«Lasst uns nicht von dieser Welt verschwinden, ohne dass wir wissen, wieso!»

Das WEF in Davos ist zu Ende gegangen. Die Russen blieben weg. Die Staatsoberhäupter der G7-Staaten blieben mit Ausnahme von Bundeskanzler Scholz weg. Aber immerhin: Der Schweizer Bundesrat trat fast in corpore auf. Kissinger (99) war da. Klaus Schwab (84) war da. Und auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg (20). Als Blutauffrischung? Darüber referierte der Liu He, einer der vier Vize-Premiers Chinas, wobei er das nur noch nominell ist, er hat seinen Rang in der über allem stehenden Kommunistischen Partei Chinas bereits im Oktober 2022 verloren.

Von Maja Blumer, 22. Januar 2023

Auch wenn Liu He eigentlich eine «Lame Duck» ist und einige Kritiker behaupten, seine schöne Rede von der chinesischen Öffnungspolitik, der Rechtsstaatlichkeit, der Rückkehr zu einem normalen Wachstum etc. sei eine einzige Lüge und strotze vor Ausflüchten, ist die Ansprache nicht nur wegen der Gemeinplätze bemerkenswert, welche die Zuschauer glauben liessen, es sei alles wieder beim alten und die in den Schweizer Medien breitgeschlagen wurden. Bei allem Optimismus, den er verbreitete, sprach Liu He nämlich auch von einer «Bluttransfusion» bzw. «Blutauffrischung», was man als Eingeständnis interpretieren kann, dass sein Land am Ausbluten ist. Dass gleichzeitig von offiziellen chinesischen Stellen zugegeben wurde, dass es trotz/wegen/mit Covid doch mehr Tote gab, als noch vor kurzem angegeben, ist ebenfalls neu. Und dass gleich auch publik wurde, dass die chinesische Bevölkerung schrumpft, ist ein Novum. Und dass das Bruttosozialprodukt mit nur 3,0 angegeben wurde, statt von den von den chinesischen Regierung angestrebten 5,5%, ist aussergewöhnlich.

Die Frage ist nur: haben wir es mit einer neuen Ehrlichkeit zu tun? Oder dienen diese Eingeständnisse nur dazu, eine weit tristere Wahrheit zu verschleiern?

Wie die sich seit Jahren und Jahrzehnten aufgebaute Immobilienkrise in China bewältigen lassen soll, in deren Zusammenhang Liu He von Bluttransfusion («blood transfusion») und Blutauffrischung («blood formation») sprach, ist seit jeher ein grosses Rätsel. Dass Problem, dass zuviel Geld in den chinesischen Bausektor floss, lässt sich offensichtlich nicht dadurch lösen, dass man noch mehr Geld dorthin leitet und die eingeführten Restriktionen lockert, damit sich jeder Chinese noch eine vierte, fünfte oder sechste Wohnung kaufen kann, das weiss zweifellos auch Liu He.

Hier spielt es auch eine Rolle, dass schlicht die Nachfrage nicht da ist, weil die chinesische Bevölkerung rapide abnimmt, was neuerdings auch offiziell eingestanden wird. Erstmals seit der Hungersnot im Rahmen des «Grossen Sprung nach vorne» vor rund 60 Jahren ist die chinesische Bevölkerung letztes Jahr laut offiziellen Angaben um 850’000 Menschen geschrumpft. Einige Experten behaupten, der demografische Knick sei in China schon weit früher erfolgt. Eine relativ konservative Schätzung ist, dass das Bevölkerungsmaximum in China bereits vor 10 Jahren erreicht wurde und eher bei 1,3 Milliarden gelegen hat, und nicht bei 1,4 Milliarden.

Hinzu kommt, dass es in den vergangenen drei Jahren wohl mehr Tote gegeben hat, als gemeinhin angegeben wird. Von offizieller Seite wurden nun neue Zahlen präsentiert: vom 7. Dezember 2022 bis zum 12. Januar 2023 sollen exakt 59’938 Menschen an Covid gestorben sein. Unter anderem die beobachteten Staus bei den Krematorien könnten darauf hindeuten, dass es auch nicht bei diesen 60’000 Toten geblieben ist und die Zahl der chinesischen Bürger möglicherweise um hunderte von Millionen unter der offizielle Zahl liegt (was man nicht zugeben dürfte, weil dann automatisch Fragen nach der sozialen Stabilität, der genügenden Zahl von Arbeitern etc. gestellt werden müsste).

Kombiniert man die neuesten Informationen aus China – demographischer Knick und hohe Zahl von Todesfällen, «Bluttransfusion» auf dem Immobilienmarkt und das bloss vage Versprechen von Rechtsstaatlichkeit, Kontinuität der Öffnungspolitik und Rückkehr zu einem «normalen Wachstum» – mit Blick auf den geopolitischen Kontext, stellt sich die Frage, ob wir es in China mit einer regelrechten Zeitenwende zu tun haben.

Der chinesische Journalist Wang Sir: Deuten die demografischen und wirtschaftlichen Daten aus China auf eine Zeitenwende hin?

Es macht dabei den Anschein, dass immer mehr Menschen in China verschwinden. Sicher nicht wegen der 60’000 offiziiellen Covid-Toten im Dezember. Und es sind auch nicht Xinjiang und Tibet das Problem, wo Hunderttausende verschwunden oder geflüchtet sind und wo manche schon seit langem von Genozid sprechen. Es fehlen nicht nur die ungeborenen Kinder, welche der Abtreibungspraxis zum Opfer gefallen sind (2019 sollen ca. 13 Millionen Abtreibungen stattgefunden haben, demgegenüber wurden 2022 etwa 9,5 Millionen Babys geboren). Und vermisst werden auch nicht nur diejenigen, die ihr Leben verlieren, damit ein anderer mit seinen Organen länger lebt. Und es sind auch nicht die Alten und Armen, die auf dem Land zurückgeblieben sind und mit einer bescheidenen medizinischen Versorgung auskommen müssen, die vermisst werden. Und auch nicht diejenigen, die es nach Auslandaufenthalten nicht besonders eilig haben, ins Mutterland zurückzukehren.

Nein, inzwischen scheint das Problem des «Verschwindens» auch diejenigen zu treffen, die eigentlich zur Elite zählen. Sie haben Universitätsabschlüsse von renommierten Universitäten in den chinesischen Grossstädten oder gar im Ausland, sind intelligent und eloquent, haben eine Arbeit, setzen sich fürs Gemeinwohl ein und sind gesetzestreu (oder glauben dies zumindest). Sie haben Mütter und Väter, Freunde und Arbeitskollegen. Und trotzdem verschwinden sie. Sie sind nicht gerade tot (obwohl auch einige «an dieser Krankheit» gestorben sind). Aber sie sind «weg vom Fenster». Die Prominenteren unter ihnen, wie etwa der Wolf Warrior Zhao Lijian oder der umtriebige Unternehmer Jack Ma verschwinden für einige Zeit von der Bildfläche und werden danach entmachtet und stummgeschaltet. Andere, die weniger Glück haben, werden verhaftet und verschwinden irgendwo in einem Kerker. Für Wochen, Monate, Jahre? Wer weiss. Sicher ist, dass diese Leute nicht mehr dieselben sind, wenn sie «zurückkommen».

Aber wissen sie danach wenigstens, welche «invisible red line» sie überschritten haben? Wahrscheinlich nicht. denn dies gehört geradezu zum System des «Verschwindenlassens» verstanden als «die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird» (Art. 2 des Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen).

Die Wirksamkeit des «Verschwindenlassens» liegt gerade in dieser Ungewissheit und der Angst, welche diese beim Opfer auslöst. Eine Teilnehmerin der «White Paper Revolution» am Liangma Fluss in Beijing, Cao Zhixin, ein (mutmassliches) Opfer brachte die Verzweiflung zum Ausdruck, bevor sie wie ihre Freunde zuvor «verschwunden» wurde:

Appell einer Teilnehmerin der White Paper Revolution am Liangma Fluss in Beijing Cao Zhixin: «Lasst uns nicht von dieser Welt verschwinden, ohne dass wir wissen, wieso»

Ihr Appell:

我们不想凭空被消失…不要让我们不清不楚地消失在这个世界上。«Wir möchten nicht grundlos in Nichts aufgelöst werden…Lasst uns nicht von dieser Welt verschwinden, ohne dass wir wissen, wieso»
– Cao Zhixin

Ihr Aufruf verhallte weitgehend ungehört. Nur einige westliche Medien, etwa der britische Guardian, oder die Deutsche Welle berichteten darüber.

Geht uns das Verschwinden und besonders das «Verschwindenlassen» von Menschen in China uns im Westen etwas an? Oder ist es eine «innere Angelegenheit»? Reicht es, eine Konvention gegen das Verschwindenlassen zu unterzeichnen und dann zur Tagesordnung überzugehen und das Problem allenfalls irgendwo hinter verschlossenen Türen in einem der Dialoge anzusprechen, auf die der Bundesrat setzt?

Dazu ist einmal zu sagen, dass das Argument der «Dialoge» etwas abgegriffen ist. Schon 1991 stellte Nationalrätin Rosmarie Bär die Frage, ob es richtig sei, dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng, bekannt als «Schlächter von Beijing» (im Zusammenhang mit dem Vorfall von in dieser Stadt, den man höchstens mit dem Kürzel 8964 zu bezeichnen wagt) im Januar 1992 WEF in Davos zu empfangen:

«Der Presse konnte man entnehmen, dass Chinas Ministerpräsident Li Peng voraussichtlich im Januar 1992 die Schweiz besuchen wird, um am Weltwirtschaftsforum in Davos teilzunehmen. Li Peng zählt zu den Hauptverantwortlichen des Massakers vom Juni 1989 bei Tienanmen. Der bevorstehende Besuch würde die internationale Ächtung der chinesischen Regierung durchbrechen, die im Gefolge der Missachtung der Menschenrechte und des brutalen Umgangs mit der Opposition erfolgt ist. Eine Schrittmacherrolle der Schweiz wäre ganz besonders zu bedauern. Ist der Bundesrat vorgängig über den Besuch in Davos informiert und um seine Meinung gebeten worden? Wenn ja, welche Haltung hat er eingenommen? Ist der Bundesrat bereit, auf jegliche offiziellen und inoffiziellen Kontakte und Arrangements mit Li Peng zu verzichten, als Zeichen der Verurteilung der totalitären Machthaber in Peking?»Nationalrätin Rosmarie Bär, 9. Dezember 1991

Die Antwort des Bundesrates schon damals: das WEF sei eine wertvolle Gelegenheit zum Dialog, und weil man eh schon dort sei, werde man den Ministerpräsidenten auch empfangen, man pflege ja schliesslich diplomatische Beziehungen.

Wenn diese Dialoge überhaupt geführt wurden, stellt sich langsam aber sicher die Frage, was sie bewirkt haben. Und selbst wenn wir uns ausschliesslich auf die wirtschaftlichen Beziehungen zur Volksrepublik China konzentrieren möchten, kann es uns nicht einfach egal sein, wenn dort in grossem Stile «Humankapital» vernichtet wird. Wir möchten von billigen Importe aus China profitieren und unsere Waren in grossem Stile auf dem chinesischen Markt absetzen. Müssten wir nicht auch dafür etwas tun statt einfach zu erwarten, die chinesische Regierung werde es dann schon richten?

Der Liangma-Fluss in Beijing – einer der Kulissen für die «White Paper Revolution»

Nach über dreissig Jahren fruchtlosen Dialogen sollte man vielleicht überhaupt eine andere Frage stellen. Eine Frage, welche auch Cao Zhixin gestellt hat:

我们是谁不得不用来交工的任务?
«Für wen, der seine Aufgabe nicht erfüllt hat, müssen wir als Sündenbock hinhalten?»
– Cao Zhixin

Dass Cao Zhixin und die andern (mutmasslich) Verhafteten für irgendwen den Kopf hinhalten musste, scheint wahrscheinlich. Nicht nur stellt sich die Frage, wer hinter den Aufrufen zu den Versammlungen steckte, die sich trotz der Zensur verbreitete, es gibt auch diverse Anzeichen, dass die Sache schon seit Monaten geplant war. Auch ist schwer vorstellbar, dass die Proteste für die unvermittelte Aufgabe der Zero-Covid Politik und die hastige Grenzöffnung verantwortlich sind. China scheint auf Schlingerkurs geraten zu sein.

Fehlte es fürs Kurshalten vielleicht am relevanten Personal – wie die Handelszeitung, allerdings bezogen auf das WEF titelte:

«Für die Rettung der Welt fehlte in Davos diese Woche das relevante Personal.» Markus Diem Meier und Fabienne Kinzelmann, Orientierung statt Rettung der Welt, Handelszeitung, 19. Januar 2023

Damit wären wir wieder beim Beginn der Geschichte. Wenn Menschen in einem Land plötzlich verschwinden, die hellsten Köpfe stummgeschaltet werden und das Land leerblutet, ist offensichtlich eine notfallmässige Bluttransfusion notwendig. In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutet das regelmässig Geld, Geld und noch mehr Geld, in Form von Krediten, Investitionen und Transfer von «Humankapital». Das kann man vielleicht mit schönen Worten am WEF erreichen, aber als Lösung kann das nur für beschränkte Zeit funktionieren. Eine nachhaltige Lösung ist erst denkbar, wenn jeder Einzelne weiss, wieso er in der Welt ist und was seine Aufgabe erfüllt und das Problem an der Wurzel anpacken.

Es kann sein, dass die Politiker und Wirtschaftsführer am WEF hinter verschlossenen Türen neue Lösungen diskutiert haben. Bezüglich der diversen Daten aus China, die auf eine demografische, wirtschaftliche und soziale Zeitenwende hindeuten, es kann aber ebensogut sein, dass schlicht das relevante Personal fehlt. Dann müssen nicht nur chinesische Bürger die Frage stellen, die der Journalist Wang Sir gestellt hat:

如果决策者没有做好准备, 我们普通人需要做什么样的准备呢?
Falls die politischen Entscheidungsträger nicht gut vorbereitet sind, welche Vorbereitungen müssen dann wir einfachen Menschen treffen?
– Wang Sir


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua), hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und in Taiwan studiert. Sie ist als Rechtsanwältin tätig.