Am 29. Mai 2024 hat Nationalrat Andreas Meier die Frage in den Raum geworfen, ob ein Forschungsabkommen mit Taiwan für die Schweiz wünschbar wäre, insbesondere um bezüglich künstlicher Intelligenz, Robotik und Cybersicherheit am Ball zu bleiben. Ein entsprechendes Abkommen wäre ein konkreter Schritt, die Zusammenarbeit mit Taiwan auf den Gebieten der Wissenschaft, Technologie und Kultur zu verstärken, wie der Nationalrat mit der Annahme der Motion Atici im Februar 2024 gefordert hat. Neben einem Abkommen gäbe es noch andere Möglichkeiten.
von Maja Blumer, 6. Juni 2024
Am 28. Februar 2024 hat der Nationalrat die Motion Atici (22.3713) angenommen, die auf Massnahmen zielt, welche «die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft, Technologie und Kultur mit Taiwan festigen und vertiefen». Das Thema wurde in den Medien totgeschwiegen. Drei Monate später hat Nationalrat Andreas Meier (Die Mitte) mit einer Interpellation (24.3501) nachgedoppelt und die Frage in den Raum gestellt: Ist ein Forschungsabkommen mit Taiwan ein Desiderat für Bildung und Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz im Halbleitersektor?
Dass Andreas Meier in die gleiche Kerbe haut, wie die Mehrheit des Nationalrats im Februar, dürfte politisches Kalkül sein. Damals haben die Politiker der SP, der Grünen und der Grünliberalen geschlossen für die Motion Atici gestimmt, die Mitte grossmehrheitlich (22 Jastimmen, 8 Enthaltungen). Die FDP hat geschlossen dagegen gestimmt, bei einer Enthaltung (Christian Wasserfallen), die SVP grösstenteils (63 Nein-Stimmen, 3 Ja-Stimmen, darunter diejenige des taiwanesischen quasi-Botschafters Lukas Reimann). Wenn die Motion Atici im Ständerat eine Chance haben soll, wären einige Stimmen von der FDP und allenfalls auch der SVP durchaus nützlich.
Nun, was sind die Argumente, die Nationalrat Andreas Meier vorbringt, die allenfalls weitere FDP- und SVP-Mitglieder zum Umdenken hinsichtlich der Zusammenarbeit mit Taiwan bringen könnte? Insbesondere bei der FDP kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine gewisse «Sozialkontrolle» im Spiel war, zumal bei Abstimmungen, anders als bei Wahlen, kein Wahlgeheimnis gilt. Es dürfte aber manchem liberalen und wirtschaftsfreundlichen Politiker schwerfallen, sich selbst und gegenüber seiner Wählerschaft Rechenschaft darüber abzulegen, weshalb er in Kooperation mit der von einer liberalen Schwesterpartei1 dominierten Regierung kategorisch ablehnt. Die Begründung der Interpellation (24.3501) Meier im Originalwortlaut:
Ein Forschungsabkommen zwischen der Schweiz und Taiwan gibt es bis jetzt nicht. Taiwan produziert fast 60% aller weltweit verkauften Computerchips und 90% der modernsten Mikrochips. Ein Grossteil davon wird in der weltweit größten Halbleiter-Fabrik ‘Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC)’ hergestellt. Es wird erwartet, dass damit der Umsatz auf über eine Billion Dollar im Jahr 2030 steigt. Die globale Lieferkette ist jedoch durch die Spannungen mit China bedroht. Eine mögliche Invasion Chinas in Taiwan würde eine verheerende Chip-Knappheit im Westen zur Folge haben. Die EU und die USA entwickeln bereits Alternativpläne. TSMC hat den Bau eines zweiten Werks in Arizona angekündigt, und Deutschland verhandelt über den Bau einer Chipfabrik in Europa.
Die Schweiz hat bisher keine Strategie entwickelt, um ihre Beziehungen zu Taiwan zu stärken, obwohl sie während der Pandemie stark unter der Chip-Knappheit litt. Professor Chih-Jen Shih von der ETH Zürich betont, dass ein Abkommen zwischen der Schweiz und Taiwan die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz im Halbleitersektor erhöhen würde. Schweizer Studierende hätten Zugang zu modernsten Technologien in Bereichen wie künstliche Intelligenz, Robotik und Cybersicherheit. TSMC hat kürzlich ein Forschungsprogramm gestartet, an dem keine Schweizer Institute beteiligt sind. Durch die Teilnahme an solchen Programmen könnten Schweizer Studierende Zugang zur Technologie der Zukunft erhalten.
Die Zahlen sprechen für sich, die Argumente sind allerdings meines Erachtens nicht alle gleich stichaltig.
Eine Invasion der Volksrepublik China in Taiwan würde sehr wahrscheinlich zur entsetzlichsten «Business Disruption» führen, welche die Welt jemand gesehen hat. Dies nicht nur wegen der Microchips (die Maschinen würden aller Wahrscheinlichkeit nach stillgelegt) sondern auch aufgrund der maritimen Knotenpunkte (Maritime Choke Points) in der Region, die den Welthandel lahmlegen würden sowie der Ausdehnung des Konflikts auf andere Länder der «First Island Chain».
Dieser Gefahr mit einem Abkommen zu begegnen, mit dem die taiwanesischen Spitzenforscher in die Schweiz gelockt würden und mit dem Mittels Technologietransfer aus Taiwan Produktionsstätten in der Schweiz errichtet würden, ist nicht gerade zielführend. Ein solches Abkommen würde Taiwan nicht nur seines «Silicon Shield» berauben, welches ein Grund unter vielen ist, weshalb die Republik China auch 75 Jahre, nachdem sie von der Schweiz totgesagt wurde, immer noch floriert. Ein Abkommen wäre ausserdem geradezu eine Einladung an diverse Länder, noch verstärkt in der Schweiz zu spionieren (wenn eine Steigerung überhaupt noch möglich ist), um an die begehrten Halbleitertechnologien heranzukommen. Das war schon im Kalten Krieg ein Thema, auch wenn es den USA und ihren Verbündeten gelang, der Sowjetunion immer eine Nasenlänge voran zu sein.
Wenn man den geopolitischen Kontext und die Interessenlage Taiwans ausblendet, dürfte der Nutzen eines Forschungsabkommens mit Taiwan für die Schweiz, um an die begehrten Spitzentechnologien heranzukommen, unbestritten sein.
Es gibt durchaus auch Präzedenzfälle für die Idee. Dass der Bundesrat nicht auf die Idee gekommen ist, dass man sich neben etwas aus der Mode gekommenen Freihandels- und Investitionsschutzabkommen auch über die Rahmenbedingungen für den Austausch bezüglich Spitzentechnologie mit Taiwan Gedanken machen könnte (vgl. Bericht vom 29. April 2023 als Reaktion auf das Postulat 21.3967 «Verbesserung der Beziehungen mit Taiwan»), ist umso peinlicher, als die damalige taiwanesische quasi-Botschafterin in den USA, Hsiao Bi-khim, namens der Republik China bereits 2020 ein Forschungs- und Technologieabkommen mit den USA unterzeichnet hat, die entsprechende Kooperation soll noch vertieft werden.
Ein seit 31. Januar 1979 zwischen den USA und der Volksrepublik China bestehendes Abkommen – das «United States of America and the Government of the People’s Republic of China on Cooperation in Science and Technology (‘‘CST Agreement’’)» – ist dagegen nach mehrfacher Verlängerung im Februar 2024 ausgelaufen und nur noch für ein weiteres halbes Jahr verlängert worden. Der U.S. Kongress wird hier in Zukunft wohl ein Wörtchen mitreden wollen.
Auch in Europa hat Taiwan inzwischen viele Verbündete sowohl auf wirtschaftlicher wie auch politischer Ebene, auch wenn die Mühlen der Gesetzgebung hier ein wenig langsamer mahlen. Ein wichtiger Partner von TSMC ist beispielsweise ASML im holländischen Eindhoven.
Man muss sich also nicht wundern, wenn die Schweiz bei wichtigen Forschungsprojekten wie denjenigen von TSMC nicht dabei ist und sich diese in den USA konzentrieren, wo ein entsprechendes Abkommen zwischen den beiden Ländern besteht.
Nationalrat Andreas Maier dürfte unter den vielen Forschungskooperationen von TSMC u.a. die Kooperation des Freistaats Sachsen mit der TU Dresden und TSMC im vergangenen Jahr ins Auge gestochen sein, die es pro Jahr bis zu 100 «leistungsstarken» Studierenden der TU Dresden erlaubt, an der renommierten National Taiwan University in Taipei ein Austauschsemester und anschliessend ein zweimonatiges Praktikum bei TSMC in Taichung zu absolvieren. Im April 2024 folgten weitere Abkommen zur Forschungszusammenarbeit zwischen der TU Dresden und taiwanesischen Universitäten. Die Abkommen hängen natürlich mit dem Bau des europäischen Werks von TSMC in Dresden, welcher im vierten Quartal 2024 beginnen soll, zusammen. Bei diesem Projekt wird die Schweiz wohl buchstäblich höchstens am Rande eine eine Rolle spielen. Das ist bei einem Investitionsvolumen von USD 11 Milliarden nicht unwichtig (etwa gleich viel, wie man bei Nordstream 2 abschreiben musste).
Die Studenten der TU Dresden folgen damit den Spuren der taiwanesischen Pioniere der Halbleiterindustrie, deren Erfolg unter anderem auf erfolgreiche Verhandlungen über ein Technologietransfer zurückzuführen ist, der es taiwanesischen Forschern erlaubte, bei der amerikanischen Firma RCA während 6 bis 12 Monaten praktische Erfahrungen zu sammeln. Die Mitarbeiter von RCA sollen sich als talentierte Lehrmeister erwiesen haben, indem sie jedem Taiwaner als «jüngerer Bruder» einen «älteren Bruder» beiseitestellten, der vormachte, wie es geht. Ob die Taiwaner die Regel von RCA übernommen haben, dass es drei Leute brauche, um eine Glühbirne zu wechseln (einer, um die Leiter zu halten, einer um die Glühbirne zu ersetzen und einer für die Überwachung) werden die Studierenden der TU Dresden wohl selber in Erfahrung bringen können – falls es in Taichung noch Glühbirnen gibt.
Die Schweizer Universitäten und Fachhochschulen können ihren Studierenden die Möglichkeit, solche und andere praktischen Erfahrungen zu machen, wohl kaum bieten. Das kann auch für die Schweiz längerfristig sehr nachteilig sein, wie man an der Geschichte der Sowjetunion sieht, die mit enormem Mitteleinsatz das Rennen um die Führung bei der Entwicklung von Computern verlor, nicht zuletzt deshalb, weil die internationale Vernetzung und Kommunikation fehlte.
Zutreffend ist meines Erachtens die Beobachtung, das die Schweiz bislang keine Strategie entwickelt hat, um die Beziehungen zu Taiwan zu stärken – im Gegenteil. Das gilt gerade auch für den Bereich Forschung und Technologie. Der Bericht des Bundesrates, der im April 2023 endlich veröffentlicht wurde, der sich zu den Möglichkeiten zur Verbesserung der Beziehungen zu Taiwan hätte äussern sollen, dürfte ein Schlag ins Gesicht aller sein, die sich für dieses Ziel einsetzen. Die Zahlen in diesem Bericht sprechen insbesondere bezüglich der Forschungszusammenarbeit für sich (S. 7 f.): Der SNF bewilligte zwischen Januar 2016 und Juni 2022 gerade einmal 12 Anträge für die Forschungszusammenarbeit mit bzw. Forschungen in Taiwan. Das «Leading House Asia» der ETH hat 0 von 6 Anträgen gutgeheissen. Für «Exzellenz-Stipendien» bewirbt sich jedes Jahr ein Taiwaner (sic!) – aus dem Stillschweigen des Bundesrates kann geschlossen werden, dass noch keiner Erfolg hatte.
Zum Vergleich: für das vorerwähnte Austauschsemester in Taiwan haben sich im November 2023 über 100 Studierende der TU Dresden beworben, 30 davon haben im März 2024 in Taiwan ihr Studium angefangen – ein halbes Jahr nach der Unterzeichnung des Abkommens. «說到做到» sagt man auf Chinesisch dazu – «gesagt, getan».
Wenn der Bundesrat alles privaten Initiativen überlassen will, stellt sich die Frage, wieso man von diesen privaten Initiativen so wenig merkt. Und wieso andere Länder sich die Mühe machen, mit der Republik China Abkommen abzuschliessen. Natürlich kann jeder sich selber in Taiwan einen Studienplatz suchen und aus der eigenen Tasche bezahlen (wie ich), oder eine bezahlte Stelle finden und versuchen, ein entsprechendes Visum zu erhalten (die Hürden für die Taiwan Gold Card sind recht hoch). Nur, wie viele tun das wirklich? Könnte es sein, dass die geeigneten Personen angesichts der gegen Null Prozent tendierenden Chance, z.B. beim SNF oder dem «Leading House Asia» in der Schweiz mit einem Taiwan-bezogenen Forschungsprojekt durchzudringen, sich lieber gleich von vornherein anderweitig orientieren?
Die Interpellation von Andreas Maier liefert insbesondere den liberalen und wirtschaftsfreundlichen Mitgliedern der FDP einen Steilpass, um ihre Position hinsichtlich der Motion Atici zu überdenken. Es kann ja wohl nicht die Idee sein, dass man schweizerischen Forschern und Unternehmen in der Schweiz als Industrie- und Forschungsstandort den Zugang zu Schlüsseltechnologien abwürgt, indem man jegliche offizielle Kooperation mit Taiwan verbietet, wie das dem Bundesrat und insbesondere Aussenminister Cassis offenbar vorschwebt (vgl. Bericht vom 29. April 2023 als Reaktion auf das Postulat 21.3967 «Verbesserung der Beziehungen mit Taiwan»).
Auch die SVP wird sich überlegen müssen, was denn «Neutralität» konkret heisst, dies umso mehr, als sich diverse Parteimitglieder in aussenpolitischer Hinsicht ziemlich exponiert haben.
Wo aber könnte man ansetzen, wenn man die Beziehungen zu Taiwan verbessern oder gar ein Forschungsabkommen mit der Republik China abschliessen will? Man könnte sagen, «Taiwan macht’s vor»:
- Working Holiday Scheme: Taiwan hat mit insgesamt 17 Ländern Abkommen abgeschlossen, die es Jugendlichen erlauben, während einer beschränkten Zeit in Taiwan zu reisen und sich dort den Lebensunterhalt zu verdienen. Davon profitieren Jugendliche aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Grossbritannien, Polen, Tschechien, Japan, Korea, Australien usw. Die Schweizer Jugend hat das Nachsehen. Der Schweizer Regierung steht es frei, mit derjenigen Taiwans ein ähnliches Abkommen auszuhandeln.
- Stipendien: Das vorgenannte Beispiel der TU Dresden ist nur eines von vielen. Auch fast alle Schweizer Unis haben Abkommen mit taiwanesischen Universitäten. Trotzdem sieht man in Taiwan nur wenige Studierende und noch weniger Forschende aus der Schweiz. Ein Grund könnte sein, dass die meisten blosse Rahmenabkommen auf gesamtuniversitärer Ebene und entsprechend allgemein gehalten sind; zudem sind Stipendien die Ausnahme (z.B. bei der NTU in 1 von 11 Vereinbarungen) und Praktika in der Regel ausgeschlossen.
- Spionageabwehr: Die Bereiche künstliche Intelligenz, Robotik und Cybersicherheit, an denen man in der Schweiz Interesse signalisiert, sind eines der vielen Ziele der Spionage unter anderem der Volksrepublik China. In diesem Bereich ist Taiwan genauso oder noch viel mehr exponiert als die Schweiz (und insbesondere Schweizer Parlamentarier). Im Gegensatz zur Schweiz gilt Taiwan bezüglich der Nationalen Sicherheit als gut aufgestellt, während die Schweiz als Plattform für Europa- wenn nicht weltweite Spionage gilt und zur «Koalition der Unwilligen» zählt, was die Spionageabwehr betrifft. Unzufriedene Mitarbeiter des Nachrichtendienstes des Bundes gelten inzwischen als Sicherheitsrisiko für die Schweiz und alle hier tätigen in- und ausländischen Unternehmen. Hier muss die Schweiz ihre Hausaufgaben machen, bevor mit Taiwan überhaupt über einen Technologietransfer gesprochen werden kann. Oder noch besser, man könnte von Taiwan lernen, wenn man bereit wäre, mit den entsprechenden Regierungsmitgliedern (insbesondere dem ehemaligen taiwanesischen Aussenminister Joseph Wu) zu sprechen. Spionageabwehr ist eine gemeinsame Aufgabe von allen, die nicht einfach der privaten Initiative überlassen werden kann. Auch das Parlament hat Möglichkeiten, etwas gegen die in der Schweiz grassierende Spionage zu unternehmen.
- Investitionskontrollen: Im Gegensatz zu allen umliegenden Ländern und Taiwan hat die Schweiz ihre Hausaufgaben bezüglich Investitionskontrollen immer noch nicht gemacht. Das kann auch eine Gefahr für taiwanesische Firmen sein, welche sich in der Schweiz niederlassen wollen. Der Ball liegt nun, nachdem der Bundesrat nach langem einen Entwurf vorgelegt hat, beim Parlament, das sicherstellen muss, das die Investitionskontrollen den heutigen Bedürfnissen entsprechen.
- Investitionsschutz: Insbesondere die Halbleiterindustrie setzt neben wertvollem Know-how auch erhebliche Sachinvestitionen in die Anlagen voraus. Wenn taiwanesische Unternehmen in der Schweiz investieren sollen, muss sichergestellt sein, dass Taiwan vor Enteignungen geschützt ist. Im Gegensatz zu 27 anderen Ländern, die mit der Republik China ein entsprechendes Abkommen abgeschlossen haben, besteht kein bilaterales Investitionsschutzabkommen zwischen Taiwan und der Schweiz. Der Bundesrat lehnt in seinem bereits erwähnten Bericht ein solches Abkommen explizit ab, ohne die Gründe dafür zu erörtern. Es ist am Parlament, diesbezüglich die Initiative zu ergreifen.
- Rechtssicherheit hinsichtlich der Vertragsparteien: Ein Vertrag, der nach Vorstellung des Parlaments zwischen der «Délégation de Taïwan, République de Chine» (ehem. Taipei Cultural and Economic Delegation in Switzerland) und dem TOSI (Trade Office of Swiss Industries, Taipei) abgeschlossen würde, wäre ein juristisches Monstrum sondergleichen. Wie dem Nationalrat und mindestens Bundesrat Cassis hinlänglich bekannt ist, ist die Délégation de Taïwan […] als Verein unter schweizerischem Recht organisiert. Der Vorstand besteht aus zwei Schweizern und aus zwei professionellen taiwanesischen Botschaftern, wobei letztere unter der Tutel der Schweizer stehen. Ohne Mitwirkung des Schweizer Präsidenten oder des Schweizer Sekretärs kann der Verein «Délégation de Taiwan» keinen Vertrag unterzeichnen. Da man bei den beiden Schweizern nie genau wissen kann, wessen Interessen sie denn nun gerade vertreten – die Mehrheitsmeinung ihrer politischen Partei, die Meinung des Parlaments, diejenige der Regierung oder vielleicht doch auch ein bisschen diejenigen Taiwans, sind «Willensmängel» bei der Ausarbeitung des Vertrages vorprogrammiert. Taiwan kann sich entweder dem – privaten – Willen der Schweizer Vorstandsmitglieder beugen, oder muss ganz auf einen Vertrag verzichten. Die Lösung liegt auf der Hand: Die Schweiz hat sich bezüglich des 1918 mit der Republik China geschlossenen «Freundschaftsvertrags» zu entscheiden: Entweder die Schweiz hält sich an ihre vertraglichen Pflichten und räumt den von der Regierung der Republik China entsandten Botschaftern die gleichen Rechte ein, wie allen anderen Botschaftern (Meistbegünstigung). Oder das Schweizer Parlament kündigt den «Freundschaftsvertrag» mit der Republik China. Auf das Risiko hin, dass die taiwanesische Regierung die beiden hochqualifizierten Botschafter in der Schweiz in freundlicher gesinnten Ländern einsetzt und die taiwanesische Bevölkerung – Unternehmer, Touristen, Forscher, Studenten etc. – einen weiten Bogen um die Schweiz machen. National- und Ständerat haben dies in der Hand. Die Räte haben den «Freundschaftsvertrag» mit der Republik China seinerzeit genehmigt, der Vertrag ist nach wie vor gültig und National- und Ständerat (und nicht der Bundesrat) sind für die Aufhebung zuständig.
- Professionalisierung der aussenpolitischen Vertretung: Bundesrätin Doris Leuthard hat 2007 zu Beginn der Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China verkündet, auf chinesischer Seite habe man die Befürchtung, «China sei zu unerfahren und die Schweiz viel zu clever». Seit 10 Jahren versucht man nun die Patzer der «cleveren» Schweizer Diplomaten auszubügeln. Bevor man erfahrenen und cleveren taiwanesischen Diplomaten gegenübertritt (etwa der Vertragsrechtsspezialistin Tsai Ing-wen oder die bereits erwähnte Hsiao Bi-khim), stellt man besser erst einmal sicher, das man auf Schweizer Seite das nötige Personal hat. Das Parlament ist hier am Zug, spätestens wenn der Bundesrat den per Ende Juni versprochenen Bericht zur Motion 21.3592 («Whole of Switzerland») bzw. im Dezember denjenigen zum Postulat 22.3751 («Personalstrategie im Aussendepartement») vorlegt.
Nach dem Gesagten gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten, die Beziehungen zu Taiwan zu verbessern. Allerdings darf nicht vergessen gehen, dass zur Verbesserung der Beziehungen zu Taiwan zwei Länder gehören. Die Schweiz hat die einseitigen Bemühungen der Republik China inzwischen 75 Jahre lang ignoriert. Insbesondere hat Taiwan seit 45 Jahren eine quasi-Botschaft in der Schweiz unterhalten, obwohl die Schweiz die professionellen Vertreter der taiwanesischen Regierung ignoriert. Wie ein Forschungsabkommen, in dem heikle Fragen zu klären sind (Zugang zu Technologien, Finanzierung, Sicherheit), bei denen die Regierung der Republik China ein Wörtchen mitzureden hat, ohne dass man mit den von dieser Regierungen ernannten Botschaftern in Kontakt tritt, ist ein Rätsel.
Andere Länder, darunter viele europäische Länder und die USA sind aktiv auf Taiwan zugegangen und ernten nun die Früchte ihrer Bemühungen.
Insbesondere das EU-Parlament zeigt mit seiner Resolution vom 13. Dezember 2023 grosse Geschlossenheit hinsichtlich seinem Willen, mit Taiwan ein umfassendes Investitions- und Freihandelsabkommen abzuschliessen. Sorgen bereiten hier die Sektoren Offshore-Windproduktion und Landwirtschaft.
Die USA sind schon einen Schritt weiter. Am 7. August 2023 unterzeichnete US Präsident Biden den «21st-Century Trade First Agreement Implementation Act», welches das erste zwischen Taiwan und den USA abgeschlossene Wirtschaftsabkommen beinhaltet, welches innert wenigen Wochen den Kongress passierte. Inzwischen ist das zweite Abkommen in Verhandlung, welches die heiklen Themen Landwirtschaft, Umwelt und Arbeit umfasst. Wie weit entfernt bzw. wie nahe die Parteien an einem zweiten Abkommen sind, lässt sich momentan nicht sagen. Sollten die sich in diesen Gebieten stellenden Klippen erfolgreich umschifft werden, stünden für weitere Abkommen noch die Themen Digitaler Handel, Standards, Staatsunternehmen und «non-market policies and practices» zur Debatte.
Dass die Republik China rund um die Welt Abkommen schliesst – von Forschungszusammenarbeit bis zu modernen Wirtschaftsabkommen – macht es erforderlich, dass das Schweizer Parlament mit klaren, konkreten Vorschlägen auf Taiwan zugeht, wenn es die Beziehungen zu Taiwan verbessern will. Taiwan dürfte kaum Zeit haben, sich an sich im Kreis drehenden Diskussionen zu beteiligen. Der Vorstoss von Nationalrat Andreas Meier ist immerhin ein solcher konkreter Vorschlag. Andere konkrete Vorschläge, wie die obigen, können ebenfalls näher ans Ziel führen. Jedenfalls aber gelten die Worte der EU-Parlamentarierin Marie-Pierre Vedrenne im Rahmen der Diskussion im EU-Parlement über das angestrebte Wirtschaftsabkommen zwischen der EU und Taiwan vom 12. Dezember 2023 auch für die Schweiz:
Les relations de demain se construisent aujourd’hui.
- Sowohl die taiwanesische DPP wie auch die Schweizerische FDP gehören der «Liberalen Internationale» an, dem 1947 gegründeten Weltverband der liberalen Parteien mit Sitz in London. ↩︎