Blutmond über Beijing und Sternenhimmel über Taipei – was uns der chinesische Spitzendiplomat Zhao Lijian vielleicht zu sagen hat

Wenn jemand auf Twitter unter dem Titel «Starry Starry Night» vom Sternenhimmel seiner Stadt veröffentlicht, dann ist das normalerweise schön, aber nicht weiter der Rede wert. Wenn es allerdings einer der berühmtesten Diplomaten Chinas tut, der normalerweise für seine aggressiven Tweets bekannt und als «Wolf-Warrior» verschrien ist, ist es die Zeit wert, diese Nachricht in einen grösseren Kontext zu setzen – einen Kontext, indem es leider nicht um die Sterne geht, die friedlich über das Firmament ziehen.

von Maja Blumer, 18. September 2022

Die Rätselhafte Twitternachricht «Starry starry night in Beijing» von Zhao Lijian

Am 17. September 2022 twitterte der berühmt-berüchtigte chinesische Aussenpolitiker Zhao Lijian folgende (scheinbar?) harmlos-versöhnliche Videobotschaft unter dem Titel «Starry starry night in Beijing»:

Erst sieht man im Video einen roten Mond über der wohlbekannten Skyline des Central Business District von Beijing aufgehen, dann folgen Sterne über der verbotenen Stadt, Sterne über dem Olympiaturm, Sterne über der Oper. Ein Tweet für Heimweh-Beijinger wie mich? (Ich habe zwar keinen Koffer in Berlin, aber tatsächlich noch ein Velo in Beijing.) Eine belanglose Botschaft? Eine Friedensgeste? Oder steckt mehr dahinter?

Wenn man Schlüsse über den Tweet ziehen will, muss man erst mal genauer wissen, wer dessen Autor, Zhao Lijian, ist.

Wer ist Zhao Lijian?

Im kommunistischen China stehen Mitte Oktober 2022 richtungsweisende Wahlen an. Nur erfährt die Welt kaum etwas davon, abgesehen davon, dass die Medien kolportieren dass Xi Jinping auf ewig Präsident der Volksrepublik und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und Vorsitzender der Zentralen Millitärkommission bleiben soll. Das ist allerdings keineswegs so sicher wie es aussieht. Ziemlich sicher ist dagegen, dass sich hinter den Kulissen derzeit ungeheurliche Machtkämpfe abspielen – wer sich dafür interessiert, dem sei die satirische neueste Folge der Serie «General Hostility» von Chris Chappell auf China Uncensored empfohlen.

Für diejenigen, die sich für die neuesten Machtkämpfe hinter den Kulissen der chinesischen Politik interessieren: Die neueste Episode von «General Hostility» auf China Uncensored präsentiert die neuesten Gerüchte um die kommunistische Partei Chinas mit einer Prise Humor (https://www.youtube.com/watch?v=lAfEwJmS8xg).

Irgendwo mittendrin in «General Hostility» steht der Autor der eingangs zitierten Twitternachricht, Zhao Lijian. Er ist nicht nur einer der wortgewaltigsten chinesischen Politiker und Diplomaten, die in den westlichen Medien bisher ihre Auftritte hatten, er hat auch einen immensen (geo-)politischen Einfluss, wie in einem Feature im «The New York Times Magazine» vom 7. Juli 2021 (bevor Zhao Lijian zu wirklich internationaler Prominenz aufrückte) festgehalten wurde:

«It would be tempting to dismiss Zhao’s tweet as a one-off provocation and Zhao himself as a bit player in this geopolitical drama. But in fact his influence has been immense. Despite being almost entirely unknown, even in China, until two years ago, Zhao has managed to rapidly and completely transform how China communicates with its allies and adversaries. His unbridled style of online rhetoric has spread throughout the Chinese diplomatic corps, replacing the turgid mix of evasive diplomatese and abstruse Communist jargon that characterized the nation’s public statements for decades.» – Alex W. Palmer, The Man Behind China’s Aggressive New Voice, The New York Times Magazine, 7. Juli 2021

Dass Zhao Lijian in die oben erwähnten Machtkämpfe involviert ist, ist relativ sicher – auf welcher Seite, das wissen die Götter bzw. wohl er allein. Dass Zhao Lijian in die Machtkämpfe involviert ist, lässt sich nicht nur aus seiner prominenten Stellung schliessen, sondern daraus, dass in den letzten Monaten diverse Gerüchte über und um Zhao Lijian gestreut wurden, von denen in diesem Blog schon mehrfach die Rede war. Andererseits wird der Eindruck, dass Zhao Lijian irgendwo mitten im politischen Schlamassel steckt, dadurch verstärkt, dass er zwar Ende August kurz aus der Versenkung aufgetaucht ist, er (zusammen mit seiner ehemaligen Vorgesetzten Hua Chunying und seinem Kollegen Wang Wenbin) aber kurz darauf wieder abserviert wurdeoder freiwillig abgetaucht ist. Seit dem 5. September trat nur noch die neue Sprecherin des Aussenministeriums Mao Ning auf, die bisher an Langeweile nicht zu übertreffen ist. Fragen der ausländischen Medien beantwortete Mao Ning bislang entweder gar nicht oder mit der ewiggleichen Leier, die sie von ihren Vorgängern übernommen hat.

Zhao Lijian ist als Politiker relativ jung, jedenfalls für chinesische Verhältnisse. Er feiert am 10. November seinen 50 Geburtstag. Er trat nach dem Abschluss an einer wenig bekannten Universität 1996 in den Dienst des Aussenministeriums der Volksrepublik China und leistete unter anderem in den USA und in Pakistan Dienst. Selbstverständlich ist er Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas. Sprich: er kennt die Volksrepublik China von innen und aussen.

Insbesondere in Washington fiel Zhao Lijian wenig auf. Eine Diplomat aus dem State Department, Daniel Markey, beschrieb im bereits erwähnten Feature im The New York Times Magazine eine Begegnung mit Zhao Lijian dahingehend, Zhao sei ein Typ mit Ecken und Kanten, aber auch höflich und sachkundig; andere fanden ein bisschen weniger höfliche Beschreibungen wie «arrogant», «unfreundlich», «stachelig» und «nationalistisch».

Zhao Lijian entdeckte sehr früh Twitter für sich, und wusste dies auch zu nutzen – indem er so ziemlich alle westlichen Politiker zu beleidigen wusste. Das ist nicht so ganz selbstverständlich. Erstens muss man dafür natürlich ein Account haben. Das in einem Land, welches für Normalsterbliche Twitter schon seit 2009 verbannt hat. Kein Problem für Zhao Lijian, der seit 2010 über ein Account verfügte, aber erst ab 2015 (als er nach Pakistan versetzt wurde) verwendete. Dann muss man provokative Tweets absetzen dürfen, in einem Land, das alles und jeden zensuriert (auch ausserhalb der Volksrepublik China) und die meisten, die etwas zu sagen hätten, lieber nicht Kopf und Kragen riskieren. Und na ja, dann braucht es noch diejenigen, welche die Twitternachrichten lesen, sei es regelmässig, oder ausnahmsweise einmal (wie ich).

Das ist aber noch längst nicht alles. Der Twitterschreiber Zhao Lijian muss in wenigen Worten oder Bildern eine Botschaft vermitteln, was mal besser gelingt und mal auch nicht. Und dann vielleicht die grösste Hürde: Der Leser, welche die Mitteilung liest, muss sich einen Reim darauf machen, was bedeutet, dass er die Kurznachricht in einen Kontext setzen muss.

Ich kann nicht garantieren, dass ich die Nachricht zur «Starry starry night in Beijing» von Zhao Lijian richtig verstehe. Ich kann noch nicht einmal garantieren, dass die Nachricht von Zhao Lijian stammt. Ich kann auch nur annehmen, dass der Schreibende über den Bildungshintergrund verfügt, den ich nachstehend unterstelle, der weit über den chinesischen Kulturkreis hinausreicht. Diesbezüglich ist natürlich überhaupt nicht auszuschliessen, dass Zhao Lijian so dumm und ungebildet ist, wie einige seiner Kritiker behaupten.

Erste Interpretation des Tweets: Der Blutmond

Das Video unter dem Titel «Starry starry night in Beijing» beginnt mit einem roten Mond, der über Beijing aufsteigt. Kennen wir doch von der letzten Mondfinsternis, also bedeutungslos? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Diverse Quellen berichteten, beim Mid-Autumn Festival vor einer Woche sei über Beijing ein roter Vollmond zu sehen gewesen – und zwar nicht wegen einer Mondfinsternis. Dies löste keinesfalls nur Begeisterung aus. Traditionell wird ein «Blutmond» in China mit Krieg und Tod verbunden, namentlich im Zusammenhang mit einem Militärcoup, bei dem viele Soldaten und Minister im Kampf sterben. Die Legenden, die sich um den Blutmond ranken, reichen weit in die Tang-Dynastie zurück.

Dass Zhao Lijian die Legenden um den Blutmond kennt, kann ohne weiteres vorausgesetzt werden. Ob er daran glaubt, oder die Legenden für Aberglauben hält, ist belanglos. Wenn er ein Bild von einem roten Mond veröffentlicht, kann darin eine Botschaft enthalten sein. Konkret: Warnt Zhao Lijian also vor einem Militärcoup, wenn er nicht nur die Sterne, sondern auch den roten Mond in seinem Film zeigt? Wir wissen es nicht, sowenig wie wir wissen, was sich hinter den Kulissen der Kommunistischen Partei abspielt.

Zweite Interpretation des Tweets: Das Lied «Starry, starry night»

Aber reicht der Bildungshorizont von Zhao Lijian möglicherweise nicht nur weit in die chinesische Geschichte zurück, sondern auch in die Gegenwart? Im Jahr 1972 stiess der Song «Vincent» des amerikanischen Singer-Songwriters Don McLean rund um die Welt an die Spitze der Charts vor. Zhao Lijian dürften die Worte dieses Liedes in seinem Geburtsjahr nicht gerade in die Wiege gelegt worden sein (China war damals mit der «Kulturrevolution» beschäftigt, in der gerade alles, was mit chinesischer Tradition und Kultur zu tun hatte, beseitigt wurde, nicht zu reden von der Kultur des amerikanischen Feinds). Das Lied «Vincent» ist auch nicht das Berühmteste von Don McLean (das wäre der Song «American Pie»). Und immerhin ist Don McLean gerade auf Welttournee – natürlich nicht in der Volksrepublik China.

«Starry, starry night», eigentlich «Vincent», ein Song Don McLean, der 1972 die Charts stürmte – im Geburtsjahr von Zhao Lijian.

Dass ihm der Song nicht gerade in die Wiege gelegt wurde, schliesst aber nicht aus, dass sich Zhao Lijian irgendwann mit diesem hochpoetischen und zugleich hochpolitischen Lied (die Interpretationen gehen hier sehr weit auseinander) auseinandergesetzt hat, der wie sein Tweet mit den Worten «Starry, starry night» beginnt:

Starry, starry night.
Paint your palette blue and grey,
Look out on a summer’s day,
With eyes that know the darkness in my soul.

Shadows on the hills,
Sketch the trees and the daffodils,
Catch the breeze and the winter chills,
In colors on the snowy linen land.

Now I understand
What you tried to say to me
How you suffered for your sanity
How you tried to set them free.

They would not listen
They did not know how
Perhaps they’ll listen now.

Starry, starry night.
Flaming flowers that brightly blaze,
Swirling clouds in violet haze,
Reflect in Vincent’s eyes of china blue.

Colors changing hue,
morning field of amber grain,
Weathered faces lined in pain,
Are soothed beneath the artist’s loving hand.

Now I understand
What you tried to say to me
How you suffered for your sanity
How you tried to set them free.

They would not listen
They did not know how
Perhaps they’ll listen now.

For they could not love you,
But still your love was true.

And when no hope was left in sight
On that starry, starry night,
You took your life, as lovers often do.

But I could have told you, Vincent,
This world was never meant for one
As beautiful as you.

Starry, starry night.
Portraits hung in empty halls,
Frameless head on nameless walls,
With eyes that watch the world and can’t forget.

Like the strangers that you’ve met,
The ragged men in the ragged clothes,
The silver thorn of bloody rose,
Lie crushed and broken on the virgin snow.

Now I think I know what you tried to say to me,
How you suffered for your sanity,
How you tried to set them free.

They would not listen, they’re not listening still.
Perhaps they never will…

– Don McLean, Vincent (1971)

Nur, wenn Zhao Lijian mit seiner Anspielung auf «Starry starry night» tatsächlich dieses Lied gemeint hat, wie interpretiert man das?

Eine auf Zhao Lijian persönlich Bezogene Interpretation

Eine Interpretation ist, dass der Tweet Hinweis auf eine persönliche Tragödie ist. Eines der wüsten Gerüchte, welche um Zhao Lijian gestreut wurde, ist, dass er an psychischen Problemen leide, namentlich an einer bipolaren Störung. Nun ist es ziemlich leicht, jemandem eine bipolare Störung anzudichten, speziell wenn diese Person dermassen im Licht der Weltöffentlichkeit steht, wie Zhao Lijian, der bei allem, was er sagt, von irgendeiner Seite kritisiert wird, nicht zuletzt in China. Tagtäglich kritische Fragen der westlichen Presse mit vorgegebenen Antworten kontern zu müssen, die ein halbwegs intelligenter Mensch als faktenwidrig erkennen muss: wer würde da nicht durchdrehen? Da ist es doch sehr einfach, nicht das irre System schuld zu geben, sondern auf die Person zu schiessen und ihr eine psychische Erkrankung anzudichten.

Eine bipolare Störung zu korrekt zu diagnostizieren ist dagegen sehr viel schwieriger. Und wenn sie wirklich vorliegen würde, dann wäre das auch nicht eine Sache für die Öffentlichkeit. Allerdings kann natürlich eine an die Öffentlichkeit getragene «Diagnose» unabhängig von der Berechtigung einen grossen Schaden anrichten. Bei Zhao Lijian genauso wie bei Vincent van Gogh, um den sich das Lied von Don MacLean dreht – vermutlich (wie gesagt, der Text ist interpretationsfähig). Van Gogh wurde entgegen seinem Willen ins Irrenhaus gesteckt, viele der Bilder, um die sich das Lied dreht, wurden während seinem Aufenthalt in der Irrenanstalt gemalt. Eine der vielen Diagnosen, die im Nachhinein gestellt wurden, ist übrigens, dass van Gogh an einer bipolaren Störung gelitten habe. Dass Zhao Lijian die Gerüchte um seine Krankheit ausgerechnet mit einer Allusion auf van Gogh kontert, um den ähnliche Gerüchte kursierten, wäre zwar ungewöhnlich – aber möglicherweise äusserst clever.

Spricht das Lied für Zhao Lijian der die glitzernden Sterne im Nachthimmel «With eyes that know the darkness in my soul» betrachtet? Ist Zhao Lijian in einem irren System gefangen, das droht, ihn um den Verstand zu bringen und leidet er, um seine psychische Balance zu bewahren: «How you suffered for your sanity», wie das Lied sagt?

Spricht er als Sprecher des Aussenministeriums, auf den niemanden hören wollte, der was immer und wie immer er es sagte, ins Lächerliche gezogen wurde, wie im Lied, «They would not listen They did not know how»? Ist es ein radikaler Versuch von der Wolf-Warrior-Sprache abzurücken, nachdem sie von anderen Diplomaten kopiert wurde? Ein Versuch mit friedlichen Bilder zu erreichen, dass man auf ihn, Zhao Lijian hört, und das, was er zweifellos persönlich (und nicht als Sprachrohr eines namenlosen Apparatschiks, der über ihm steht) zu sagen hat? Ein letzter Versuch also, sich Gehör zu verschaffen, «Perhaps they’ll listen now»?

Und tut er das, weil er für sein Land das er liebt, gekämpft hat – «But still your love was true»? Musste er feststellen, dass nicht nur die ausländischen Medien ihm nur Verachtung entgegenbrachten, «For they could not love you», sondern ihm auch seine Landsleute in den Rücken fielen und seinen Einsatz mit Undank belohnten, als sie ihn in den täglichen Medienkonferenzen von heute auf morgen ersetzten?

Diese Hypothese einer auf Zhao Lijian persönlich bezogenen Interpretation ist zugegebenermassen ziemlich weit hergeholt. Wenn dem so wäre, hätte das Land in Zhao Lijian einen Politiker, dem entgegen seiner fulminanten Rhetorik eine gewisse Einsichtsfähigkeit und ein breiter Horizont zu attestieren wäre. Ob ein Politiker in einem System wie der Volksrepublik China gefahrlos eine solche 180°-Wende absolvieren kann, ist eine andere Frage.

Eine auf die Volksrepublik China bezogene Interpretation

Eine mögliche Interpretation ist, dass sich die vermutete Bezugnahme auf das Lied Vincent nicht auf Zhao Lijian persönlich bezieht, sondern auf das Land, dessen Sprecher er immer noch offiziell ist, auch wenn er in den letzten Wochen nicht mehr zum Zug gekommen ist.

Für jemanden, der lange Jahre im Ausland verbracht hat, der Zugang zu ausländischen Medien hat und sieht, wie sich die Welt dort weiterbewegt, während die Volksrepublik China in weiten Teilen des Landes stillsteht, muss es eine Tortur sein, «With eyes that watch the world and can’t forget» daneben zu stehen und nichts tun zu können.

Während rund um die Welt die Masken gefallen sind, die Leute selbst entscheiden können, ob sie sich zum viertel Mal gegen Covid «boostern» lassen oder nicht, die Grenzen (fast) überall geöffnet sind, die Leute Party feiern, ihren Geschäften nachgehen, reisen usw. geht völlig vergessen, welches Leid die Zero-Covid-Policy über die Volksrepublik China gebracht hat.

Gefangen in einem irren System? Das Bild «Prisoners’ Round» von Vincent van Gogh. (Bild: Vincent van Gogh, Public domain, via Wikimedia Commons)

Momentan sollen etwa 300 Millionen Menschen in irgendeiner Form der Gefangenschaft leben, wenn nicht mehr, wenn man neben der Internierung und Hausarrest auch die digitale Überwachung mitzählt. Hunderte von Millionen von Menschen verbringen ihren Alltag damit, irgendwo Schlange zu stehen: für den Covid-Test, um Lebensmittel zu ergattern, vor der Bank. Millionen von Menschen, die bei der Arbeit, im Studium im Park oder sonstwo sein könnten, wenn sie die Freiheit dazu hätten.

Kämpft Zhao Lijian dafür, diesen Menschen die Freiheit wiederzugeben: How you tried to set them free? Die wenigen Bilder, die derzeit aus China über schwer überprüfbare Kanäle nach aussen dringen, lassen Schreckliches vermuten. Wenn es schon für Aussenstehende schwer ist, diese Bilder mitanzusehen, wie ist es denn für jemanden, der in diesem menschenfeindlichen System leben muss und zur Untätigkeit verurteilt ist? Wie Laowhy86, ein Kommentator auf Youtube sagt: «Es ist Irrsinn. Menschen wurden tatsächlich auf einen QR-Code reduziert.»

«It’s insane. People have been actually reduced to QR-codes.»

Die Dritte Interpretation: Tsai Ing-wen und das Kinderbuch «Zusammen die Sterne schauen»

Als ob zwei Interpretationen des Tweets von Zhao Lijian nicht genügen würden, gibt es noch eine dritte Variante: Der Tweet könnte eine Reaktion auf ein Video sein, dass die Präsidentin der Republik China kürzlich auf Youtube veröffentlicht hat.

Das Video zeigt Präsidentin Tsai Ing-wen bei einer Wahlkampfveranstaltung ihrer Partei (im November sind wichtige Wahlen in Taiwan), in der sie den künftigen Wählern im Kindergartenalter die Idee der Demokratie näherbringt, und das erst noch dreisprachig (Englisch, taiwanesisch und chinesisch). Die Veranstaltung dreht sich um ein Bilderbuch mit dem Titel 一起看星星 «Zusammen die Sterne schauen», welches von der Partei von Präsident Tsai Ing-wen (der 民主進步黨 Democratic Progressive Party, DPP) in Auftrag gegeben wurde.

Die Geschichte dreht sich um einen Krokodilkönig, der es sich gutgehen lässt und verlangt, dass alle um sieben Uhr ins Bett gehen und das Licht löschen, damit er die Sterne besser sehen kann. Sein Volk protestiert: «Wie kann es sein, dass ein Mensch allein bestimmen kann, was zählt?» (怎麼可以一個人說了算). Sie gehen auf die Strasse: «Wir wollen Gleichheit!» (要公平). Schliesslich setzen sie sich an einen Tisch und regeln die Differenzen demokratisch. Es folgt das übliche Happy End: Und sie diskutierten oft zusammen ihre Angelegenheiten, so dass jeder der seine Ansicht äussern will, seine Meinung zum Ausdruck bringen kann (以後大家就常常一起討論事情因為有意見都可以表達).

Nun gibt es laut Zhao Lijun natürlich in Taiwan keine Republik China und auch keine Präsidentin, also hätte er die Wahlkampfveranstaltung von Präsidentin Tsai Ing-wen natürlich einfach ignorieren können. Nur: kann er das? Immerhin hat Zhao Lijian offensichtlich das Bedürfnis, jedes noch so unwichtige politische Ereignis irgendwo auf der Welt zu kommentieren.

Wenn er dieses Bedürfnis auch bei Tsai Ing-wen verspürte, dann stand er vor einem Problem: Wie kontert man eine Präsidentin, die mit viel Charme eine subversive Meinung verbreitet? Und das bei Kindern, die schon in wenig mehr als zehn Jahren an die Urnen gerufen werden (das Stimmrechtsalter in Taiwan soll auf 18 Jahre gesenkt werden)! Wie sollen denn die gewaltsamen Umerziehungsversuche der Regierung der Volksrepublik China, wie sie von deren diplomatischen Vertretern in Frankreich und Australien allen Ernstes propagiert wurden, mit solchermassen von demokratischen Ideen infizierten Kindern funktionieren?

Präsident Xi Jinping dürfte sich wohl kaum als Kindergärtner hergeben, schon gar nicht, auf sagen wir, Russisch, Kantonesisch und Chinesisch. Also bleibt neben Gehirnwäsche wirklich nur noch ein bisschen Sternenhimmel über Beijing mit ein bisschen Klaviergeklimper, wenn man Präsidentin Tsai Ing-wen etwas entgegenhalten will.

Im Grunde genommen ist diese dritte Interpretation auch nicht weniger beunruhigend als die mögliche Bezugnahme auf den Blutmond und die Interpretation unter der Berücksichtigung des Lieds «Vincent». Der Aufruf zur Debatte wird mit einem «Silent Treatment» gekontert, nicht gerade das Mittel, um die Spannungen links und rechts der Taiwanstrasse zu lösen.

Bleibt also nur noch die Hoffnung, dass sich Zhao Lijian bei seinem Tweet schlicht gar nichts gedacht hat und er mit seiner Bezugnahme auf die «Starry starry night» gar nichts sagen wollte. Und wenn da jemand sein Englisch kritisiert (würde ein «starry» nicht genügen?), kann er sich immer noch an das Video der Präsidentin der Republik China halten, wo eine Kindergartenschülerin auf die Frage, ob sie den taiwanesischen Schwarzbären auch auf englisch benennen könne, selbstbewusst verkündet: «Nein, aber ich kann Chinesisch.» (不會,可是我會中文). Wenn Zhao Lijian allerdings tatsächlich nichts zu sagen hat, täte er das vielleicht besser auf WeChat statt auf Twitter.


Die Autorin, Dr. iur. Maja Blumer, Rechtsanwältin, LL.M., hat nach ihrem Studium in der Schweiz an der Tsinghua University in Beijing einen Masterabschluss im chinesischen Recht erworben und zusätzlich an der Beijing Language and Culture University sowie an der National Chengchi University in Taipei Chinesisch studiert.