lange gelebt hat. Unterwegs (inzwischen war er in Budapest angekommen), hat er die Frechheit gehabt, über eine von einem chinesischen Konsulat veranstalteten Anlass zu berichten, ab dem ein weiterer prominenter deutscher China-Rückkehrer, Thomas Derksen, auf die Schippe genomen wurde. Kurz darauf flatterte ihm eine Klage mit Streitwert von € 20’000 ins Haus. Was dann passierte, hat Rehage kürzlich in deutscher Gründlichkeit erklärt:

Wenn man schon eine kostspielige Klage und eine Stummschaltung auf Youtube riskiert (was für einen ziemlich bekannten Youtuber einem Berufsverbot gleichkommt), wenn man sich in Europa über einen Landsmann lustig macht, der auf einer pro-chinesischen Veranstaltung auftritt, stellt sich die Frage: Über welche Themen mit China-Bezug kann man dann in Europa noch sprechen? Wer ist unter diesen Umständen noch bereit, gratis und franko das Fundament für die chinesisch-deutschen Beziehungen zu legen? Höchstens noch die China-Shills, welche via Einheitsfront vom chinesischen Staat finanziert werden.

Noch ärger sieht es auf der anderen Seite dieses von der deutschen Bundesregierung gewünschten Dialogs zwischen den Mitgliedern der Zivilbevölkerung der beiden Staaten aus. Diese Erfahrung mussten acht oder neun Ökonominnen machen, welche von Janet Yellen bei ihrem kürzlichen Besuch in Beijing zum Lunch geladen wurden. Bei allem Neid bezüglich des zweifellos exzellenten chinesischen Essens und der interessanten Gespräche – Yellen ist nicht nur eine einflussreiche Politikerin, sondern auch eine angesehene Akademikerin – war der Preis für die chinesischen Gäste zweifellos zu hoch. Sie wurden als Landesverräterinnen behandelt, was im Lichte des gerade erst am 1. Juli 2023 in Kraft getretenen Foreign Relations Law ein schwerer Vorwurf ist. Zwar weiss kein Mensch, was gemäss diesem Gesetz noch erlaubt bzw. verboten ist. Sicher ist nur, dass gemäss Art. 6 des Foreign Relations Law auch einfache «Bürger die Verantwortung und Verpflichtung haben, die nationale Souveränität, Sicherheit, Würde, Ehre und Interessen im diplomatischen Austausch und in der Zusammenarbeit zu wahren.»

Ein «Brown Bag Lunch» kann in China eine akademische Karriere zerstören: Acht chinesische Ökonominnen beim Lunch mit der amerikanischen Finanzministerin Janet Yellen.

Man wird wohl nie wissen, welche Folgen dieses Treffen für die jungen Frauen haben wird. Einige von ihnen waren offenbar prominent genug, ihre Photos von den in den Medien kursierenden Bildern verschwinden zu lassen.

Gespräche über Gott und die Welt zu führen, wie ich das früher in China tun konnte, ist heute undenkbar. Ich wüsste nicht, welche Themen unter dem aktuellen chinesischen Foreign Relations Law unverfänglich wären. Ich vermute, auch andere Freunde Chinas möchten ihre Gesprächspartner nicht in Gefahr bringen, wie dies Janet Yellen unbeabsichtigterweise getan hat. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kann die deutsche Regierung nicht davon ausgehen, dass Vertreter der Zivilgesellschaft an Stelle der Regierungsvertreter die Kohlen aus dem Feuer holen. Es fehlt also schon am «Fundament, das unsere Beziehungen zu China breit und tragfähig macht». Die China-Strategie ist auch in dieser Hinsicht auf Sand gebaut.

Auch eine weitere Säule der China-Strategie trägt nicht. Immer wieder ist von China-Kompetenz die Rede, ein Begriff, der auch in der Schweizer China-Strategie ein Dutzend Mal auftritt. Im Strategiepapier der deutschen Bundesregierung wird dazu aufgeführt (S. 61).

Durch die zunehmende Bedeutung Chinas wächst der Bedarf an Menschen mit China-Expertise. Dazu gehören u. a. Sprachkompetenz, interkulturelle Kompetenz und landeskundliche Fachkompetenz, Wissen um die Ziele des globalen Engagements Chinas und praktische Erfahrung in der bilateralen Zusammenarbeit im Kontext des chinesischen politischen Systems. Fundierte, aktuelle und unabhängige China-Kompetenz ist essentiell für das wechselseitige Verständnis und für die langfristig erfolgreiche Wahrnehmung und Durchsetzung deutscher Interessen.

Unstreitig dürfte sein, dass es relativ wenige Menschen gibt, welche im deutschsprachigen Raum dem Kriterienkatalog der deutschen Regierung genügen. In der Schweiz dürfte die Auswahl noch etwas geringer sein, so wird in der China-Strategie 2021-2024 des Schweizer Bundesrates ausgeführt:

Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass die China-Kompetenz in der Schweiz häufig noch unterentwickelt ist.

Vielleicht wäre an der Zeit zu fragen, woran es liegt, dass sich so wenig Menschen sich die Mühe machen, sich die angeblich so nachgefragte China-Kompetenz zu erwerben. Meines Erachtens hat es, jedenfalls in der Schweiz, viel mit fehlender Wertschätzung zu tun. In beruflicher und insbesondere in akademischer Hinsicht fällt man aus dem Bewertungsraster. Bestenfalls darf man hie und da eine Vorlesung oder einen Vortrag halten, eine wissenschaftliche Publikation «anschauen» oder «schnell» ein chinesisches Dokument übersetzen – natürlich immer ohne Entschädigung. Damit hat sichs auch schon. Vom angeblich wachsende Bedarf an Menschen mit China-Expertise habe ich in den letzten 14 Jahren wenig gespürt. Für mich und das halbe Dutzend deutschsprachigen Kommilitonen, denen ich während meiner dreijährigen Studienzeit in China und Taiwan begegnet bin, mag die Erweiterung der China-Kompetenz in persönlicher Hinsicht ein Gewinn gewesen sein, in wirtschaftlicher Hinsicht war es für die meisten von uns ein «Sunk Investment». Die meisten von uns sind über kurz oder lang in ihre Heimat zurückgekehrt und üben heute wie ich selbst auch eine Berufstätigkeit aus, in der ihre China-Kompetenz keine Rolle spielt.

Unser «Buchclub» bei der Graduation an der Tsinghua University 2009. Von der angeblichen Nachfrage nach China-Expertise haben wir seither noch nichts mitgekriegt (Bild: privat)

Und dann gibt es (auch in der Schweiz) noch die «Old China Hands», die Pioniere, die dreissig, vierzig oder gar fünfzig Jahre in China als Türöffner gewirkt haben. Wissen und Erfahrung kann man diesen Experten wohl kaum absprechen. Möglicherweise aber die Unabhängigkeit, die in der deutschen China-Strategie hervorgehoben wird. Wer es wagt, die chinesische Propaganda auch nur ein klein Bisschen zu hinterfragen, wird sanktioniert. Wer also von seiner hart erkämpften China-Expertise leben will, tut gut daran, sich bedeckt zu halten.

Eine chinabezogene Expertentätigkeit in der Privatwirtschaft dürfte heute in vielen Fällen illegal sein, nämlich dann, wenn irgendwelche Daten über Personen oder Firmen oder die chinesische Wirtschaft überprüft werden müssen, z.B. bei der Überprüfung eines Investors, der sein Geld in der Schweiz anlegen will, bei der Due Diligence bei der Übernahme einer Unternehmung, bei der Abschätzung von Marktchancen anhand demographischer. Spätestens seit dem Inkrafttreten des verschärften chinesischen Sicherheitsgesetzes am 1. Juli 2023 steht die Weitergabe von so ziemlich allen Informationen unter Strafe, die von irgendwelcher Relevanz sind. Unter anderem von Erkenntnissen, Dokumenten, Daten, Materialien und allem, was die nationale Sicherheit und die nationalen Interessen betrifft. Dass man es in China ernst meint, haben Razzien in den Firmen Capvision, Mintz Group und Bain & Co. gezeigt, welche sich auf Unternehmensberatung, insbesondere in M&A-Transaktionen spezialisiert haben. Finanzdienstleister ziehen ihr Personal aus China ab; Morgan Stanley hat beispielsweise 200 Mitarbeiter des «Tech Teams», einen Drittel der entsprechenden Belegschaft, ins Ausland verlagert; die in China verbleibenden Mitarbeiter sollen eine vom Rest der Welt abgekoppelte Lösung kreieren. Datenbanken wie sie etwa von Finanzdienstleistern und Universitäten benutzt wurden, wurden komplett ausgeschaltet. Kurz und gut: Kein seriöser Berater wird im Blindflug einen Persilschein für Transaktionen mit China abgeben und dabei riskieren, als Spion sanktioniert zu werden oder von seiner Klientschaft für irreführende Ratschläge haftbar gemacht zu werden.

Vom Anti-Sanktionengesetz über die Revision des Sicherheitsgesetzes bis zum Foreign Relations Law: Der Spielraum für China-Experten wird von Tag zu Tag kleiner.

Die Sanktionspalette ist ebenso breit wie undefiniert: von Visa-Verweigerung über die Verweigerung der Ausreise, Import- und Exportrestriktionen, Verbot der Zusammenarbeit mit chinesischen Unternehmen und Organisationen bis hin zur Beschlagnahme von Vermögenswerten. Die Sanktionen betreffen zwar hie und da auch Institutionen (wie das Mercator Institute for China Studies, Merics, der führende deutsche Think Tank zu China), vorwiegend aber Einzelpersonen. Dabei sind die offen Sanktionierten in der Minderheit. Viel häufiger ist das, was man in China als 封杀 (fengsha) bezeichnet, als «Versiegeln-Töten», das Mundtot-machen, indem die unerwünschten Personen vorab in den sozialen Medien (einschliesslich Youtube etc.) ausgelöscht werden. Am härtesten trifft es diejenigen, welche die vergangenen dreieinhalb Jahre in China ausgeharrt haben und am ehesten Zugang zu Insiderinformationen haben. Sie riskieren, alles was sie in China aufgebaut haben, zu verlieren und dabei noch nicht einmal in ihre Heimat flüchten zu können. Das auswärtige Amt warnt: In letzter Zeit nehmen Ausreisesperren gegen in China wohnhafte Ausländer zu. Auch deutsche Staatsangehörige waren in einigen Fällen betroffen. Ausreisesperren können insbesondere gegen Beteiligte oder Zeugen in Zivil- und Strafverfahren verhängt werden.

Und dann ist noch die Frage: Wenn sich ein solcher unabhängiger Experte findet, was erwartet man von diesem? Soll er einen Weg aufzeigen, wie man ein De-Risking ohne De-Coupling erreicht, also den Pelz zu waschen ohne ihn nass zu machen? Ist man bereit, auf diesen Experten zu hören, wenn er unbequeme Antworten bereithält? Ist jemand bereit, diesen Experten für die geballte Ladung an Wissen und Erfahrung sowie das Risiko, das er eingeht, zu entschädigen? Oder ist «unabhängig» Newspeak für «unentgeltlich»?

Eine China-Strategie, welche auf «Dialog», «Zivilgesellschaft» und «unabhängige Experten» setzt, ist nicht besonders krisenfest und beinhaltet gewisse menschengemachte Risiken für die Betroffenen. Bleibt zu hoffen, dass der prominenteste China-Experte, Henry Kissinger irrt, wenn er es für wahrscheinlich hält, dass der jetzige Kurs in den nächsten drei, vier Jahren zu einem militärischen Konflikt führt; vielleicht hat Kissinger mit seinem aktuellen Besuch in China ja als Privatperson Erfolg, wo die Regierungsvertreter einer nach dem anderen auf Granit gebissen haben. Diesfalls bliebe für Deutschland, und auch die Schweiz, noch ein wenig Zeit, die China-Strategie zu überdenken.


Dr. iur. Maja Blumer, Fürsprecherin, LL.M. (Tsinghua), hat in der Schweiz an der Universität Bern, in der Volksrepublik China an der Tsinghua University in Beijing und an der Beijing Language and Culture University (BLCU) sowie in Taiwan an der National Chengchi University in Taipei studiert. Seit 2012 ist sie als Rechtsanwältin mit eigener Kanzlei in Stäfa tätig

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