Zombie-Diplomatie in China: Was ist mit Aussenminister Qin Gang passiert?

Hochrangige Regierungsmitglieder von Ursula von der Leyen über Annalena Baerbock über Anthony Blinken, Janet Yellen bis hin zu John Kerry liefen sich in China in den letzten Monaten die Hacken ab, ohne irgendwelche Resultate vorweisen zu können. Bereits ist von Zombie-Diplomatie die Rede, Gesprächen ohne Ziel und Zweck, nur um den Anschein aufrecht zu erhalten, dass die diplomatischen Beziehungen aufrecht erhalten würden. Diese ohnehin schon schockierende Entwicklung hat inzwischen einen neuen Tiefpunkt erreicht: Der chinesische Aussenminister und weitere prominente Figuren sind abserviert worden. Aussenministerin Baerbock, State Secretary Blinken und Finanzministerin Yellen haben sich mit Repräsentanten der chinesischen Regierung unterhalten, welche sich wie Geister in Luft aufgelöst haben.

von Maja Blumer, 23. Juli 2023

Selbst in den westlichen Medien ist seit Tagen vom Verschwinden des chinesischen Aussenministers Qin Gang die Rede, der letztmals vor rund einem Monat gesichtet worden war. Wie in vergleichbaren Fällen des Verschwindens prominenter chinesischer Politiker – etwa des ehemaligen Sprechers des chinesischen Aussenministeriums Zhao Lijian – stehen drei Erklärungsmöglichkeiten im Raum: Frauengeschichten, Krankheit und oder politische Intrigen. Oder auch alles zusammen.

Exemplarisch zeigte sich dies bei Zhao Lijian, dem ehemaligen Sprecher des chinesischen Aussenministeriums. Erst kursierte im Juli und August 2022 das Gerücht, er habe seine Frau geschlagen und sei wegen einer bipolaren Störung in psychiatrischen Behandlung. Auch Photos mit einer angeblichen «Nichte», die mit sehr viel Geld um sich warf, kursierten kurz. Verifizierbar waren diese Gerüchte nicht, aber Zhao Lijian wirkte zu dieser Zeit wenig kohärent und machte einen gesundheitlich angeschlagenen Eindruck. Er verschwand für eine Weile von der Bildfläche, doch es schien, diese erste Gerüchteattacke habe Zhao Lijian relativ schadlos überstanden, jedenfalls sah man ihn Ende August 2023 wieder regelmässig am Rednerpult. Dann tauchten im September 2022 etliche Twitternachrichten auf, die sehr interessante Schlüsse zuliessen. Danach verschwand Zhao Lijian wieder für längere Zeit. Als er endlich wieder am Rednerpult des chinesischen Aussenministeriums erschien, machte es den Eindruck, als sei er der Einzige, der für seine Regierung die Kohlen aus dem Feuer holen könnte. Doch dann machte er mit seiner Schweigeminute weltweit Furore. Es folgten erneut Frauengeschichten – Zhao Lijian’s Gattin, deren Sohn aus erster Ehe in Deutschland zur Schule gehen soll, soll mit den in Deutschland genossenen Freiheiten geprahlt haben. Zuletzt folgten erneut Krankheitsgerüchte, Zhao Lijian soll an Covid gelitten haben, wobei sich seine Frau beschwert haben soll, dass Medikamente kaum zu finden seien. Ende Dezember 2022 wurde Aussenminister Wang Yi durch den damaligen Botschafter in den USA Qin Gang ersetzt. Kurz darauf wurde Zhao Lijian im Januar 2023 (scheinbar) endgültig abserviert. Seither soll er damit beschäftigt sein, Grenzsteine nachzupinseln.

Zhao Lijian bei einer seiner Inspektionsreisen an der chinesischen Grenze.

Damit, dass diese Geschichte hier aufgewärmt wird, soll keinesfalls gesagt sein, dass irgendetwas an den Gerüchten, die um Zhao Lijian kursierten, wahr ist. Vielmehr soll damit aufgezeigt werden, wie es gelungen ist, einen der fähigsten Aussenpolitiker Chinas innerhalb weniger Monate zu desavouieren.

Frauengeschichten?

Ganz ähnliche Mechanismen wie bei Zhao Lijian sind auch bei noch-Aussenminister Qin Gang ersichtlich. Am meisten Aufsehen erregen natürlich auch in seinem Fall die Frauengeschichten. Die Femme Fatale soll im vorliegenden Fall Fu Xiaotian sein, eine Fernsehreporterin, welche beim staatsnahen Fernsehsender Phoenix TV einen kometenhaften Aufstieg hingelegt hat. Sie soll als Doppelagentin auf Qin Gang angesetzt worden sein. Aus der Affäre soll ein gemeinsamer Sohn hervorgegangen sein, den Fu Xiaotian im November 2022 in den USA zur Welt gebracht hat. Im April 2023 soll sie ihre luxuriöse Villa im sonnigen Kalifornien verlassen und den Rückweg nach China angetreten haben. Seither hat man von ihr nichts mehr gehört.

Wie jede gute Skandalgeschichte hat auch diese einen wahren Kern. Unverkennbar sind die schmachtenden Blicke der Reporterin im Interview, das sie im Rahmen der Sendung «Talk With World Leaders» im März 2022 mit Qin Gang geführt hat, der damals Botschafter in den USA war. Dass Qin Gang für den Schlafzimmerblick und den Kussmund nicht unempfängich war, ist den Kameras nicht entgangen. Botschafter sind auch nur Menschen.

https://www.youtube.com/watch?v=wyZP4mh0Jow

Ebenfalls plausibel ist, dass Fu Xiaotian als Agentin eingesetzt wurde. Es ist nach wie vor auch in China gang und gäbe, auf halbwegs wichtige Personen einen «Romeo» bzw. eine «Venus» anzusetzen. Dies gilt übrigens auch für in China lebenden Ausländer. Wenn man ungebunden ist und nichts zu verheimlichen hat, kann es durchaus Sinn machen, sich auf das Angebot einzulassen. «Romeos» und ihre weiblichen Pendants machen schliesslich auch nur ihren Job und haben vielleicht nicht allzuviele Alternativen. Ausserdem ist mit einem «Romeo» oder einer «Venus» eine echte Kommunikation möglich. Kommunikation geht immer in beide Richtungen, was ermöglicht, interessante Informationen in Erfahrung zu bringen. Zum Mindesten ist ein «Romeo» angenehmer ist als die in China allgegenwärtige anonyme Internet- und Telefonüberwachung.

Wenn Qin Gang sich tatsächlich auf Fu Xiaotian eingelassen hat, kann darin also durchaus ein kluges Kalkül gelegen haben. Es macht den Anschein, als seien die beiden ein wahres Traumpaar. Qin Gang ist ambitioniert, ein geschliffener Diplomat und einer der mächtigsten Politiker in China. Fu Xiaotian ist jung (aber nicht zu jung), hübsch, in der Weltpolitik bewandert, verkehrt in den besten Kreisen, verfügt(e) über einen Privatjet und eine Villa an bester Lage (Monatsmiete USD 60’000), tritt als Mäzenzin mit nach ihr benanntem Garten auf. Hinzu kommen noch ein Doktortitel unbekannter Herkunft (jedenfalls figuriert sie in Italien als «Dottoressa») und ein italienischer Orden. Und als i-Tüpfelchen noch ein süsses Baby. Einziger Wermutstropfen ist, dass man nicht weiss, woher das Geld stammt, mit dem Fu Xiaotian um sich schmeisst.

Plausibel ist auch, dass Qin Gang verwendet wird, um ein Exempel zu statuieren, um chinesische Politiker zur Zurückhaltung bezüglich ihrer Mätressen anzuhalten. Affären sind in der chinesischen Politik zwar seit jeher an der Tagesordnung. Es ist noch nicht einmal sicher, ob Qin Gang überhaupt (noch) eine Ehefrau zu hat, denn Qin Gang hat sein Amt in Washington 2021 alleine angetreten und überdies sind Scheidungen in China an der Tagesordnung wie überall sonst auch. Sicher ist aber auch, dass Frauengeschichten in China ein patentes Mittel sind, Kader der kommunistischen Partei zu Fall zu bringen, wenn gewisse Grenzen überschritten werden. Namentlich dann, wenn die Affäre in der Öffentlichkeit gepflegt wird und die Geliebte mit Geld und Schmuck prahlt. Die chinesischen Männer im Liebesrausch unterschätzen die Gefahr vielmals, so etwa Hu Jiyong (胡继勇), der sich auf einer Geschäftsreise in Chengdu mit seiner Mätresse Dong Si Jin (董思槿) in Szene setzte. Das entsprechende Video wurde auf Doyin veröffentlicht (dem chinesischen Pendant zu Tiktok), was zumindest in beruflicher Hinsicht das Ende von Hu Jiyong war.

Was sich Qin Gang vor laufenden Kameras leistete, ging möglicherweise tatsächlich zu weit, und zwar unabhängig davon, ob er der Vater des kleinen amerikanischen Bürgers ist, den Fu Xiaotian im November zur Welt brachte. Sein Hauptfehler könnte gewesen sein, dass er sich im Interview als Stardiplomat darstellen liess und seine professoralen Qualitäten nicht unter den Scheffel stellte. Dies führte dazu, dass er bereits als Nachfolger von Xi Jinping gehandelt wurde. In einem System, das auf dem absoluten Machtanspruch und der Glorifizierung des Führers beruht, ist das riskant und kann tödlich enden. Man denke etwa an Lin Biao, den treuen Gefolgsmann und scheinbar designierten Nachfolger von Mao, der auf der Flucht bei einem Flugzeugabsturz umkam und als Verräter gebrandmarkt wurde. Oder an Bo Xilai, der als Nachfolger von Hu Jintao gehandelt wurde, der zwar der Todesstrafe entronnen ist, aber immer noch im Gefängnis sitzt, wenn er nicht gestorben ist.

Für Fu Xiaotian war das mit Qin Gang im März 2022 durchgeführte Gespräch das letzte Interview, das sie für die Sendung «Talk With World Leaders» machte, und wohl auch das Ende ihrer Karriere. Was ihr bleibt, ist ein vom italienischen Staat verliehener Orden, ein nach ihr benannter Garden an der University of Cambridge und natürlich ihre Memoiren.

Einiges geht an der Geschichte nicht ganz auf. Erstens war die Affäre, wenn es sie denn gab, auf chinesischer Seite mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekannt. Wenn die Beförderung von Qin Gang vom amerikanischen Botschafter zum Aussenminister tatsächlich eine Beförderung war, ist es schwer vorstellbar, dass seine Loyalität zu China nicht dadurch in Frage gestellt worden wäre, dass seine Mätresse mit seinem gemeinsamen Sohn (der aufgrund seiner Geburt in den USA über die amerikanische Staatsbürgerschaft verfügt) in Kalifornien ein Luxusleben führt.

Zweitens taucht auf den Photos von Fu Xiaotian’s Luxusleben in Kalifornien ein Mann auf, der ein bisschen aussieht wie Qin Gang, nur dass er um etwa 20 Jahre verjüngt worden wäre. Das ist zwar technisch möglich, ebenso gut ist möglich, dass alles gefälscht ist, von den Social Media Accounts von Fu Xiaotian bis auf die Photos an sich.

Drittens und vor allem macht misstrauisch, dass der Gerüchteküche in den Medien freier Lauf gelassen wurde. Unerwünschte Berichte werden von den chinesischen Zensurbehörden auch in den westlichen Medien sehr schnell zum Verschwinden gebracht. Wieso lässt man es plötzlich zu, dass der Ruf des Aussenministers in den Dreck gezogen wird? Insbesondere die seltsame Reaktion der beiden Sprecher des chinesischen Aussenministeriums, Mao Ning und Wang Wenbin aber auch des neuen Botschafters in den USA bereiten Kopfzerbrechen. Sie scheinen sich ob den Nachfragen von Journalisten köstlich zu amüsieren. Versteht Mao Ning wirklich plötzlich kein Englisch? Wissen sie wirklich von Nichts, oder tun sie nur so? Machen sie sich etwa über die westlichen Medien lustig, die immer wieder nach dem Verbleib des Aussenministers fragen, oder über Qin Gang selbst?

Ist Qin Gang krank oder tot?

Möglich ist natürlich, dass Qin Gang tatsächlich krank ist oder war, wie der Sprecher des Aussenministeriums Wang Wenbin am 11. Juni 2023 behauptet hat. Dem offiziellen Protokoll der entsprechenden Medienkonferenz ist allerdings diesbezüglich nichts zu entnehmen und auf Nachfragen reagierten die Sprecher des Aussenministeriums nicht. Es macht den Anschein, sie seien von den Fragen entweder peinlich berührt oder würden sich über die Fragen der Pressevertreter lustig machen.

Tatsächlich macht ein weiteres, wenig amüsantes Gerücht die Runde: Qin Gang sei im Spital 301 in Beijing an einer Lebererkrankung verstorben. Nun ist es natürlich möglich, dass Qin Gang die Geburt seines Sohnes mit etwas zuviel Baijiu, dem hochprozentigen chinesischen Schnaps, begossen hat. Das ist aber alles andere als wahrscheinlich. Vor allem ist nicht ersichtlich, wenn eine Hospitalisierung oder der Tod Qin Gangs geheimgehalten werden sollten.

Wahrscheinlicher wären im Falle einer Krankheit psychische Probleme, ein grosses Tabuthema in China. Dabei muss man sich vor Augen führen, unter welchem unglaublichen Druck der chinesische Aussenminister stand, ganz besonders vor seinem Verschwinden. Die diplomatischen Beziehungen zu den USA waren schon in den anderthalb Jahren, in denen Qin Gang als Botschafter in den USA tätig war, immer weiter aus dem Ruder gelaufen. Kaum hatte Qin Gang Anfang Januar 2023 sein neues Amt angetreten, wurde der Besuch von State Secretary Blinken mit einem Spionageballon torpediert. Wie erst später bekanntgegeben wurde, war das State Departement und andere Regierungsstellen Ziel eines chinesischen Hackerangriffs. Blinken soll kurz vor seiner Abreise nach Beijing am 16. Juni 2023 davon erfahren haben. Wie wichtig ihm der Besuch war, obwohl keine Ergebnisse erwartet wurden, zeigt sich daran, dass Blinken dennoch nach Beijing reiste. Trotz aller Bemühungen lief der Besuch am 18. und 19. Juni 2023 völlig aus dem Ruder.

Griff Qin Gang deshalb noch am 19. Juni 2023 abends zum Telefon, um mit seiner Amtskollegin in Berlin zu sprechen? Zwar waren zwischen ihm und Annalena Baerbock bei den vorangehenden Treffen mutmasslich die Fetzen geflogen, auch wenn Baerbock nicht ausgeführt hat, was sie bei ihrem Chinabesuch als «Teils mehr als schockierend» empfand. Aber vielleicht hoffte Qin Gang in seiner misslichen Lage gleichwohl auf ein verständnisvolles weibliches Ohr. Zu Recht? Aus dem Communiqué des chinesischen Aussenministeriums lassen sich diesbezüglich schwer Schlüsse ziehen. Es finden sich darin die bekannten Floskeln der Zombie-Diplomatie. Von win-win Strategie, Widerstand gegen das Decoupling, einer Führerrolle der beiden Ländern hinsichtlich der multilateralen Zusammenarbeit etc. Was sollte Annalena Baerbock zu den Vorschlägen ihres chinesischen Amtskollegen erwidern? Sie muss schon damals um den Inhalt der deutschen Chinastrategie gewusst haben, der trotz vorsichtiger Formulierung in eine andere Richtung weist.

Wenn Qin Gang bei Annalena Baerbock nicht auf Verständnis stiess, wo denn sonst? Bei seinem Vorgänger Wang Yi, der Qin Gang bereits bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar als «oberster Aussenpolitiker» und auch beim Besuch von Blinken in den Hintergrund gedrängt hat und seither wieder das Zepter schwingt? Bei seiner Ehefrau, die nur selten an seiner Seite gesichtet worden ist? Bei einer Schmeichlerin wie seiner angeblichen Mätresse? Bei seinen Untergebenen? Bei seinem russischen Amtskollegen? In einer Situation, in der man vom Vorgänger ausgebootet, von Gesprächspartnern nicht verstanden fühlt, während sich immer mehr Probleme anhäufen, für die man sich verantwortlich fühlt, können durchaus dazu führen, dass man durchdreht.

Auch bezüglich der angeblichen Krankheit von Qing Gang gibt es gewisse Anhaltspunkte, die dieses Gerücht als plausibel erscheinen lassen. Irgendwelche handfesten Beweise gibt es nicht und es ist das Beispiel von Zhao Lijian in Erinnerung zu rufen, bei dem unter anderem Gerüchte um dessen psychische Gesundheit mit dazu beitrugen, diesen zu Fall zu bringen.

Politische Intrigen?

Das plötzliche Verschwinden ohne Erklärung ist typisch für das Prozedere namens 双规 (shuang gui), welches auf Parteikader der kommunistischen Partei Anwendung findet, gegen welche eine interne Untersuchung stattfindet, meistens wegen Korruption, seltener wegen anderen Verstössen gegen die Interessen der Partei. Das Prozedere unterscheidet sich insofern von einem Strafverfahren, als die ins Visier genommenen Parteikader an einem von der Partei bestimmten Ort (in der Regel ein Hotel) für eine von der Partei bestimmte Zeit festgehalten werden. Die Untersuchung wird durch parteiinterne Verantwortliche durchgeführt und nicht durch die offiziellen Strafverfolgungsbehörden. Es gilt die Schuldvermutung, wobei erwartet wird, dass die untersuchte Person ein Geständnis ablegt. Anwälte sind nicht zugelassen und eine Kontaktnahme mit der Familie nicht möglich. Es sind drei Ausgänge des Shuanggui-Verfahrens denkbar: Übertragung des Falles an die Strafbehörden oder Freilassung, ganz vereinzelt kommen die Verhafteten auch zu Tode.

Sehr oft werden solche Shuanggui-Verfahren durch anonyme Hinweise ausgelöst. Entsprechend machen auch Gerüchte die Runde, dass Qing Gang einer politischen Intrige zum Opfer gefallen ist, welche zu einer parteiinternen Untersuchung geführt haben.

Plausibel ist dies, weil die Tätigkeit als Aussenminister von Qin Gang von Anfang an sabotiert wurde. Erst war da der Spionageballon, bei dem von chinesischer Seite das Gespräch verweigert und von den Sprechern Aussenministeriums irgendwelche Geschichten von Wetterballon und Höherer Gewalt aufgetischt wurden, bis State Secretary Blinken hinsichtlich seines geplanten Besuchs in China der Kragen platzte. Dann kam die Münchner Sicherheitskonferenz, an der plötzlich wieder Wang Yi das Zepter schwang. Es kamen diverse verunglückte Treffen dazu, namentlich die zwei Treffen mit Aussenministerin Baerbock, die kurzfristige Ausladung von Finanzminister Christian Lindner und schliesslich das Debakel beim Besuch von State Secretary Blinken, bei dem auch schon wieder Wang Yi das Zepter schwang.

Nur, wer hat in dieser Intrige die Fäden in der Hand? Eine These ist, dass die 红二代, die «roten Prinzlinge» hinter der Sache stecken, welche die Machtbasis von Xi Jinping unterwandern, indem sie seine loyalsten Leute abservieren.

Wenn irgendjemand versucht hätte, Qin Gang und Xi Jinping zu unterminieren und China als nicht verlässlichen Gesprächspartner erscheinen zu lassen, bei dem keine echte Gesprächsbereitsschaft besteht sondern nur noch eine Zombie-Diplomatie gepflegt wird, hätte er einen Zwischenerfolg zu verbuchen. Bereits wurden mangels Klarheit über den Verbleib und die Rückkehr des Aussenministers weitere Treffen abgesagt, etwa die Reise des britischen Foreign Secretary James Cleverly. Auch der Gegenbesuch des chinesischen Aussenministers in den USA dürfte auf die lange Bank geschoben werden.

Gerade dies weckt Zweifel an der These, dass die «roten Prinzlinge» oder die mit diesen eng verwandten «reichen Prinzlinge» (富二代)hinter der Sache stecken. Es ist schwer vorstellbar, dass die Prinzlinge an einer internationalen Isolation Chinas interessiert sind und dessen Ansehen schwächen wollen. Sie haben in der Regel erhebliche Finanzmittel im Ausland und ihre Kinder studieren dort. Sie werden nicht riskieren wollen, dass es ihnen gleich ergeht, wie den russischen Oligarchen. Der Kollateralschaden wäre insbesondere für diejenigen beträchtlich, welche Fu Xiaotians Lebensstil finanziert haben. Privatjets, Luxusvillen, Orden und Gärten sind nicht billig. Die internationalen Beziehungen, die so mit viel Geld gepflegt wurden, dürften sich für alle Beteiligten inzwischen von einem «Asset» zur «Liability» gewandelt haben.

Eine Person hat hingegen ein Interesse, Qin Gang vom Thron zu stürzen und gleichzeitig die Fähigkeit den Kollateralschaden unter Kontrolle zu halten: Zhao Lijian. Der streitbare Sprecher des chinesischen Aussenministerums wurde zu Beginn dieses Jahres strafversetzt und mundtot gemacht. Von Qin Gang persönlich, der zur gleichen Zeit zu seinem obersten Chef im Aussenministerium wurde? Man nimmt es an, auch wenn dieses Vorgehen sehr ungewöhnlich ist.

Sicher ist, dass Zhao Lijian plötzlich wieder im Gespräch ist. Genauer gesagt, wurde Zhao Lijian mit dem Kosenamen 大聪 (der grosse Gescheite) von seiner Frau, die sich selbst als 臭丫头 (stinkendes Mädel) bezeichnet, wieder ins Gespräch gebracht. Unter dem Titel «Heute ist ein grossartiger Tag» veröffentlichte sie am 10. Juli auf Twitter ein Fanvideo, das ihren Mann in Aktion zeigt. Was an diesem 10. Juli so grossartig war, sagte sie zwar nicht, aber das Video wurde sehr schnell in Verbindung zur angeblichen Liebensbeziehung von Qin Gang und Fu Xiaotian sowie zum Verschwinden von Qin Gang gesetzt, welches ziemlich genau gleichzeitig publik wurde.

https://www.youtube.com/watch?v=y1Da8TZQ-KE

Was bedeutet das Verschwinden von Qin Gang für den Westen?

Eine der wichtigsten Fragen wurde in den westlichen Medien noch überhaupt nicht erörtert, die eigentlich im Vordergrund stehen würde: Wenn Qin Gang tatsächlich nicht mehr in sein Amt zurückkehrt, was bedeutet das für die diplomatischen Beziehungen zu China? Der im japanischen Exil lebende Journalist Wang Zhi-an hat diese Frage nicht nur aufgeworfen, sondern auch versucht, eine Antwort darauf zu geben:

那么秦刚本人的个人的命运也没那么重要。但是我想关心的是就假如说秦刚不能当外交部长了那中国的外交政策会不会转向呢?这个呢就特别重要了。秦刚最近一段时缺席的时候都是王毅代替他来从事中国的外交活动。但大家都知道王毅中国战狼的肇事者他在外交这些年主持外交的过程中真一塌糊涂: 赵立坚,赵“战狼”,就是他亲自培养起来的。秦刚上住之后第一件事就是把赵立坚给弄下去了。

Das persönliche Schicksal von Qin Gang erscheint mir nicht so wichtig. Worüber ich mir aber Gedanken mache, ist, ob sich Chinas Aussenpolitik verändern wird, wenn Qin Gang nicht mehr als Aussenminister zurückkehrt. Dies ist besonders wichtig. Während seiner Abwesenheit in den letzten Tagen wurde er durch Wang Yi ersetzt, um den aussenpolitischen Verpflichtungen Chinas nachzukommen. Aber wie wir alle wissen, wer aus der von Wang Yi initiierten Wolf Warrior Diplomacy beim wahren Schlamassel im diplomatischen Prozess in all diesen Jahren an der Spitze stand: Zhao Lijian. Wolf Warrior Zhao war der Ziehsohn von Wang Yi. Das erste, was Qin Gang nach seinem Amtsantritt tat, war, Zhao Lijian loszuwerden…

Es bestehen somit Anzeichen dafür, dass sich die westlichen Regierungen damit abfinden müssen, dass wieder bissigere Wolf Warriors wie Wang Yi und Zhao Lijian die chinesische Aussenpolitik prägen werden. Möglich ist, dass ihnen ein im vergangenen halben Jahr ein neues Image verpasst wurde. Selbst wenn dem so wäre, ist anzunehmen, dass sie ihrer Linie treu bleiben werden.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass die westlichen Regierungen und diplomatischen Vertretern endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass sich in politischer und insbesondere aussenpolitischer Hinsicht wenig bis gar nichts geändert hat und auch nicht absehbar ist, ob und wann sich etwas ändern wird. In gewissen Bereichen der chinesischen Politik – etwa hinsichtlich des Machtanspruchs der kommunistischen Partei gibt es tatsächlich Kontinuität. Es gibt auch eine Kontinuität des Wandels, etwa indem ein hohes Kader von einem Tag auf den anderen in Ungnade fallen kann. China verspricht Kontinuität dort, und nur dort, wo es (nach eigener Wahrnehmung) den Interessen Chinas entspriicht. Deng Xiaoping hat dies beim Besuch von Bundesrat Honegger 1979 klipp und klar zum Ausdruck gebracht. Der Berichterstatter fasste dies kurz und knapp zusammen (wobei er darauf hinwies: «Lektüre des vollen Textes lohnt sich!»):

Es besteht nach Deng [Xiaoping] kein Grund, an der Kontinuität der chinesischen Politik zu zweifeln. Sie wird auch von jüngeren Kräften getragen. Sie ist richtig, weil sie dem Volk Vorteile bringt. Ohne die Entwicklung des Handels müsste China arm und schwach bleiben. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit muss politisch begründet (gegenseitiges Vertrauen) und langfristig angelegt sein.

Der Westen und insbesondere die Schweiz tun gut daran, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass die aussenpolitischen Beziehungen mit China auch in Zukunft eher von Wolf Warriors als von Schosshündchen geprägt sein könnten, also diesbezüglich Kontinuität besteht, auch wenn es aus unserer Sicht nicht klar ist, welchen Nutzen China aus der Wolf Warrior Diplomatie zu ziehen glaubt. Mit der Wolf Warrior Diplomatie kann man umgehen, und muss es, wenn man eine Zombie-Diplomatie vermeiden will,

Ebenso kann und muss man damit umgehen, dass wichtige chinesische Politiker manchmal andere Prioritäten haben als ihre westlichen Gesprächspartner. Als Qin Gang am 19. Juli 2023 abends den Telefonhörer in die Hand nahm, um nach dem Besuch von State Secretary Blinken auch noch mit Aussenministerin Baerbock zu sprechen, werden ihn wohl andere Sorgen als die Klimaerwärmung und die Förderung der «grünen» Wirtschaft umgetrieben haben. Bleibt zu hoffen, dass die deutsche Aussenministerin dies wahrgenommen hat. Dann hätte sie für den Fall, dass Qin Gang in sein Amt zurückkehrt, Basis für eine Vertrauensbeziehung gelegt, bei der man konstruktive Gespräche führen kann, etwa bezüglich der Frage, wo man von China Kontinuität erwartet (Einhalten von Verträgen, Status quo bezüglich Taiwan…).

Das wäre das Gegenteil einer Zombie-Diplomatie bei der man sich in unendlichen «Dialogen» immer wieder längst bekannte Worthüllen an den Kopf schmeisst und dabei meint, der anderen Seite damit seine Position verständlich machen zu können.

Ablenkungsmanöver?

Eine Frage drängt sich auf, die bisher scheinbar noch niemand gestellt hat: Weshalb wird in den westlichen Medien ein so grosses Aufheben um das Verschwinden von Qin Gang gemacht? Oder um die Besuche von «Freunden» von Xi Jinping, der unter anderem Kissinger, Bill Gates oder den philippinischen Ex-Präsident Duterte empfing, als seien sie noch in Amt und Würde?

Will Xi Jinping damit signalisieren, dass er und sein Stab kein Interesse an Zombie-Diplomatie hat, an endlosen Gesprächsrunden in denen sich die Beteiligten immer wieder die gleichen Floskeln an den Kopf werfen?

Oder handelt es sich bei den Berichten um das Verschwinden von Qin Gang und betreffend die Besuche von Kissinger & Co. um Nebelpetarden, die von Wichtigerem ablenken? Und wenn die Antwort auf diese Frage «Ja» ist: von was soll abgelenkt werden?

Es ist praktisch unmöglich, eine Antwort zu geben. Wirtschaftliche, soziale und ökologische Probleme, welche China unter dem Deckel zu halten versucht, häufen sich derart, dass es unmöglich ist, eines herauszupicken.

Auf eine Auffälligkeit sei allerdings hingewiesen, nämlich dass neben Qin Gang auch andere wichtige Leute verschwunden sind, die als loyal zu Xi Jinping galten. Im Aussenministerium ist dies neben Qin Gang der bereits erwähnte ehemalige Sprecher Zhao Lijian. Bei den «Rocket Forces», einer Eliteeinheit der chinesischen Streitkräfte laufen Untersuchungen gegen zwei Führungskräfte, wobei der Verdacht besteht, dass militärische Geheimnisse an die CIA durchgesickert sind. Und in einer weiteren Eliteeinheit wurde ein junger, aber angeblich brillianter Forscher namens Feng Yanghe mit seinem Grad nicht entsprechenden militärischen Ehren zu Grabe getragen. Feng Yanghe ist unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen. Er soll auf mit künstlicher Intelligenz unterstützte Kriegssimulationen spezialisiert gewesen sein. Am 1. Juli 2023 soll er auf dem Weg zu einer «bedeutenden Mission» umgekommen. Ob künstliche Intelligenz eine Rolle gespielt hat, ist unklar. Moderne Technologie spielte jedenfalls eine Rolle: Feng Yanghe soll nämlich auf dem Weg zu seiner wichtigen Mission nicht in einem Dienstfahrzeug sondern in einem von einem übermüdeten Taxifahrer gesteuerten Auto gesessen haben, welches er per App bestellt hatte. Dort soll er von zwei Sattelschleppern eingeklemmt worden sein.

Militär und Aussenministerium sind für den Machterhalt von Xi Jinping wichtig. Auch wenn er auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an Talenten zurückgreifen kann, welchei in die vakanten Positionen nachrücken, stellt sich doch die Frage, wie viele loyale Gefolgsleute Xi Jinping verlieren kann, bis das politische System instabil wird.

Das Verschwinden von Qing Gang ist zugleich wichtig und unwichtig. Wichtig, weil es einen gewisse Rückschlüsse über die nach wie vor tobenden Machtkämpfe und die Entwicklungsrichtung der Aussenpolitik erlaubt. Unwichtig, weil es für die aussenpolitische Strategie keine Rolle spielen kann, wer in Beijing gerade am längeren Hebel sitzt.


Dr. iur Maja Blumer, Fürsprecherin, LL.M. (Tsinghua) hat in der Schweiz an der Universität Bern, in der Volksrepublik China an der Tsinghua University in Beijing sowie an der Beijing Language and Culture University und in Taiwan an der National Chengchi University studiert. Sie arbeitet als Rechtsanwältin in der Schweiz.