Schweizer Expats verlassen China: Panik oder Vorsicht?

«If you’re first out of the door, that’s not called panicking.» Die Zahl der im Ausland lebenden Schweizer hat 2022 einen Rekordstand erreicht. 800’000 oder rund 11% der Schweizer Bürger waren 2022 im Ausland gemeldet. Fast in allen Ländern nahm die Zahl der Auslandschweizer in den letzten Jahren massiv zu. Mit einer grossen Ausnahme: in China scheint Panik ausgebrochen zu sein und stimmen die Schweizer mit den Füssen ab. In Festlandchina sank die Zahl der Schweizer Expats innerhalb von 10 Jahren um mehr als die Hälfte. Ist es auf Covid-bedingte Vorsicht zurückzuführen, dass die Schweizer China in Scharen verlassen, oder gibt es Grund zur Panik?

von Maja Blumer, 13. April 2023

Wie alle Menschen unterliege ich dem, was man in der Kognitionspsychologie als «Confirmation Bias» oder «Bestätigungsfehler» bezeichnet: ich blende gerne Dinge aus, die ich nicht hören oder sehen will und konzentriere mich auf Informationen, die in mein Weltbild passen. Wenn man längere Zeit im Ausland leben will, ist das eine sehr nützliche Fähigkeit. Sie erlaubt, die positiven Aspekte des Gastlandes zu schätzen und die negativen Aspekte (die man sowieso nicht ändern kann) auszublenden.

Der Confirmation Bias kann aber auch gefährlich oder jedenfalls teuer werden. Dann nämlich, wenn er dazu führt, dass man übersieht, wenn Dinge aus dem Ruder laufen. Beispiele gibt es von Argentinien (einst das reichste Land Südamerikas) bis Zimbabwe (einst der Brotkorb Afrikas) zuhauf. Expats tun sich in solchen Ländern oft schwerer als die Einheimischen damit, zu akzeptieren, dass die guten alten Zeiten nicht mehr zurückkommen und ziehen zu spät die Reissleine. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass die Investitionen, die nötig sind, um sich im Gastland zu integrieren, sehr viel höher sein können als für jemanden, der von Geburt an «dazugehört». Und damit meine ich nicht nur finanzielle Investitionen, sondern auch die Anstrengung, die es kostet, eine fremde Sprache zu lernen, neue Freunde bzw. eine neue Familie zu gewinnen, Recht und Sitten zu akzeptieren etc.

Ich habe dies am eigenen Leib erlebt. Mein Abenteuer «China» begann im Sommer 2005, als ich aus einer Laune heraus einen Intensiv-Sprachkurs an der Uni Bern besuchte. Ich blieb hängen, es folgte 2006 eine erste zehntägige Studienreise nach China und Hong Kong, 2008 und 2009 dann mein LL.M.-Studium an der Tsinghua University in Beijing – nach meinem Dafürhalten jedenfalls damals eine der besten Universitäten der Welt in einer der dynamischsten Städten der Welt. Die Möglichkeiten schienen grenzenlos, alles schien besser und schöner zu werden, einschliesslich dem chinesischen Rechtssystem.

Alles schien altvertraut, als ich 2013 endlich für ein weiteres Studienjahr nach Beijing zurückkehrte. Die Luftverschmutzung war eine Spur schlimmer als vier Jahre zuvor. Die Überwachung und Zensur war etwas spürbarer, oder jedenfalls mein dritter «Romeo» (ein Begriff aus dem Kalten Krieg, der sich auf Frauen angesetzte Spitzel bezieht) etwas ungeschickter als seine Vorgänger. Aber ganz ehrlich gesagt wäre ich wohl länger in Beijing geblieben, wenn ich nicht plötzlich Taipei verlockender gefunden hätte, um dort mein Studium fortzusetzen. 2015 kehrte ich schweren Herzens in die Schweiz zurück.

Ich hatte also Glück und habe die Volksrepublik China 2014 verlassen, bevor es in eine Abwärtsspirale geriet, die momentan von einem kalten zu einem heissen Krieg auszuarten droht. Auch wenn es bedeutet, dass mein hart erarbeiteter Masterabschluss im chinesischen Recht trotz des schönen offiziellen Regierungsstempels nichts wert ist. Und meine Chinesischkenntnisse, die ich in zwei Jahren Vollzeitstudium erworben habe, auch ziemlich nutzlos sind.

Dass es ungemütlich wurde, davon können die meisten China-Rückkehrer berichten, auch wenn sich der Zeitpunkt schwer festnageln lässt, wann die Abwärtsspirale zu drehen begann. 2013 mit der Wahl Xi Jinpings? 2008 als mit der Olympiade die Baueuphorie so richtig Schwung holte, einer Fehlallokation von Ressourcen sondergleichen? Anfangs der 2000er, als man glaubte, mit der Aufnahme Chinas (und Taiwans) in die WTO seien alle Probleme erledigt? 1989 als man die hellsten Köpfe mit Panzern in die innere oder äussere Emigration schlug? Oder war die Idee von «Wandel durch Handel» seit jeher eine Chimäre?

Für letzteres spricht, dass der grosse Deng Xiaoping von Anfang an gesagt hatte, am politischen System ändere sich nichts, es gehe nur um ein Tauschgeschäft. Deng Xiaoping brachte es bei einem Treffen mit Bundesrat Honegger 1979 auf den Punkt:

Sie haben die Technik. Wir haben die Arbeitskräfte.

Und weiter:

Die Kontinuität unserer Politik steht nicht in Frage. Man sagt, China werde von alten Männern regiert, somit würden bald Veränderungen eintreten. Ich kann Ihnen garantieren: es wird sich nichts ändern. […] Während etlichen Jahren herrschten in China politische Unruhen. Das schadete dem wirtschaftlichen Aufbau.

Man kann Xi Jinping vieles vorwerfen, aber nicht, dass er sich nicht an das Drehbuch gehalten hätte. China liefert immer noch Arbeitskräfte. China ist immer noch von Technikimporten aus dem Ausland abhängig. Und jeder Dissens und erst recht politische Unruhen werden von ihm wie von seinen Vorgängern erfolgreich unterdrückt.

Lediglich der Grad und die Komplexität der Globalisierung wurde von Deng Xiaoping möglicherweise unterschätzt. Das Handelsvolumen zwischen Taiwan und den USA betrug 1979 zwischen 7 und 8 Milliarden. Deng Xiaoping erhoffte sich das zwei bis dreifache zu erreichen, nach dem Motto: «Was Taiwan liefert werden wir auch wir liefern können. Die mit der Qualität, mit den Normen etc. zusammenhängenden Fragen lassen sich lösen.» Im letzten Jahr betrug das Handelsvolumen zwischen Taiwan und den USA um die USD 136 Mia., dasjenige zwischen China und den USA um die USD 537 Mia., was fast dem Vierfachen entspricht. Planziel erreicht (mindestens quantitativ).

Die Öffnungspolitik Deng Xiaopings brachte allmählich auch die Schweizer wieder ins Land. Hatten in den Siebzigerjahren gerade mal ein halbes Dutzend Auslandschweizer gewagt, ihre Zelte in China aufzuschlagen, wagten immer mehr Schweizer den Sprung von Hong Kong über die Grenze. 2005 wurde in Festlandchina die Grenze von 1’000 Personen geknackt.

Viele, die auf einen Wandel gehofft hatten, wenden China inzwischen desillusioniert den Rücken zu. Laut Statistik erreichte die Zahl der Schweizerbürger in der Volksrepublik China inklusive Hong Kong und Macau 2013 ihren Höhepunkt. 4113 Schweizer lebten damals dauerhaft in der Volksrepublik China, davon 2064 in Hong Kong und Macau und 2049 in Festlandchina. Die Abnahme seither ist dramatisch. Die Zahl der Schweizer in Festlandchina sank auf 998 (-51,3%), in Hong Kong und Macau auf 1634 (-20,8%).

Eine ähnliche Entwicklung hat man zuletzt zwischen 1937 und 1949 gesehen, als sich die Schweizerkolonie in Festlandchina von ca. 520 Personen auf 270 fast halbierte, bevor die Zahl der Auslandschweizer in China nach der Machtübernahme durch die Kommunisten endgültig in den freien Fall überging.

Die Ausrede «Covid» zieht als Erklärung für den Exodus der Schweizer Expats nicht. Andere Länder in der Region verzeichneten trotz Restriktionen neue Rekorde und auch weltweit nahm die Zahl der Auslandschweizer zu – 2022 wurde die Marke von 800’000 geknackt. Thailand nagte 2022 mit 9’955 dort niedergelassenen Schweizerbürgern an der 10’000-er Grenze, die Philippinen als zweitgrösste Destination in der Region Ost- und Südostasien war 2022 das Zuhause für 3’523 Schweizer und der Stadtstaat Singapore auf Platz 3 vermeldete 2’613 Schweizer. Mit Ausnahme von Nordkorea, wo die Zahl der Schweizer Expats gegenüber 2013 um 8 Personen auf Null sank, war nirgendwo in der Region ein derartiger Exodus zu sehen, wie in China.

Nun gab es in den letzten zehn Jahren sicherlich mindestens 1’051 individuelle Gründe, China zu verlassen, und 998 individuelle Gründe, in China auszuharren. Der Schweizer Exodus deutet aber auf etwas hin, was auch andere Statistiken bestätigen: China verliert international rapide an Ansehen. Während sich in den USA diejenigen, die China in einem positiven Licht sahen, sich mit denjenigen die China mit negativen Image verbanden, über lange Jahre etwa die Wage hielten, kippte die Situation im Verlaufe der letzten zehn Jahre. Inzwischen sehen gerade noch 14% der Amerikaner China in einem positiven Licht. Und wer glaubt, in der Schweiz sei es anders, irrt: In einer weltweiten Umfrage sagten nur in Südkorea mehr Befragte, sie sähen China sehr negativ oder negativ, als in der Schweiz (81% vs. 72%).

Dieser Verlust von «Soft Power» Chinas wird über kurz oder lang Einfluss auf die Schweizer Wirtschaft haben. Wer will schon den Kopf hinhalten, um die Schweizer Interessen in China erfolgreich zu vertreten oder gar (wie Präsident Macron) als Fürsprecher für China aufzutreten, nur um dann in seiner Heimat als Sündenbock zu dienen, wenn die Dinge nicht so gut laufen, wie erhofft. Und nicht nur das. Sie könnten das Gleiche erleben, wie ihre Vorgänger in den Vierzigerjahren. Diejenigen, die damals in China ausharrten, in der Hoffnung, es würden unter Mao bessere Zeiten anbrechen, und die rasche diplomatische Anerkennung der maoistischen Regierung durch den Bundesrat würde ihnen einen Vorteil verschaffen, wurden schwer enttäuscht. Vor dem zweiten Weltkrieg wurde die Zahl der Schweizer in Shanghai im Jahr 1936 mit 218 Personen beziffert. Die Zahl der Schweizer, die in Shanghai ausharrten, reduzierte sich von 148 bei der «Befreiung» durch die Kommunisten im Mai 1949 auf 115 im Mai 1950. Dass es noch so viele waren, lag vor allem daran, dass diejenigen, welche ausreisen wollten, sehr viel Lösegeld bezahlen mussten.

Alle 998 Schweizer Expats, die heute in China ausharren, werden sich die Frage stellen müssen: Verlassen meine Landsleute China aus purer Panik, oder wäre es klüger, es ihrem Beispiel zu folgen und den geordneten Rückzug anzutreten, bevor wirklich Panik ausbricht und es schwierig wird, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Sam Rogers: You are panicking. John Tuld: If you’re first out the door, that’s not called panicking. – Margin Call, 2011


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua), hat in der Schweiz (1995-2000), in der Volksrepublik China (2008-2009 und 2013-2014) und in Taiwan (2014-2015) studiert. Sie ist als Rechtsanwältin tätig.

Glücklich ist, wer Beijing und seine berühmteste Universität, die Tsinghua, zu ihren besten Zeiten erlebt hat. Glücklich ist, wer China nicht in Panik verlassen muss. Im Bild: Dorms und Sportplätze der Tsinghua University im Abendlicht (Bild: privat).