Wieso sich Xi Jinping vor einem Buch über die Ming-Dynastie fürchten muss

Zensur ist in China inzwischen derart alltäglich geworden, dass es Aufsehen erregt, wenn die Financial Times auf ihrer Titelseite von einem solchen Zensurversuch berichtet, zumal es sich um ein Buch über den letzten Kaiser der Ming-Dynastie (1368-1644) handelt, das bereits 2016 erschienen ist und neu aufgelegt wurde. Tatsächlich spricht die Zensur Bände.

von Maja Blumer, 14. Dezember 2023

In der Ausgabe vom 21./22. Oktober 2023 berichtete die Financial Times auf der Titelseite unter der Schlagzeile «Tale of emperor whose ineptitude ended his dynasty unnerves Chinese censors» darüber, wie in der Volksrepublik China die Neuauflage des Buches «Chongzhen: the Diligent Emperor of a Failed Dynasty» wenige Wochen nach deren Erscheinen aus den Buchläden verbannt wurde. Im fraglichen Buch geht es offenbar um den letzten Kaiser der Ming-Dynastie, welcher sich 1644 das Leben genommen haben soll.

Auf den ersten Blick macht das den Eindruck einer kopflosen Reaktion. Erstens ist in China wie anderswo der Kreis der Leser, welche sich für die historischen Ereignisse im 17. Jahrhundert interessieren, doch recht beschränkt. Noch beschränkter ist die Zahl der Leser, welche über genügend Hintergrundwissen verfügen, um in der Vergangenheit Parallelen zur Gegenwart zu sehen. Und drittens zieht die Zensur erst recht die Aufmerksamkeit auf das Buch – nicht nur in China, wo an jeder Ecke Raubkopien zensurierter Bücher zu haben sind.

Dass Parallelen zwischen Xi Jinping und Chongzhen bestehen, fällt dem geschichtsinteressierten westlichen Betrachter sofort ins Auge. Chongzhen (geb. 1611), der letzte Kaiser der Ming-Dynastie hatte 1627 von seinem verstorbenen Bruder ein Reich übernommen, welches bereits arg in Schieflage war. Es scheint, als hätte er sein Bestes versucht, um die korrupte und übermächtige Bürokratie unter Kontrolle zu bringen und das Militär bei Stange zu halten –die Mandarine und Generäle waren mehr mit internen Machtkämpfen beschäftigt waren als mit irgendetwas sonst. Die Staatskasse war aber bereits vorher geplündert worden, so dass Chongzhen noch mehr Steuern erheben und noch mehr Soldaten zwangsrekrutieren musste, um zu verhindern, dass noch mehr Generäle zum Feind überliefen und die Rebellionen im ganzen Land unter Kontrolle zu halten.

Hinzu kamen Klimaveränderungen (eine jahrzehntelange Kälteperiode), Heuschreckenschwärme, Überschwemmungen und Dürren, welche die Rebellionen und die ethnischen Konflikte im von den Han-Chinesen dominierten Reich der Ming-Dynastie noch mehr anheizten.Chongzhen’s Leben nahm ein dramatisches Ende. Als Rebellen und die Jurchen (Manchus) in Beijing näher rückten, sekundiert durch übergelaufene Generäle der Ming und alimentiert durch den ehemaligen Bündnispartner Joseon (Korea), berief Chongzhen seine Minister zu einer Krisensitzung ein – und keiner kam. 1644 soll sich Chongzhen in der Nähe seines Palastes erhängt haben.

Dem letzten Kaiser der Ming Dynastie wird nachgesagt, sein Bestes getan zu haben, um sein Reich vor Rebellion und Fremdherrschaft durch die als Barbaren angesehenen Manchus zu retten. Ohne Erfolg, er verlor das «Mandat des Himmels» und sein Leben.

Das Wenige, was aus der Volksrepublik China noch durch die Wand der Zensur und Propaganda dringt, deutet darauf hin, dass sich der Führer Xi Jinping in einer durchaus ähnlichen Lage befinden könnte wie Chongzhen. Die Staatskassen sind leer, die internationalen Investoren ergreifen die Flucht, der Immobilienmarkt bricht zusammen, Volksaufstände wie die «White Paper Revolution» und die «FreeDeMan Proteste» konnten nur mit grösster Mühe unter Kontrolle gebracht werden etc.

Zum Grenzsteine-Pinseln abkommandiert: Der ehemalige Sprecher des chinesischen Aussenministeriums Zhao Lijian.

Vor allem herrscht bei den wichtigsten Regierungsmitgliedern und Wirtschaftskapitänen seit rund einem Jahr ein Köpferollen, wie man es seit den Siebzigerjahren in China in dieser Intensität nicht mehr gesehen hat, der ehemalige Präsident Hu Jintao wurde während dem Parteikongress 2022 vor den Augen aller abgeführt, der Sprecher des Aussenministeriums Zhao Lijian wurde in die Wüste geschickt (bzw. zum Grenzsteine-Nachpinseln abkommandiert), Aussenminister Qin Gang soll nicht überprüfbaren Gerüchten zufolge zu Tode gefoltert worden sein bzw. Suizid begangen haben, seine angebliche Mätresse und Mutter des gemeinsamen Sohnes Qin’er (Qin der Zweite), die Journalistin Fu Xiaotian, soll in Beijing in Haft sitzen, Verteidigungsminister Li Shangfu wurde abgesetzt und ist seither wie vom Erdboden verschwunden, der Vizegouverneur der People’s Bank of China Fan Yifei wird der Korruption beschuldigt, ebenso der Vorsitzende der Bank of China Liu Liange, der Gründer von Evergrande Hui Ka Yan wurde wegen nicht näher spezifizierten Verbrechen festgesetzt, eine ganze Reihe der «Rocket Forces» der PLA Li Yuchao etc.).

Weil niemand so genau weiss, was genau vorgefallen ist, machen zunehmend Verschwörungstheorien die Runde, zuletzt hielt sich das hartnäckige Gerücht, der Premier Li Keqiang sei ermordet worden und nicht eines natürlichen Todes gestorben – Li Keqiang muss wohl neben seinen guten politischen Beziehungen wohl vorgeworfen werden, dass er das zu sagen wagte, was andere in China nicht einmal zu denken wagen: Die in China publizierten Zahlen zum Bruttosozialprodukt sind ein wenig verlässliches Fabrikat und 600 Millionen Chinesen haben weniger als USD 140 pro Monat zur Verfügung, was auch in China nicht zum Leben und nicht zum Sterben reicht.

Scharf beobachtet von Photographen und Sicherheitsleuten empfängt Aussenminister Qin Gang seinen Amtskollegen State Secretary Blinken. Kurz darauf ist er spurlos verschwunden.

Das Köpferollen scheint kein Ende zu nehmen, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein könnte, dass die «Verschwundenen» Mitglieder der KPC in einem als «Shuang gui» bezeichneten System erst einmal an einem geheimen Ort festgehalten werden, bis sie ein «Geständnis» ablegen und dann allenfalls den regulären Strafverfolgungsbehörden überantwortet oder freigelassen werden, falls sie das Prozedere überleben. Das im Rahmen eines solchen «Geständnisses» auch «Mittäter» bezeichnet werden müssen, versteht sich von selbst. Je höher der Verdächtige steht, desto grösser ist die Zahl der Untergebenen und Mitstreiter, welche möglicherweise ins Visier geraten. Eine Unschuldsvermutung gibt es, soweit ersichtlich, nicht.

Wer dieses Köpferollen veranlasst hat, ist nicht so ganz klar. Ist es der scheinbar übermächtige Xi Jinping, der seine vor über 10 Jahren begonnene Anti-Korruptionskampagne unermüdlich fortsetzt oder sogar noch ausweitet? Darauf deutet hin, dass gegenwärtig vor ausländischer «Infiltration» gewarnt wird und insbesondere die Abwerbung von Parteikadern und Beamten mit aussenpolitischen Beziehungen ins Visier genommen wird:

«Diplomatic and foreign affairs cadres are the main force in foreign affairs work. They are on the front line of foreign exchanges, especially the struggle with hostile Western forces» – Zhang Jiwen, Central Commission for Discipline Inspection

Wie brüchig die Gefolgschaft von Xi Jinping möglicherweise geworden ist, zeigt sich unter anderem an der im Rahmen des Nachrufs des verstorbenen Ex-Premiers Li Keqiang verbreiteten Propaganda der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua. Nicht weniger als dreimal ist von der starken Führung der KPC mit Genosse Xi als Kern die Rede («under the strong leadership of the CPC Central Committee with Comrade Xi Jinping at its core»), wobei Li Xi treu gefolgt sein soll. Die Erfahrung zeigt, dass sehr oft das Gegenteil von solch unbelegten propagandischen Botschaften zutrifft. Je dicker bei der Schönfärberei aufgetragen wird, desto mehr liegen die Dinge im Allgemeinen im Argen.

Ähnliches galt für den hart erkämpften Besuch von Xi Jinping anlässlich des APEC-Gipfeltreffens in San Francisco. Es wurden keine Mühen gescheut, alles richtig zu machen. Die Strassen in San Francisco wurden ausnahmsweise von Dreck und von Obdachlosen gesäubert, es wurden keine Kosten gescheut, fähnchenschwingende chinesische «Studenten» einzufliegen (die Rede ist von einem Salär von USD 200 nebst Transport, Kost und Logis) und die amerikanischen Wirtschaftsführer investierten bis zu USD 40’000, um Xi anlässlich von dessen Bankett frenetisch zu applaudieren.

Misstöne, wie der «Veiled Swipe» von Präsident Biden, der kurz vor der Ankunft Xi’s an einem APEC-Ministertreffen die Vorzüge der APEC als “a region where economies are free to choose their own path … where goods, ideas, people, flow lawfully and freely” lobte (China und Russland, die erst später zur APEC gestossen sind, dürften da wohl nicht mitgemeint sein) dürften Genosse Xi nicht zu Ohren gekommen sein. Ebensowenig, der Umstand, dass Präsident Biden an seiner Ansicht festhielt, Xi sei ein Diktator und dies auch begründete. Auch das Leichenhallen-Dekor (Weiss gilt in China als Trauerfahrbe) der Vorfahrt des St. Regis Hotels, wo Genosse Xi logierte, wurde in letzter Minute noch mit etwas blauem Tuch übertüncht. Auch scheint es nur wenigen aufgefallen zu sein, dass zwar vielleicht über irgendetwas geredet wurde, aber nichts gesagt wurde. Wie schon am BRICS-Gipfel in Südafrika, hat Genosse Xi zudem eine Rede ausfallen lassen und sie stattdessen schriftlich abgeliefert – hat er vorausgesehen, dass seine Schreibe für den Leser mehr Fragen aufwarf als Antworten bereit hielt, oder scheut er den Vergleich mit seinem amerikanischen oder philippinischen Kollegen, die sich dem Publikum stellten?

Dividiert man die zahlenden und bezahlten Claquere weg, wird man den Eindruck nicht los, dass Xi Jinping je länger allein dasteht. Doch reichen die Parallelen zum Imperium von Xi Jinping, um das nachträgliche Verbot eines Buches auszulösen, welches noch 2016 unter dem weniger verfänglichen Titel «The Past of Chongzhen: The Final Scene of the Ming Empire» die Zensur passiert hatte? Dies auf das Risiko hin, dass die Zensur der Zweitauflage erst recht das Interesse der potentiellen Leser in China weckt und sogar die Aufmerksamkeit des Westens auf das Buch ziehen?

Oder verfolgte die Zensur gerade den Zweck, die Aufmerksamkeit auf das Buch zu ziehen, allenfalls als Warnung an Xi Jinping und seine Entourage, die Fehler des letzten Ming-Kaisers nicht zu wiederholen?

Eine andere Erklärung ist ebenso. Dass die Jurchen (Manchu) das Reich der Ming an sich reissen und die Qing-Dynastie begründen konnten, lag nicht nur an der inneren strukturellen Schwäche des chinesischen Kaiserreichs mit seiner ausufernden und korruptionsanfälligen Bürokratie und ist auch nicht nur auf die Unerfahrenheit des chinesischen Kaisers zurückzuführen.

Ein Grund für den Niedergang der Ming-Dynastie unter vielen war, dass es den Jurchen (Manchu) gelang, die Allianz zwischen Joseon (Korea) und der Ming-Dynastie zu sprengen. Mit einem kurzen aber brutalen Militärschlag im Jahr 1636/1637 (병자호란, Byeongja Horan) zwangen die Jurchen König Injo des Königreichs Joseon zum Einknicken. Injo gilt als einer der schwächsten, inkompetentesten Könige, die Joseon jemals gekannt hat. Er war 1623 durch einen Coup an die Macht gekommen und die Folgejahre waren durch Rebellionen und Wirtschaftskrisen geprägt. Die Jurchen waren klug genug, das von Bergen durchzogene Land nicht zu besetzen, sondern Joseon «nur» Tribute abzuverlangen und den Kronprinzen als Geisel. Ohne die Reislieferungen und Sklaven aus Joseon hätten die Jurchen möglicherweise den Kampf gegen das ungleich grössere China nicht führen können, welches 1644 im Fall der Ming-Dynastie endete.

Diese Geschichte ist gegenwärtig Teil einer südkoreanischen Fernsehserie mit dem Titel «My Dearest», in welcher politische Lehrstücke geschickt in eine Romanze verpackt werden, welche sich an «Vom Winde verweht» anlehnt. Zu bedenken ist, dass sich K-Drama nicht nur bei der weltweiten Fangemeinde grosser Beliebtheit erfreut (die Serie schaffte es in 68 Ländern in die Top Ten der Streamingcharts), auch oder gerade in der Volksrepublik China und Nordkorea (trotz oder wegen der dortigen Zensur), sondern auch eine schlagkräftige Waffe im Arsenal Südkoreas ist, das mit der latenten Bedrohung von nordkoreanischen Seite begegnen muss.

Entsprechend ist es durchaus denkbar, dass das K-Drama «My Dearest» auf chinesischer Seite dazu anregt, sich mit der Geschichte des Endes der Ming-Dynastie und der Rolle des Kaisers auseinanderzusetzen und sich zu fragen, in welcher Rolle er sich wiederfinden möchte:

  • In der Rolle des zwischen den Fronten lavierenden Händlers Lee Jang-Hyun (Namkoong Min), der vielleicht Einzige der vorausschauend handelt und im Hinblick auf die Jurchen rechtzeitig Waffen besorgt – «Nennen Sie es die Intuition eines Händlers, weil ich mit mit Ausländern handle habe ich gewusst, dass bald etwas geschehen würde.» (My Dearest, ep. 3). Und gleichzeitig derjenige, der vor Kriegsbegeisterung warnt: «Es gibt zwei Dinge auf der Welt, bei der man nicht zulassen sollte, dass sie lange dauern: die Zeit, die man auf der Toilette verbringt und im Krieg.» (My Dearest, ep 5)?
  • In der Rolle von König Injo von Joseon, von dem ein Sarim (neokonfuzianische Gelehrter) sagt: «Wenn ein Mann Angst hat, kommt seine Grausamkeit zum Vorschein» (My Dearest 2, ep 7).
  • Mit dem Kronprinzen Sohyeon (소현세자), der zwischen der Loyalität gegenüber seinem Vater und gegenüber seinem Volk zerrissen ist, zwischen dem Reich seines Vaters und den neuen Machthabern der Qing mit grossem diplomatischem Geschick vermittelt und am der nach seiner Rückkehr aus der Geiselhaft verdächtigt wird, mit westlichen Ideen zu sympathisieren und schliesslich von seinem Vater ermordet wird, während seine Ehefrau Kronprinzessin Minhoe (민회빈 강씨) wegen Hochverrats hingerichtet wird und seine Söhne in die Verbannung geschickt werden.
  • Indentifiziert er sich mit dem Qing-Herrscher Hong Taiji (Taizong), der seine Tochter Hwayu gewähren lässt, obwohl er weiss, dass sie mit dem Gefangenen aus Joseon ein übles Spiel treibt?

Ein wiederkehrendes Thema in diesem Drama ist die Frage, auf wen und was man sich verlassen kann: Zählen, wenn es Hart auf Hart geht, Institutionen und Autoritäten, die Blutsbande, knallharte Interessenpolitik oder individuelle Werthaltungen?

Um zur Parallele zum letzten Ming-Kaiser und dem heutigen chinesischen Herrscher zurückzukommen? Wem kann Xi Jinping noch vertrauen?

Angesichts des Köpferollens in der chinesischen Regierung und Wirtschaftselite kann praktisch ausgeschlossen werden, dass noch irgendjemand in der Volksrepublik China es wagt, Xi Jinping offen die Stirn zu bieten. Ex-Premier Li Keqiang, dem man das vielleicht noch zugetraut hätte, ist tot. Qing Gang, der seine Erfahrung als Diplomat hätte einbringen können, wohl auch. Angesichts der an stalinistische Zeiten erinnernden Säuberungen dürfte auf Autoritäten und Institutionen kein Verlass mehr sein.

Als «roter Prinzling» ist Xi Jinping familiär gut vernetzt, insbesondere seine Nichte, Hiu Ng, und deren britischer Ehemann, Daniel Foa, sind in alle hoch lukrativen Geschäfte involviert, die man sich denken kann: Elektrofahrzeuge (Fisker), Kreditwesen, Gesundheitswesen etc. Das Risiko, dass der Schuss hier hinten raus geht, ist immens, wie sich etwa bei der laufenden EU-Untersuchung von unlauteren Machenschaften im Elektrofahrzeugbereich abzeichnet. Die Familienbande könnten Xi Jinping gefährlich werden und seine Glaubwürdigkeit untergraben.

Vor 45 Jahren hat sich China unter Xi’s Vorgänger Deng Xiaoping das Vertrauen des Westens mit einem aus chinesischer Sicht einfachen Deal erkauft, wie Deng Xiaoping in seinem Gespräch mit Bundesrat schonungslos zum Ausdruck brachte: China bot billige Arbeitskräfte und die Garantie politischer Kontinuität, der Westen im Gegenzug Zugang zu Technologie. Am Horizont winkten für China wirtschaftlicher Wohlstand und für den Westen ein gigantischer Absatzmarkt. Das von den «Tigerstaaten» Südkorea und Taiwan adaptierte Entwicklungsmodell funktionierte eine Zeitlang – mehr oder weniger. Selbst die chinafreundlichsten Ökonomen zerbrechen sich heute den Kopf, wie China in den nächsten Jahren schon nur vier bis fünf Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr erreichen kann, während Investoren die Flucht ergreifen und (fast) alle von «De-risking» oder «De-coupling» in (fast) aller Munde ist. Die Interessenpolitik, die in der Vergangenheit dazu bewogen hat, über die Mängel der politischen und ökonomischen Struktur hinwegzusehen, ist nun zur Gefahr für ebendiese politische und ökonomische Struktur geworden. Auf die Interessen des Westen, den Zugang zum chinesischen Markt um jeden Preis zu erhalten, ist kein Verlass.

Bleiben noch die individuellen Werthaltungen, vorab die sozialistische bzw. kommunistische Ideologie. Xi Jinping strebt zusammen mit Vladimir Putin offen eine neue Weltordnung an.

«Right now, there are changes – the likes of which we haven’t seen for hundred years – and we are the ones driving these changes together.» – Xi Jinping zu Wladimir Putin, 22. März 2023

Historisch gesehen ist die russisch-chinesische Freundschaft nicht in Stein gemeisselt, vor allem nachdem es danach aussieht, als habe Xi Jinping für Russland die Rolle eines Juniorpartners vorgesehen. Ob Xi Jinping sich auf die Freundschaft mit Russland verlassen kann, wird sich zeigen.

Daneben spielt auch eine weitere unverbrüchliche, ideologisch geprägte «Freundschaft» eine Rolle: Diejenige zu (Nord-)Korea. Nach 1990 schien es, als sei die Volksrepublik China das einzige Land, welches (Nord-)Korea unter Kontrolle halten könne, während sich die koreanisch-russischen Beziehungen welche von 1945 bis 1990 dominierten sich nach dem Zerfall der Sowjetunion stark abgekühlt zu haben schienen. Stets hob China seine Rolle als grosser Bruder Nordkoreas hervor und heimste sich dafür auch internationales Lob ein, etwa vom ehemaligen Schweizer Botschafter in Beijing, der letztes Jahr die Rolle Chinas auf der koreanischen Halbinsel belobigte (was er damit genau meinte, ging leider aus dem von Schweizer Seite nicht bestätigten Bericht nicht hervor). Was aber, wenn China Nordkorea nicht – oder nicht mehr – unter Kontrolle hat?

Friedenstauben oder Raketen? Nahe der demitarisierten Zone des «von den europäischen Grossmächten sonderbarer Weise als unabhängiges Königreich anerkannten Korea» (Bild: privat).

Das «von den europäischen Grossmächten sonderbarer Weise als unabhäniges Königreich anerkannte Korea» – so P. Ritter, der Vizekonsul der Schweiz in Japan, der im Frühling 1894 nach Seoul gereist war, um die Möglichkeiten des Abschlusses eines Staatsvertrags zu sondieren in einem Brief an den Bundesrat – nutzte jede Gelegenheit, dem Joch Chinas (und Japans) zu entkommen.

Zweifellos schwebte Mao nach seiner Machtergreifung vor, Korea in die Rolle des Juniorpartners zu drängen oder gänzlich zu annektieren – so wie ihm dies mit der inneren Mongolei, Xinjiang und Tibet gelungen ist. In einem ersten Gespräch mit Stalin verlangte Mao am 16. Dezember 1949 die Rückendeckung der Sowjetunion für einen «Frieden» von drei bis fünf Jahren, damit er die wirtschaftlichen und politische Lage in der gerade erst ausgerufenen Volksrepublik China stabilisieren könne. Stalin antwortete:

Comrade Stalin: In China a war for peace, as it were, is taking place. The question of peace greatly preoccupies the Soviet Union as well, though we have already had peace for the past four years. With regards to China, there is no immediate threat at the present time: Japan has yet to stand up on its feet and is thus not ready for war; America, though it screams war, is actually afraid of war more than anything; Europe is afraid of war; in essence, there is no one to fight with China, not unless Kim Il Sung decides to invade China?
Peace will depend on our efforts. If we continue to be friendly, peace can last not only 5-10 years, but 20-25 years and perhaps even longer.

Hätte wirklich die Gefahr bestanden, dass sich Kim Il Sung gegen den kommunistischen Nachbarstaat richtet, statt gegen die vermeintlich kriegsmüden Amerikaner und Europäer, welche am Ende Südkorea unterstützten? Mao liess es nicht draufankommen und «unterstützte» tatkräftig die Nordkoreaner, welche durch den Krieg gegen ihre Landsleute im Krieg und die seit dem Waffenstillstand bestehende internationale Isolation seither erfolgreich geschwächt wurden. Seither sind sie auf Gedeih und Verderb China und Russland ausgeliefert. Ob das eine verlässliche Basis ist, wenn China oder Russland ihrerseits auf Hilfe Nordkoreas angewiesen sind, ist zweifelhaft. Zwar sind solche Hilfen nicht ausgeschlossen, wie man kürzlich nach dem Treffen von Putin und Kim gesehen hat, die Konsequenzen einer Vergeltungsaktion wie z.B. einer Attacke auf die Zugverbindungen der Transsib, wie sie stattgefunden haben, hätten aber unter Umständen gravierende Konsequenzen.

Noch schlimmere Konsequenzen hätte es, wenn das (einmal mehr von der Zeitung Politico gestreute) Gerücht stimmen würde, das Kriegsbeil mit Nordkorea zu begraben. Wie sagte es Stalin doch gleich: es gibt keinen, der mit China kämpfen will, solange nicht Kim [Jong-un] eine Invasion Chinas beschliesst.

Steht Xi Jinping ganz alleine da, wie damals am BRICS-Gipfel in Südafrika? Wem kann er noch vertrauen?

Alles in allem hat man ein gewisses Verständnis, wenn die chinesische Zensur ein Buch über einen Herrscher, der alle Vertrauten verloren hat und von Feinden aus dem Osten bedroht ist, zensuriert. Ein solches Buch kann Angst machen, wenn man die Parallelen zur Gegenwart zieht, und wie erwähnt: «Wenn ein Mann Angst hat, kommt seine Grausamkeit zum Vorschein» (ein Sarim im koreanischen Drama «My Dearest 2», ep 7).