Wolf Warriors sind keine Schosshündchen…

…dennoch kann man von ihnen etwas lernen. Das gilt gerade für die Schweiz, welche als neues Mitglied im Sicherheitsrat glänzen und mit den Grossmächten – einschliesslich der Volksrepublik China – auf Augenhöhe verkehren möchte.

von Maja Blumer, 4. Januar 2022

Was sind Wolf Warriors?

Unter «Wolf Warrior»-Diplomatie versteht man die unter Xi Jinping entwickelten Stil der «Diplomatie durch Zwang» (englisch: coercive diplomacy), die in den letzten Jahren wieder besonders en vogue ist. Diese Form von Diplomatie ist kampflustig und auf Konfrontation aus. Der bekannteste Wolf Warrior dürfte der Sprecher des chinesischen Aussenministeriums Zhao Lijian sein; weitere bekannte Exponenten sind der in Paris (und ehemals in Kanada) stationierte Botschafter Lu Shaye, der inzwischen aus Manchester abgezogene Generalkonsul Zheng Xiyuan, der ehemalige Botschafter in Schweden Gui Congyou usw.

Während der Begriff «Wolf Warrior Diplomacy» neu ist, war dieser Stil älter als die Volksrepublik China und wurde von den Theorien Mao Zedongs geprägt. Das fiel einfach bis in die Siebzigerjahre kaum auf, weil die Volksrepublik China bis dahin mit den meisten westlichen Ländern keine diplomatischen Beziehungen pflegte.

(Mindestens) drei Wolf Warriors des Generalkonsulates in Manchester, einschliesslich des Generalkonsuls Zheng Xiyuan (links im Bild) attackieren einen Demonstranten in einer Weise, wie es jedem Wolfsrudel Ehre machen würde (Bild: Screenshot Sky news vom 19. Oktober 2022, https://www.youtube.com/watch?v=BFGIM6I6EaQ).

Wie unlängst der nun aus Grossbritannien abgezogene Generalkonsul in Manchester in einem Interview mit Sky news (ausgestrahlt am 19. Oktober 2022 klarstellte, besteht für chinesische Diplomaten keine Wahl, ob sie zu den Strategien der Wolf Warriors greifen, sie betrachten es als ihre Pflicht. Bezogen auf das aus westlichen Augen tief verstörenden Bildes des Generalkonsuls Zheng Xiyuan, in dem er einen Demonstranten höchstpersönlich von hinten attackierte und ihn an den Haaren zerrte, rechtfertigte sich Zheng Xiyuan in diesem Interview:

He’s abused my country, my leader. It’s my duty to pull his hair. I think it’s any diplomat’s [duty]. If I face such kind of behavior…

Wohlverstanden: das ist die chinesische Sicht. Die involvierten sechs Diplomaten bzw. die Volksrepublik China wollten nicht auf die diplomatische Immunität verzichten, um ihren Standpunkt vor den britischen Behörden zu erläutern. Sie wurden zurückgezogen, um der Gefahr zu entgehen, von Grossbritannien des Landes verwiesen zu werden.

Die häufigsten Auslöser von verbal und/oder physischer Agression der Wolf Warriors sind:

  • Majestätsbeleidigungen (bezogen natürlich auf Xi Jinping)
  • jegliche von der Definition der Volksrepublik abweichenden Interpretation der Einchinapolitik (nicht nur, aber ganz besonders bezüglich Taiwan)
  • jegliche Art der Unterstützung der Demokratiebewegung in Hong Kong
  • jegliche Kritik bezüglich Menschenrechtsverstösse
  • jegliche Skepsis bezüglich der Corona-Politik Chinas (egal ob betreffend «Zero Covid Policy» oder bezüglich der aktuellen Kehrtwendung um 180%, der Herkunft des Virus etc.)

Häufig von den Wolf Warrior-Diplomaten verwendete Stichwörter sind «win-win Kooperation», «nationale Würde und Ehre», «Souveränität» bzw. «Entwicklungsinteressen» Chinas, «internationale Fairness und Gerechtigkeit».

In psychologischer Hinsicht erkennt man die Wolf Warriors am besten an der häufig angewandten Methode der Projektion, die ein psychologischer Verteidigungsmechanismus ist, die man insbesondere mit Narzissmus in Verbindung bringt. Da sein selbst geschaffenes und aus seiner Sicht makelloses Selbstbild eines Narzissten keine Risse aufweisen darf, sieht er das Problem für alles, was damit nicht vereinbar ist, auf der Gegenseite.

Beispiel gefällig? Nach dem abrupten Kurswechsel bezüglich Covid grassiert das Virus derzeit in ganz China. In der Wirtschaftsmetropole Shanghai soll akuell bis zu 70% der Bevölkerung infiziert worden sein. Bilder aus Shanghai und anderen Grossstädten in China zeigen apokalyptische Szenen aus Spitälern, leere Regale in den Apotheken. WHO und zahlreiche Staaten äussern ihre Besorgnis, wünschen Informationen, bieten Hilfe an. In Südkorea wurde nach Wiedereinführung der Testpflicht für aus China einreisende Passagiere rund 20% der Einreisenden positiv getestet. In Mailand war es bei zwei Flügen gar 50%. Die Antwort aus dem chinesischen Aussenministerium (u.a. am 5. Januar 2023): «Seit Covid begann, hat China die relevanten Daten in einer offenen, transparenten und verantwortungsvollen Weise mit der internationalen Gemeinschaft geteilt» und «China hat die Lage unter Kontrolle»; das Problem sind die andern, diejenigen, welche die Epidemie «politisieren», welche «nicht angemessene und nicht auf wissenschaftlichen Kriterien basierende» Massnahmen treffen.

Das auf Zhao Lijian gemünzte Meme «Projection» der Youtuber Serpentza und Laowhy86.

Die Mission der Wolf Warriors: Einen neuen kalten Krieg verhindern

Warum aber diese Wiedergeburt der kombativen Diplomatie? Wenn man sich durch den mit kommunistischem Jargon durchsetzen orwellschen Newspeak in den Reden von Xi Jinping und seiner Adlaten – sie selber sprechen von der «Major Country Diplomacy» – durchkämpft, kann man (jedenfalls zur Zeit) zum Schluss kommen, dass das hehre Ziel der Wolf Warrior Diplomacy ist, einen zweiten kalten Krieg zu verhindern.

Schon der Qin-Kaiser hatte folgsame Wolf Warriors, auch wenn sie damals noch nicht so hiessen. Er nahm sie mit sich in Xi’an mit ins Grab (Bild: privat)

Das klingt nun vielleicht ein bisschen übertrieben, aber man muss sich bewusst sein, das der erste kalte Krieg für die Volksrepublik China eine Reihe von Niederlagen mit sich brachte. Es begann damit, dass 1949/1950 ausser den sozialistischen Bruderstaaten und der Schweiz kaum ein Land bereit war, die neu ausgerufene Volksrepublik zu anerkennen, geschweige denn diplomatische Beziehungen zu ihr anzuknüpfen. Das war durchaus selbstverschuldet, die Probleme mit den Kommunisten, mit denen etwa das amerikanische Konsulat in Shanghai 1949 nach deren Machtübernahme zu kämpfen hatte (etwa bezüglich des Vizekonsuls William M. Olive, der «zu Brei geschlagen» [«battu comme plâtre»] und verhaftet wurde) liess nicht unbedingt auf gedeihliche bilateralen Beziehungen mit den USA oder anderen Staaten (die aufgerufen waren, Protest einzulegen) hoffen. Der Koreakrieg (der auf nordkoreanischer wesentlich von «freiwilligen» Soldaten aus China dominiert wurde) war auch nicht gerade geeignet, bezüglich der Truman-Dokrin (Containment) abzurücken.

Der Kalte Krieg hatte gravierende Auswirkungen auf die Volksrepublik China, um nur einige Punkte zu nennen:

  • Der ohnehin grosse technologische Rückstand wurde immer grösser, insbesondere bei der Rüstung.
  • Aufgrund der Blockpolitik hatte die Volksrepublik China in allen damals wesentlichen Gremien (Sicherheitsrat, Nato usw.) keine Stimme.
  • Die fehlende Anbindung an ein internationales Währungssystem (Bretton Woods) kappte die Verbindung der Volksrepublik China zum Welthandel. Es blieb der Tauschhandel mit sozialistischen Bruderstaaten.
  • Der fehlende (geistes-)wissenschaftliche Austausch erschwerte es, die selbstgemachten Probleme (etwa die der kommunistischen Doktrin innewohnende Tendenz zur der Fehlallokation von Ressourcen) auf rationale Weise zu lösen.

Dass der Volksrepublik China in den Siebzigerjahren allmählich die Rückkehr in die Staatengemeinschaft gewährt wurde, wurde aus chinesischer Sicht keinesfalls als Entgegenkommen gewertet. Zunächst galt es, die Kröte zu schlucken und das Diktat der Amerikaner zu akzeptieren, etwa dass am status quo bezüglich Taiwan nichts geändert werden durfte. China wurde dadurch in die Ära der ungleichen Verträge zurückkatapultiert, wie etwa dem «Freundschaftsvertrag» zwischen der Republik China und der Schweiz, bei dem die Schweiz als eines der allerletzten Länder der Welt auf seine Privilegien verzichtet hatte (nachdem die Republik China 1945 plötzlich zur Sieger- und Weltmacht aufgestiegen war). Die Bedingungen galt es zu schlucken. Dass Chairman Mao Henry Kissinger 1973 bei einem Treffen 1973 10’000 Frauen anbot, mag heute widerlich erscheinen; damals aber hatte die Volksrepublik China nicht viel mehr zu bieten. Damals wie heute ging es um Interessenpolitik, Tauschgeschäfte, keineswegs um Freundschaft. Ein kurzer Wortwechsel zwischen Mao und Kissinger bringt das zum Ausdruck:

Chairman Mao: […] At that time, you also opposed us. We also opposed you. So we are two enemies (Laughter).
Dr. Kissinger: Two former enemies.
Chairman Mao: Now we call the relationship between ourselves a friendship.
Dr. Kissinger: That’s our sentiment.
Chairman Mao: That’s what I am saying.
Dr. Kissinger: I have told the Prime Minister that we speak to no other country as frankly and as openly as we do to you.
Chairman Mao (To the photographers): That’s all for you.

– Memorandum of Conversation, Beijing 17.-18. Februar 1973

Der neue Kalte Krieg hat schon begonnen

Die Aufholjagd der Volksrepublik China in den letzten 30 Jahren war beeindruckend, doch längst wurden Stimmen laut, die sagen, dass der neue Kalte Krieg schon begonnen hat. Und die Muster des ersten Kalten Krieges scheinen sich zu wiederholen:

  • Der Zugang zu den neuesten Technologien wurde bereits wieder eingeschränkt, bevor den chinesischen Wissenschaftern der Sprung von Technologietransfers zu eigenen Innovationen gelang (ein Phänomen, das schon in der Sowjetunion zu beobachten war). Dies gilt (trotz ungeheuren staatlichen Investitionen) besonders für Microchips, aber auch bezüglich Mikroelektronik, Satelliten, Biotech und andere Technologien, die für die modernen Waffenarsenale benötigt werden.
  • Die recht übersichtliche Blockpolitik wurde durch neue Allianzen abgelöst. Entscheide, die theoretisch in die Kompetenzen des Sicherheitsrates fallen würden, werden von anderen Gremien gelöst, etwa durch das Gremium, das ich andernorts als «P11» bezeichnet habe.
  • Der Einfluss Chinas auf das weltweite Währungssystem blieb bislang gering, das gilt für die Ablösung des Dollars als Reservewährung ebenso wie für «Innovationen» wie Bitcoin und Central Bank Digital Currencies, wo China zwar an vorderster Front mitmischte, aber noch keine sichtbaren Erfolge zeigte. Gleichzeitig besteht Grund zur Vermutung, dass das gesamte Finanzsystem in China aus der Balance geraten ist.
  • Das Problem der Fehlallokation von Ressourcen wurde noch verstärkt, nicht nur die Rückbesinnung auf sozialistische Ideale ist dafür verantwortlich, sondern auch, dass zahlreiche Länder die Produktion energie- und arbeitsintensiver Produkte nach China ausgelagert haben. Insbesondere der für die Problemlösung wichtiger wissenschaftliche Austausch wird einerseits – mehr denn je – durch Zensur behindert und andererseits durch den streng hierarchischen Ansatz der kommunistischen Partei Chinas gerade auch gegenüber ihren Kadern, welcher Querdenkern keine Chance lässt.

Unter zuletzt genannten Problem leiden nicht zuletzt die Wolf Warriors. Die Wolf Warriors sind weder dumm noch ungebildet, aber sie sind, wie der ehemalige Generalkonsul in Manchester dargelegt hat (siehe oben), gezwungen, die vorgegebene Wolf-Warrior-Strategie zu verfolgen und staatlichen Parolen zu verkünden und durchzusetzen. Selbst dann, wenn sie wissen, dass das, was sie verkünden mit den objektiv belegbaren Fakten nichts zu tun haben. Der Lieblingssatz von Zhao Lijian als Antwort auf Fragen ist inzwischen: «Das, was sie hier ansprechen, entspricht nicht der Realität» (你谈到的有关情况与事实不符). Irgend jemand leidet hier unter Realitätsverlust. Die Frage ist nur: Wer?

Zwischenstand: Mission fehlgeschlagen

Unter der Annahme, dass die Wolf Warrior Diplomatie dazu hätte dienen sollen, den Kalten Krieg und ihre Blockpolitik abzuwenden, ist als Zwischenstand festzustellen, dass diese vorerst gescheitert ist. Statt einen Keil zwischen die USA bzw. Taiwan und andere Länder zu treiben, wurden deren Allianzen gestärkt.

Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Wiedereinführung von Masken- und Testpflichten bezüglich Reisender aus China (inklusive Hong Kong und Macau). In einem geharnischten Statement erklärte die Sprecherin des chinesischen Aussenministeriums Mao Ning, die Entscheidung dieser Staaten ermangle es an der wissenschaftlichen Basis, sie sei inakzeptabel. Mao Ning drohte Retorsionsmassnahmen an. Das veranlasste weder die Länder, welche Testpflichten wiedereingeführt hatten, diese aufzuheben, noch hielt es die EU davon ab, eine solche zu empfehlen.

Strategiewechsel?

Ist angesichts der konträren Wirkungen im Ausland mit einem Strategiewechsel zu rechnen? Darüber wird schon lange spekuliert. Da es sich um eine von Xi Jinping höchstpersönlich verordnete Strategie handelt, ist dies eher unwahrscheinlich. Allenfalls könnte es als Zeichen in diese Richtung gewertet werden, dass die bereits erwähnten sechs Diplomaten aus dem Konsulat in Manchester im Dezember nach China zurückbeordert wurden.

Ein weiteres Indiz für einen Strategiewechsel könnte sein, dass der berühmteste Wolf Warrior, Zhao Lijian, ist in den letzten Monaten immer seltener aufgetreten ist. Seine (durchaus beachtenswerte) Tirade gegen die USA vom 2. Dezember 2022, seine Leichenbittermine und seine Kleidung (die lustige rote Hündchenkrawatte blieb diesmal zu Hause) erwecken ein bisschen den Eindruck, als sei es seine Abschiedsvorstellung als Sprecher des Aussenministeriums. Aber wer weiss, vielleicht folgt als nächstens in Botschafterposten in den USA? Diesbezüglich hat Zhao Lijian ja in tausenden von Twitternachrichten sein historisches Wissen demonstriert. Oder eine Entsendung nach Europa, das ja empfänglich für Wolf Warriors scheint? Auch das ist nicht ausgeschlossen, auch hier bestehen Verbindungen, der Sohn von Zhao Lijian soll ja bereits in Deutschland leben (das ist allerdings nur eines der vielen unbestätigten Gerüchte, die sich um Zhao Lijian ranken).

(Vorläufige?) «Abschiedsrede» vom berühmtesten Wolf Warrior Zhao Lijian am 2. Dezember 2022

Nachtrag: am 9. Januar 2023 wurde bekannt, dass Zhao Lijian zum Vize-Direktor im «Department of Boundary and Ocean Affairs» wegbefördert wurde. Bewahrheitet sich, was Zhao Lijian schon im September (während seiner ersten Abwesenheit) in einer (interpretationsfähigen bzw. interpretationsbedürftigen) Twitternachricht unter dem Titel Starry starry night» gesagt hat?

They did not listen,
they did not know how,
perhaps they’ll listen now.
– Don McLean, Vincent (Starry starry night)

Beunruhigender als diese Gerüchte um Zhao Lijian ist der Umstand, dass der neue chinesische Aussenminister Qin Gang, der noch vor Kurzem als Wolf Warrior galt, nun plötzlich die «weicheren» Seiten Chinas vertreten soll, wie in einigen westlichen Medien nun rapportiert wird, kaum ist er im Amt. Haben wir es nun mit Wölfen im Schafspelz zu tun, oder verwandeln sich die Wolf Warriors auf Kommando in Schosshündchen? On verra.

Schosshündchen auf Kommando?

Wölfe, die sich auf Kommando in Schosshündchen verwandeln, sind gefährlich. Dies entnehme ich jedenfalls dem Gespräch mit einer Nachbarin, welche die zwei besterzogenen Hunde weit und breit hält, grosse Tiere von einer Rasse, die man zu den Kampfhunden zählt. Als ich sie einmal fragte, wie es kommt, dass ihr diese Hunde scheinbar aufs Wort folgen – ohne Leine, ohne lautes Komando – und alles andere als bedrohlich erscheinen, hat sie mir erklärt, was die Grundlage ihres Erfolgs ist: Sie hat ihren Hunden beigebracht, dass es nicht ihre Aufgabe ist, die Meisterin zu schützen. Kluge Kampfhunde – und die artverwandten Wölfe – können so gesehen völlig ungefährlich sein. Schosshündchen, die mit Beissen, Anspringen und Kläffen reagieren, weil sie glauben, ihr Herrchen verteidigen zu müssen, dagegen sehr – und zwar für sich selbst (sie erhalten einen Maulkorb umgelegt) wie ihr Herrchen (um die man lieber einen grossen Bogen macht). Da hilft dann auch der Hundeblick nicht mehr.

Wolf Warriors, die auf Kommando agieren, als wären sie Schosshündchen, scheinen mir überaus gefährlich. Sie sind nichts anderes als Wölfe im Schafspelz.

Die Rotkäppchen-Strategie und die Schweiz

Wer sich von Wölfen im Schafspelz Sand in die Auge streuen lässt, sind ein Stück weit für ihr Schicksal selber verantwortlich. Das wissen eigentlich schon kleine Kinder, die mit dem Märchen von Rotkäppchen vertraut sind. Zur Erinnerung: Im Märchen der Gebrüder Grimm begab sich Rotkäppchen allein auf eine humanitäre Mission durch den finsteren Wald zu seiner Grossmutter, im Handgepäck eine Flasche Wein und ein Stück Kuchen. Im Wald traf es auf einen schlauen Wolf, dem es in seiner Naivität alle seine Pläne anvertraute:

Als Rotkäppchen nun in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. 

Nicht nur war Rotkäppchen naiv, es vergass auch alles, was es von seiner Mutter gelernt hatte und gefährdete so auch seine Grossmutter. Statt auf direktem Weg zu dieser zu gehen, kam auf den Gedanken, es könnte einen Blumenstrauss pflücken und kam vom Weg ab:

Und wenn es eine gepflückt hatte, meinte es, weiter hinaus stünde eine schönere, und lief danach und geriet immer tiefer in den Wald hinein. 

Der clevere Wolf nutzte die Gelegenheit und begab sich zum Haus der Grossmutter, um sich dort in einen Wolf im Schafspelz zu verwandeln (oder so ähnlich):

Der Wolf drückte auf die Klinke, die Tür sprang auf, und er ging ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte sie. Dann zog er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die Vorhänge zu.

Endresultat war, dass der Wolf die nicht weniger naive Grossmutter, Rotkäppchen, den Wein und den Kuchen verschlang. Weil Märchen aber nun mal ein Happy End haben müssen, kam in Grimms Märchen ein geistesgegenwärtiger Jäger des Weges und am Ende war nur der Wolf tot.

In der Realität dürfte ein naives, zielloses und unwissendes Verhalten im Umgang mit Wölfen weniger glimpflich enden. Das gilt auch für den Umgang mit Wolf Warriors.

Gerade die Schweiz als neues Mitglied im Sicherheitsrat trägt eine Mitverantwortung, dass der neue Kalte Krieg nicht in einen dritten Weltkrieg ausartet. Sie hat somit nicht nur ihre eigenen Interessen zu schützen, sondern hat auch eine gesteigerte Verantwortung, andere Länder nicht zu gefährden. Das kann nur gelingen, wenn die Schweiz anders als Rotkäppchen entweder kluge Allianzen bildet oder sich wie der Jäger wenigstens das nötige Rüstzeug holt, um den Gefahren begegnen zu können.

In den ersten Tagen des Jahres hat die Schweiz keine besonders gute Figur gemacht. Während die EU «dringend» zur Testpflicht für China-Reisende rät, während die Nachbarländer Deutschland, Italien, Frankreich und Österreich die Testpflicht schon eingeführt haben, will die Schweiz erst einmal abwarten und irgendetwas prüfen «unter Berücksichtigung epidemologischer Kriterien» (Cash, 5. Januar 2023, 13:53). Was genau? Ob die Wolf Warriors, die mit Retorsionsmassnahmen gedroht haben, sich plötzlich als Schosshündchen erweisen? Ob fliegerweise Covidpatienten aus China in Zürich und Genf landen, die ihre Reisen zum chinesischen Neujahr umgebucht haben? Ob wissenschaftlich erwiesen ist, dass gefährlichen Mutationen entstanen sind? Ob man als Schweizerbürger in den anderen Schengenstaaten zur Persona non grata erklärt wird?

Und ob das Abseitsstehen der Schweiz nicht genug wäre, wurde auch noch publik, dass eine Instrument, welches für die taiwanesische Trägerrakete Hsiung-Feng III verwendet wird, für Wartungsarbeiten in die Schweiz geschickt wurde und von der Schweizer Firma aus ungeklärten Gründen in die Volksrepublik China weitergeleitet wurde; ob diese Nachricht im Konnex mit der praktisch gleichzeitig bekannt gewordenen Nachricht steht, dass in Taiwan ein Spionagering ausgehoben wurde, der seit rund zehn Jahren militärische Geheimnisse für die Volksrepublik China ausforschte, ist nicht ganz klar. Falls die Schweiz (vorsätzlich oder fahrlässig) duldet, dass unter dem Deckmäntelchen der schweizerischen Neutralität Spionage für eine Konfliktpartei betrieben wird, müsste sie sich selber sehr rasch den Vorwurf gefallen lassen, sie sei ein Wolf im Schaftspelz. Es bleibt zu hoffen, dass die Schweiz die Lektion aus dem ersten Kalten Krieg, als sie zum Drehkreuz für chinesische Agenten wurde, gelernt hat.


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua) hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und in Taiwan studiert; sie ist als Rechtsanwältin tätig.