U.S. State Secretary Blinken’s Besuch in Beijing: Signal für einen Paradigmenwechsel in der Chinapolitik?

Kurz nach Präsident Xi Jinping’s siebzigstem Geburtstag trat U.S. State Secretary Blinken den Gang nach Canossa an, um auf höchster diplomatischer Ebene den Dialog wiederaufleben zu lassen, der seit dem letzten Besuch eines amerikanischen State Secretary in China vor fünf Jahren praktisch eingefrohren war. Auf den ersten Blick hat Blinken mit seinem Besuch nicht nur nichts erreicht, sondern er riskiert auch, als Bückling-Blinken in die Geschichte einzugehen. Möglicherweise signalisiert der Besuch aber auch einen Paradigmenwechsel in den aussenpolitischen Beziehungen zu China.

von Maja Blumer, 28. Juni 2023

Dass der Besuch von Secretary Blinken am 18. bis zum 19. Juni 2023 in Beijing irgendwelche konstruktive Ergebnisse zeigen würde, erwartete niemand, und so wurde es von einigen Beobachtern als positiv gewertet, dass sich der amerikanische Aussenminister aufmachte, um bei der chinesischen Regierung einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Zu verlieren gab es scheinbar nichts, nach dem frostigen Empfang von Secretary of State Mike Pompeo im Oktober 2018 in Beijing, bei dem dieser vom damaligen chinesischen Aussenminister Wang Yi in den Senkel gestellt wurde, schien undenkbar, dass die Stimmung noch weiter in den Keller fallen könnte, zumal der Wolf Warrior Wang Yi durch zu Beginn dieses Jahres durch den etwas gemässigteren Qin Gang ersetzt wurde, mit dem ein Dialog eher möglich schien.

Vergleicht man die Communiqués des chinesischen Aussenministeriums zu den Besuchen von Aussenminister Blinken und seinem Vorgänger Pompeo, macht es den Anschein, als seien die bilateralen Beziehungen zwischen China und den USA in einer Zeitschlaufe gefangen. Man muss mit der Lupe suchen, um Unterschiede zu finden.

Audienz bei Xi Jinping als Hoffnungszeichen? Fehlanzeige!

Von einigen Beobachtern wurde es als Hoffnungszeichen gewertet, dass Blinken in letzter Sekunde die Gunst einer Audienz beim scheinbar allmächtigen Herrscher Xi Jinping gewährt wurden, eine Ehre, die Mike Pompeo bei seinem letzten Besuch verweigert wurde. Dabei übersehen die Kommenatoren allerdings, dass der Empfang des jeweiligen amerikanischen State Secretary beim chinesischen Präsidenten in den letzten rund 50 Jahren die Regel war, mit der erst im Falle von Mike Pompeo gebrochen wurde.

Zwar ist es richtig, dass Aussenminister in der Regel nur von einem gleichrangigen Minister empfangen werden, und nicht vom Staatsoberhaupt. Tatsache ist aber auch, dass aus historischer Sicht dem Secretary of State eine besondere Stellung zukommt, was von chinesischer Seite in der Vergangenheit gebührend gewürdigt wurde. Zahlreiche Staatssekretäre wurden später Präsidenten, namentlich Thomas Jefferson, James Madison, James Monroe, James Buchanan, oder versuchten es jedenfalls (zuletzt Hillary Clinton, Mike Pompeo war für die nächsten Präsidentenwahlen im Gespräch, hat aber vorläufig verzichtet). Vor allem nimmt der State Secretary entscheidenden Einfluss auf die amerikanische Aussenpolitik. Präsident Truman schrieb dazu in seinen Memoiren:

“The Secretary of State makes the final recommendation of policy, and the President makes the final decision.” – President Harry S. Truman

Die chinesische Seite kann oder will diese Rollenteilung nicht länger akzeptieren. So versuchte die chinesische Propagandamaschinerie die Behauptung in die Welt zu setzen, Präsident Biden habe in Bali im November Versprechen abgegeben, die Beijing als “four no’s and one no-intention” (四不一无意 si bu yi wuyi)betitelt. Nach der Vorstellung von Xi Jinping und seinem Stab, angeführt von Wolf Warrior Wang Yi (dem ehemaligen Aussenminister) sollte der Besuch Blinkens lediglich dazu dienen, dass dieser folgsam den (nicht dokumentierten) Befehl Bidens umsetzt und den Weg für ein späteres Treffen zwischen Xi und Biden ebnet, damit sie weitere Umsetzung dieser angeblichen Versprechen diskutieren können. Secretary Blinken sollte mit anderen zum Lakai degradiert werden, der die Befehle Xi’s und Biden’s gehorsamst umsetzt.

Blinken als persona non grata

Bereits bevor Blinken einen Fuss auf chinesischen Boden setzte, stellte Xi Jinping bei einem Besuch von seinem «alten Freund» Bill Gates am 16. Juni 2023 klar, dass er seine Hoffnung auf das amerikanische Volk setze – sprich: nicht in die amerikanische Regierung. Auch die die diametral verschiedene Optik der beiden Treffen fällt auf. Xi und Gates trafen sich zu einem Gespräch auf Augenhöhe, während sich Xi Jinping wie ein Richter in grosser Distanz zu Blinken platzierte, als wolle er angesichts der zu seiner Linken und Rechten angeordneten Streitparteien urteilen, wobei er in seiner Ansprache den amerikanischen State Secretary persönlich unverholen kritisierte, indem er zum Ausdruck brachte, er erwarte von ihm (noch) mehr Anstrengungen.

Und wenn Blinken gehofft hatte, wenigstens Wang Yi ausweichen zu können, hatte er sich geirrt. Der alte Wolf Warrior stellte Blinken ebenso in den Senkel, wie er dies mit Mike Pompeo fünf Jahre zuvor getan hat. Was immer Blinken entgegnet hat, ist auf der chinesischen Seite jedenfalls nicht angekommen, seine Haltung war der chinesischen Seite gerade einmal zwei Zeilen wert.

Zugleich liess man Blinken mit weiteren kleinen Abweichungen vom diplomatischen Protokoll wissen, dass er eigentlich nicht willkommen ist. Am Flughafen wurde Biden von irgendeinem untergeordneten Beamten und dem amerikanischen Botschafter Nick Burns in Empfang genommen, wobei Blinken nach einem kurzen Händeschütteln mit dem zweiköpfigen «Empfangskomitee» im Stechschritt davoneilte, wohl um der brütenden Sommerhitze zu entfliehen. Bei früheren Besuchen des State Secretary wurde seinem Rang entsprechend der rote Teppich ausgerollt und der mindestens der Aussenminister nahm den Gast auf dem Flugfeld in der Regel persönlich in Empfang.

Vielleicht versuchte der chinesische Aussenminister Qin Gang, die Gaffe zu korrigieren, indem er Blinken vor dem Gasthaus der chinesischen Regierung abfing, statt den diplomatischen Gepflogenheiten entsprechend drinnen auf den Gast zu warten. Resultat war, dass Blinken (der die Kunst glanzvoller Auftritte durchaus beherrscht) zusammen mit Qing Gang und einem Kuddelmuddel von Photographen und Sicherheitsleuten in die Empfangshalle trat. Der sonst übliche Respektsabstand wurde Blinken verwehrt.

Blanke Nerven bei Blinken? Oder blosse Desillusion?

Blinken wahrte als geschliffener Diplomat die Contenance, so gut es eben ging. Seine Körpersprache sprach allerdings Bände, er sah aus, als hätte einen Schlag in die Magengrube erhalten, als sei er angewidert oder müsse sich gleich übergeben. Politische Gegner versahen ihn prompt mit einem neuen Titel: Bend over Blinken (Bückling-Blinken).

Falls sich China Hoffnungen gemacht hat, in Blinken einen Fürsprecher für seine Anliegen zu gewinnen und ihn gegen seinen republikanischen Vorgänger Mike Pompeo auszuspielen, den sich China erfolgreich zum Feind gemacht hat, haben sich diese Hoffnungen wohl in Luft aufgelöst. Blinken wird sich nach dem Erlebten zweimal überlegen, ob er gegenüber China noch einmal eine Geste guten Willens machen will und so als Bückling-Blinken in die Geschichte eingehen will.

Wie blank die Nerven Blinkens liegen, kam in seinem Interview beim Fernsehprogramm Face the Nation zum Ausdruck, in dem er am 25. Juni 2023 zu seiner Haltung zur Aussage von Präsident Biden befragt wurde, der Xi Jinping offen als Diktator bezeichnet hatte, dem wirtschaftlich das Wasser am Hals steht und der sein Militär mit seinen Spionageballonen nicht unter Kontrolle hat. Der Präsident scheint Blinken offensichtlich aus dem Herzen gesprochen, auch wenn er das niemals so direkt zum Ausdruck gebracht hätte.

QUESTION:  I want to ask you about Beijing.  I was there with you earlier this week and I listened to you pick every single one of your words very carefully.  And then on our way home, President Biden called Xi Jinping a dictator with economic problems who didn’t know what his own military was doing by flying the spy balloon over the United States.  How much did that hurt the work you did?

SECRETARY BLINKEN:  Margaret, one of the things that I think you heard me say during the trip and after the trip is that the main purpose was to bring some greater stability to the relationship.  But one of the things that I said to Chinese counterparts during this trip was that we are going to continue to do things and say things that you don’t like, just as you’re no doubt going to continue to do and say things that we don’t like.  And if you look at what comes out of the Chinese foreign ministry on a daily basis, you’ll hear that.

QUESTION:  Are you saying that was a strategic remark?

SECRETARY BLINKEN:  The President always speaks candidly, he speaks directly, he speaks clearly, and he speaks for all of us.

Es macht nicht den Eindruck, als ob Blinken noch daran gelegen wäre, China goldene Brücken zu bauen, auch wenn ihm früher der Wille und die die Fähigkeit dazu nachgesagt wurde. “Man kann nicht eine grimmig verschlossene Burg haben wollen und sich wirtschaftlich entwickeln” sagte Blinken’s Stiefvater Samuel Pisar einst. Blinken mag mit diesem Glauben seine Reise nach China angetreten haben. Doch dieser Glaube, wirtschaftliche Entwicklung gehe mit politischer Öffnung einher, könnte sich beim Besuch in Beijing zerschlagen haben, so wie sich diese Hoffnung bei vielen zerschlagen hat, die auf Dialog und wirtschaftliche Zusammenarbeit setzten.

“You cannot have a closed grim fortress and develop economically” – Samuel Pisar, Stiefvater von State Secretary Blinken

Haben Nixon und Kissinger einen Frankenstein kreiert?

Blinken ist bei weitem nicht der Einzige, der (möglicherweise) desillusioniert ist. Selbst Präsident Nixon, der zusammen mit State Secretary Kissinger die Annhäherung an die maoistische Regierung eingeleitet hat, war sich spätestens in seinen letzten Jahren seiner Sache nicht mehr sicher. Sein Vertrauter und Redenschreiber William Safire soll Nixon kurz vor dessen Tod 1994 gefragt haben, ob er nicht ein bisschen übertrieben habe, als er dem amerikanischen Volk die Vorzüge des Deals mit China angepriesen habe. Nixon soll geantwortet haben, er mache sich diesbezüglich nicht mehr so viele Hoffnungen wie einstmals, und er soll angefügt haben: «Möglicherweise haben wir einen Frankenstein kreiert.»

“We may have created a Frankenstein.” – Präsident Nixon zu seiner Politik der Annäherung zur Volksrepublik China

Safire selbst hatte seine Zweifel, wie er in einer Kolumne in der New York Times im Jahr 2000 schrieb:

“I confess to writing speeches for Richard Nixon assuring conservatives that trade with China would lead to the evolution of democratic principles in Beijing. But we’ve been trading for 30 years now, financing its military-industrial base, enabling it to buy M-11 missiles from the Russians and advanced computer technology from us. Has our strengthening of their regime brought political freedom? Ask the Falun Gong, jailed by the thousands for daring to organize; as the Tibetans, their ancient culture destroyed and nation colonized; ask the Taiwanese, who face an escalation of the military threat against them after the U.S. Congress spikes its cannon of economic retaliation.” – William Safire, Essay; The Biggest Vote, New York Times, 18. Mai 2000

23 Jahre später stellen sich immer mehr Leute im amerikanischen Volk – auf das Xi Jinping setzt – dieselben Fragen. Und dazu noch: Wer unter den amerikanischen Politikern ist überhaupt noch willens, geschweige denn fähig, den Dialog mit der chinesischen Gegenseite wiederanzuknüpfen?

Henry Kissinger, der kürzlich seinen hundertsten Geburtstag feierte, ist bezüglich des Erfolgs der von ihm vor 50 Jahren initiierten Politik ebenfalls skeptisch. Er sieht einen militärischen Konflikt zwischen China und Taiwan als «wahrscheinlich» an.

QUESTION: What chances do you see of an invasion of Taiwan sometime in the next three, four years, on the current trajectory of relations?

HENRY KISSINGER: On the current trajectory of relations, I think some military conflict is probabable. But I also think the current trajectory of relations must be altered.

Das Ende des Dialogs

Mit ziemlicher Sicherheit dürfte ein Dialog, der diesen Namen verdient, unter den gegebenen Umständen in immer weitere Ferne rücken. Daran ändert auch nichts, dass man sich gegenseitig versprochen hat, über die Steigerung des Flugverkehrs zwischen den USA und China zu diskutieren (der Ende Mai 2023 gerade einmal 6% des Niveaus von 2019 ausmachte), und auch nicht, dass der Botschafterposten in der chinesischen Botschaft in Washington nach einer sechsmonatigen Pause wieder besetzt wurde.

Kategorisch abgelehnt wurde von chinesischer Seite insbesondere die Wiederherstellung der militärischen Kommunikationskanäle. Dies birgt das nicht kalkulierbare Risiko, dass es irgendeinmal «knallt». Dass es immer wieder zu gefährlichen Annäherungen der chinesischen Luftwaffe und Marine an diejenigen der USA und anderer Länder kommt, ist nichts neues. Aber es ist keineswegs sicher, dass solche Manöver immer einen relativ (!) glimpflichen Ausgang nehmen wie der Zusammenstoss eines chinesischen Kampffliegers und eines amerikanischen Aufklärers über dem südchinesischen Meer im April 2001.

Dass sich riskante Manöver der chinesischen Luftwaffe und Marine in letzter Zeit besonders häufen, ist offensichtlich. Kurz nach dem Besuch von Blinken spielte die chinesische Luftwaffe mit dem Feuer und sandte am Samstag, 24. Juni 2023 Kampfjets bis an die 24-Meilen-Grenze (44 Kilometer von der Küste) der taiwanesischen Hauptinsel, so nahe wie zuletzt im April 2023. Die bisherige Demarkationslinie zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, die Median Line, ist bereits ausgelöscht. Neu wird nun also die 44-Kilometerlinie bzw. die Linie bei 24 Seemeilen von der Küstenlinie in Frage gestellt. Dies ist rechtlich bedeutsam: In der Zone von 24 Meilen von der Küste, in der sogenannten Anschlusszone, dürfen Küstenstaaten aufgrund des internationalen Seerechts (welches sinngemäss auch für Luftfahrzeuge gilt) bereits besondere Befugnisse wahrnehmen. Noch wurde diese Linie nicht überschritten, aber wie lange hält sie noch?

Ab 12 Seemeilen von der Küste an gerechnet, im Küstenmeer, wird es besonders kritisch: Es liegt bei einem nicht-friedlichen Überflug eine Hoheitsverletzung des entsprechenden Küstenstaates vor, bei dem verschiedene Reaktionsmöglichkeiten bestehen: Auf unterster Eskalationsstufe eine diplomatische Reaktion oder das Wegeskortieren des fremden Flugzeugs, bei fehlenden Abwehrkräften das Einbunkern oder die Evakuation, oder aber das Abschiessen der fremden Flugzeuge, bevor sie das Festland erreicht haben und dort ihre Mission (Abwurf von Bomben) ausführen können.

Bei einem Kampfjet des Typs Chengdu J-10, der mit 2,327 km/h unterwegs ist bleiben 57 Sekunden, um diese Entscheidung zu treffen, nachdem die 24-Meilenlinie überschritten wird, bis die 12-Meilenlinie erreicht ist. Eine Regierung wie diejenige Taiwans, die nicht riskieren will, dass ein Bombenregen auf ihre Insel niedergeht und die über keine verlässlichen diplomatischen Kanäle und keine offizielle Einbindung in die internationale Gemeinschaft verfügt, hat nicht allzu viele Optionen. Das Einbunkern funktioniert auf einer Insel nur solange, als die Versorgung sichergestellt ist. Die Evakuation ist ein logistischer Albtraum, auch wenn in den USA (ca. 80’000 US-Bürger leben in Taiwan) und in Japan (ca. 100’000 Personen) angeblich entsprechende Pläne geschmiedet werden. Taiwan, das bis auf die Zähne bewaffet ist, hat eigentlich nur eine naheliegende Wahl: auf das eigene Waffenarsenal setzen und hoffen, dass die Luftabwehrraketen treffen.

Die Situation im «Kalten Krieg 2.0» ist insgesamt deutlich komplizierter als im kalten Krieg, als die geopolitischen Fronten klarer, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ost und West weitgehend gekappt und der (militärische) Technologietransfer stärker unter Kontrolle war. Der amerikanische Botschafter in Beijing, Nick Burns dazu:

QUESTION: Do you feel like its the Cold War 2.0 and you’re right in the middle of it?

NICK BURNS: I think it is more complicated, we’re dealing with a China that is not only a substantial military power, but it’s the second strongest economy in the world, highly innovated, very strong on science and technology, and research and development.

QUESTION: This is a harder problem set?

NICK BURNS: I think it is a harder and more complicated problem, ultimately, than during the old Cold War, and China has an enormous influence globally. We stand up for human freedom, religious freedom, freedom of speech, freedom of the press, and obviously that is a big discussion and an argument, that we have ongoing with the Chinese.

Der fehlende Dialog zwischen den USA und China und die immer näher an die taiwanesische Küste vordringenden chinesischen Kampfflieger sind vielleicht noch nicht einmal das grösste Problem. Beim Seitenhieb von Präsident Biden auf Xi Jinping warf dieser eine berechtigte Frage auf: Hat Xi Jinping die Mitglieder seiner Regierung und seine Militärs überhaupt noch im Griff? Oder ist in China in wirtschaftlicher und aussenpolitischer Hinsicht bereits derart ausser Kontrolle geraten, dass Xi Jinping nichts anderes übrig bleibt, als seine Hoffnungen auf Bill Gates und das amerikanische Volk zu setzen, die ihm irgendwie aus der Patsche helfen sollen?

Die geopolitischen Risiken in und um China werden zunehmend unkalkulierbar. Sie betreffen nicht nur China und die USA, nicht nur Politiker und internationale Unternehmen, sondern alle. Diese Botschaft ist inzwischen sogar in den Schweizer Medien angekommen, die Südostschweiz resümierte zum Treffen zwischen Xi und und Blinken:

«Im Klartext bedeutet dies: Jede Investition in den chinesischen Markt steht unter dem Damoklesschwert immenser geopolitischer Risiken.» – Fabian Kretschmer, Blinken trifft Xi persönlich, Südostschweiz vom 20. Juni 2023

Diese Risiken betreffen natürlich nicht nur direkte Investitionen in den chinesischen Markt, sondern Viele, wenn nicht sogar Alle: Den Hersteller von Präzisionsinstrumenten, der seine Rohstoffe aus Pakistan und der Volksrepublik China bezieht wie den Maschinenbauer, der auf Microchips aus Taiwan baut, die Supermarktkassierin bei der Ware «Made in China» übers Band rollt ebenso sehr wie den Lohnbezüger, dessen Altersvorsorge auf verschlungenen Wegen in China «angelegt» wird, ohne dass er das auch nur merkt.

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst

Mit Paul Watzlawick könnte man aber auch sagen: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Hoffnungslos in dem Sinne, als diplomatische Bemühungen als gescheitert berachtet werden müssen. Nicht ernst in dem Sinne, als es andere Wege gibt, die von der Volksrepublik China ausgehenden Risiken im Griff zu behalten.

Erstens ist zu bedenken, dass Präsident Truman vor exakt 73 Jahren eine «Linie» gezogen hat, welche vom Norden Japans bis hinunter zur südlichsten philippinischen Insel reicht. Diese Linie, verkörpert durch die First Island Chain, hat bislang allen Versuchen der Volksrepublik China, diese Linie auszulöschen, widerstanden.

Vor 73 Jahren, am 24. Juni 1950 griffen die Nordkoreaner die südliche Halbinsel an. Hinter dem Angriff vermutete man die Sowjets, später zeigte sich, dass Mao Zedong die treibende Kraft gewesen sein dürfte. Bereits am 25. Juni 1950 trafen Präsident Truman und sein Stab nicht nur die Entscheidung, dem Angriff der Nordkoreanern auf die südliche Hälfte der koreanischen Halbinsel entgegenzutreten (der Entscheid mündete am 27. Juni 1950 in die Resolution 83 des UN-Sicherheitsrates). Gleichzeitig wurde auch der Beschluss gefasst, ein Wiederaufflammen des Krieges zwischen den Truppen von Mao Zedong und Tschiang Kai-shek zu verhindern. General Omar Bradley sagte anlässlich der von Präsident Truman nach dem Angriff auf Südkorea einberufenen Sitzung am 25. Juni 1950, die USA müsse gegenüber den Kommunisten eine Grenzlinie zu ziehen (“draw the line”). Bereits am 25. und 26. Juni 1950 wurde die Siebte Flotte der U.S. Navy in die Taiwanstrasse entsandt, und dort patrouilliert sie zum grossen Verdruss der chinesischen Regierung bis heute, und zwar unabhängig davon, wer im Weissen Haus gerade das Sagen hat.

Für die USA und ihre Verbündeten besteht heute weniger denn je Anlass, diese Linie, die sich vom Norden Japans bis in den Süden der Philippinen erstreckt und unter derm Begriff First Island Chain zusammengefasst wird, preiszugeben.

Zu relativieren ist zweitens das insbesondere von Wolf Warrior Wang Yi postulierte Paradigma, die USA müssten zwischen Dialog und Konfrontation, Kooperation und Konflikt zu wählen:

A choice needs to be made between dialogue and confrontation, and cooperation and conflict. – Wang Yi, Pressecommuniqué des chinesischen Aussenministeriums vom 19. Juni 2023

Wang Yi verkennt dabei, dass China zwar politisch und wirtschaftlich ein Schwergewicht sein mag, es aber stets Alternativen zu einem aufgezwungenen Dialog in alten Formaten und zu einer Kooperation unter dem Damoklesschwert einer Kriegsdrohung gibt. Wer sich einredet, es gebe keine Alternativen zu chinesischen Produkten, muss sich vorwerfen lassen, er sei zu faul, sich nach solchen Alternativen umzusehen. Wer Dialoge führt, die sich jahrzehntelang nur im Kreis drehen, muss sich vorwerfen lassen, entweder bei der Auswahl seiner Gesprächspartner nicht genügend Sorgfalt an den Tag zu legen oder aber seinem Gesprächspartner nicht zuzuhören.

Wo eine Türe zuschlängt, tut sich eine andere auf. Während sich Secretary Blinken in Beijing abmühte, rollte man in Washington den roten Teppich für den indischen Premierminister Narendra Modi aus. Beim glamourösen State Dinner mit vierhundert Gästen war am 22. Juni 2023 auch ein strahlender Antony Blinken mit seiner Gemahlin Evan Ryan zugegen. Präsident Biden rief beim Galadinner in Erinnerung, dass er bereits vor 20 Jahren als Vorsitzender des Senate Foreign Relations Committee die Welt sicherer wäre, wenn die USA und Indien sich zu den engsten Freunden und Partnern in der Welt entwickeln würden. Ein erster Schritt in diese Richtung scheint mit dem erfolgreichen Staatsbesuch von Modi in den USA getan.

Ist die Alternative ist das Nichtstun im Sinne des taoistischen Wu Wei (無為), weder den Dialog zu erzwingen noch den Konfrontation zu suchen, weder zu kooperieren noch zu streiten?

Nichtstun ist keineswegs so wirkungslos wie es klingt. Die ersten dreissig Jahre der Existenz der Volksrepublik China, bei der das Land in die politische und wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit versank, haben das Land beinahe stranguliert, aber immerhin hat die Erfahrung die Regierung zur Einsicht gebracht, dass es so nicht weitergeht. Dass die chinesische Regierung mit einem Rückfall in eine chinesische Variante des Juche-Kommunismus liebäugelt, ist zwar nicht gänzlich auszuschliessen. Aber ebeonsowenig ist auszuschliessen, dass sich China von innen heraus wandelt. Schliesslich gibt es auch im chinesischen Volk mutmasslich eine nicht geringe Anzahl von klugen und mutigen Menschen, die fähig und bereit sind, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Nichtstun in Bezug auf China eröffnet für den Westen auch die Möglichkeit, anderes zu tun: Handelsbeziehungen und Austausch zu anderen Nationen zu pflegen und anzuknüpfen, brachliegende Ressourcen im eigenen Land wiederzubeleben, sich über den Wert der verfassungsmässigen Rechte im eigenen Land klar zu werden. Nichtstun bietet eine Gelegenheit, alte Glaubenssätze wie «Wandel durch Handel» oder «an China führt kein Weg vorbei» einem Realitätscheck zu unterziehen und Fehler nicht zu wiederholen, wie die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock nach ihrem China-Besuch, den sie als «mehr als schockierend» bezeichnete, gefordert hat.

Nichtstun kommt einen Paradigmenwechsel gegenüber den Annäherungsversuchen an China in den letzten fünfzig Jahren gleich. Annäherungsversuche, bei denen die chinesische Seite von Anfang an klargemacht hat, dass in politischer Hinsicht alles beim Alten bleiben würde. Annäherungsversuche, die bezüglich der geopolitischen Brennpunkte Korea und Taiwan keine Deeskalation bewirkt haben.

Ein Paradigmenwechsel ist überfällig, und im Grunde genommen ist er schon im Gange: Die «Old China Hands» verlassen die Volksrepublik China in Scharen, das «Derisking», «Decoupling», «Nearshoring» und «Friendshoring» ist eine Realität, ob es nun gewollt ist oder nicht, Parlamentarier mischen sich in die Aussenpolitik ein, Konsumenten fragen sich, ob wirklich alles «Made in China» sein muss, etc.

So gesehen hat Secretary Blinken mit seiner verunglückten Chinareise vielleicht mehr erreicht, als es auf den ersten Blick den Eindruck macht: Er hat vor Augen geführt, dass der seit den Siebzigerjahren von Nixon und Kissinger eingeschlagene Kurs nicht zielführend ist und entsprechend ein Paradigmenwechsel in der amerikanischen China-Politik überfällig ist.

Ob diese Botschaft auch in der Schweizer Regierung ankommt, die eisern an ihrer seit 1950 verfolgten China-Politik festhält?


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua) hat in der Schweiz, in China und in Taiwan studiert. Sie ist als Rechtsanwältin in der Schweiz tätig.