Stell Dir vor, es ist Krieg in Taiwan, und keiner macht was! – Die taiwanesische Perspektive

Gestern kam die Sicht der festlandchinesischen Seite der Taiwanstrasse zur Sprache, die Basis einer Konfliktlösung ohne Waffengewalt sein könnte. Nach dem Motto «audiatur et altera pars» kommt heute die taiwanesische Seite zu Wort, vertreten durch den Aussenminister der Republik China, Joseph Wu.

von Maja Blumer, 11. November 2022

Etwas mehr Weitblick? Die Position der taiwanesischen Regierung zur Beilegung des Konflikts mit der Volksrepublik China. (Bild: privat)

Erhalt des Status quo als Aufgabe und Ziel der taiwanesischen Regierung

Die umfassenden Souveränitätsansprüche über Taiwan, welche von China mit der «One China Policy» begründet werden, kontert der Aussenminister Joseph Wu mit dem Auftrag und Ziel seiner Regierung, den Status quo zu bewahren. Anders als die Volksrepublik China verfügt die Republik China über eine demokratisch gewählte Regierung. Diese Regierung, so taiwanesische Aussenminister Joseph Wu, ist mit dem Versprechen an die Wahlen angetreten, den Status quo zu bewahren, und hat entsprechend den Auftrag, den Status quo zu bewahren. Konkret führte der Minister Wu in einem Interview mit Richard Walker and Tsou Tzung-Han von der Deutschen Welle vom 1. September 2022 aus (deutsche Übersetzung durch die Autorin):

Die Regierung Präsidentin Tsai wurde aufgrund ihres Versprechens an das Volk gewählt, den Status quo zu bewahren, dass wir die Bewahrung des Status quo als den besten Weg zur Wahrung der Interessen aller Betroffenen ansehen würden. Folglich ist es die Politik dieser Regierung, den Status quo zu bewahren.

Was «Status quo» aus taiwanesischer Sicht konkret bedeutet, führte der Aussenminister der Republik China, Joseph Wu unter anderem in einer Pressekonferenz vom 26. August 2022 aus (deutsche Übersetzung durch die Autorin):

Ich denke, wir müssen ein wenig darüber diskutieren, was der Status quo ist. Der Status quo ist, dass Taiwan und die Volksrepublik China keine Jurisdiktion über den jeweils anderen haben. Wir werden von uns selbst regiert. Wir haben eine Präsidentin, die öffentlich und demokratisch gewählt ist. Wir haben ein Parlament, das ebenfalls öffentlich und demokratisch gewählt ist. Wir haben ein Militär, das uns verteidigt. Und wir haben ein Aussenministerium, das Visa und Pässe ausstellt. Und die taiwanesische Regierung übt diese ausschliessliche Jurisdiktion über das von uns kontrollierte Gebiet aus. Und die Regierung der Volksrepublik China hat zu keinem einzigen Tag irgendeine Jurisdiktion über Taiwan gehabt.

Und das ist der Status quo. Ganz gleich, wie sehr China versucht zu behaupten, Taiwan sei Teil der Volksrepublik China, es entspricht nicht der Realität vor Ort. Die Realität ist, dass Taiwan von sich selbst regiert wird.

Taiwan ist ein fester Bestandteil der internationalen Gemeinschaft, und wir sind in der Lage, Beziehungen zu anderen Ländern zu unterhalten. Daher ist es für Taiwan selbstverständlich, dass es von den Vereinigten Staaten oder anderen Ländern ausreichend Verteidigungsgüter erhält.

Rote Linie Taiwans bezüglich des von der Volksrepublik China propagierten Modells «Ein Land, zwei Systeme»

Bezüglich der von der Volksrepublik China vertretenen Idee des «Ein Land, zwei Systeme» erteilt Taiwan eine klare Absage. In einem Interview mit William Gallo von Voice of America vom 13. August führte der taiwanesische Aussenminister Joseph Wu dazu aus im Hinblick auf die Frage nach seiner Reaktion auf ein «White Paper» der Regierung der Volksrepublik China, in dem die entsprechende Idee wieder aufgewärmt wurde, sowie auf Äusserungen von Diplomaten, die Bevölkerung Taiwans müsste nach einer Annektion einer «Umerziehung» unterzogen werden, Folgendes aus (deutsche Übersetzung durch die Autorin):

Es mag Menschen geben, die immer noch die Phantasie haben, dass es eine Vereinigung nach dem Modell “Ein Land – zwei Systeme” geben wird; aber diese Idee ist zerstört, völlig zerstört durch die Art und Weise, wie die chinesische Regierung Hong Kong behandelt.

Früher war Hong Kong eine der freiesten Gesellschaften in Ostasien, aber mit der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes [Gesetz der Volksrepublik China zur Wahrung der nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hong Kong welches vom SC NPC der Volksrepublik China am 30. Juni 2020 erlassen und sogleich in Kraft gesetzt wurde] ist für die Menschen in Hong Kong kein Stück Freiheit mehr übrig.

Und die Menschen hier in Taiwan haben es gesehen und wissen es. Und sie wissen, dass wir das nicht hinnehmen wollen. In dem Weissbuch wird also darauf hingewiesen, dass das Modell «Ein Land – zwei Systeme» für Taiwan gilt. Und die Menschen in Taiwan, würde ich sagen, machen sich nicht einmal die Mühe, darauf zu reagieren, weil es so lächerlich ist. Es ignoriert die grundlegende Tatsache, dass das taiwanesische Volk dies nicht will.

Der zweite Punkt betrifft die chinesischen Diplomaten. Es ist nicht nur der chinesische Botschafter in Paris, diese Art der Reaktion kommt von den chinesischen Diplomaten überall auf der Welt. Und ich bin mir nicht sicher, ob es den chinesischen Interessen entspricht, wenn der chinesische Botschafter in Paris die Umerziehung des taiwanesischen Volkes nach der «Wiedervereinigung» erwähnt. Ich denke, das taiwanesische Volk wird nach einer solchen Aussage die Hucke volllachen und ihn der Stadt verjagen. Der Grund dafür ist ganz klar: Wir leben in einer freien Gesellschaft. Freiheit und Demokratie sind Teil unseres Lebens geworden. Und wir glauben daran, und wenn die chinesische Regierung das ändern will, wird das taiwanesische Volk «ohne uns» sagen. 

Fazit

Dem behaupteten Souveränitätsanspruch der Volksrepublik China stellt die Republik China die tatsächlich bestehende Souveränität entgegen. Dem Wunsch der Volksrepublik China nach einer Vereinigung der beiden Länder (von einer «Wiedervereinigung» kann grundsätzlich nicht gesprochen werden) unter dem Konzept von «Ein Land – zwei Systeme» hält Joseph Wu zum Einen die Tatsache entgegen, dass dieses Konzept durch das Sicherheitsgesetz und die Umerziehungsphantasien der chinesischen Diplomaten von der Volksrepublik China selber vernichtet wurde. Zum Andern hält Joseph Wu einer Wiedervereinigung unter einer autokratischen Regierung eine deutliche Absage, indem er darauf hinweist, dass das taiwanesische Volk das nicht will.

Die Meinung eines Elon Musk oder eines Vladimir Putin vermag daran nichts zu ändern.

Bild: Taiwannews (https://www.taiwannews.com.tw/en/news/4689944)

Die ausgebliebene Replik der Volksrepublik China

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Regierung der Volksrepublik China die Position der taiwanesischen Regierung zur de facto bestehenden bestehenden Souveränität der Republik China (die am 10. Oktober 2022 den 111ten Nationalfeiertag zelebriert hat) und die Absage an die Idee des Modells «Ein Land, zwei Systeme» sehr wohl zur Kenntnis genommen hat. Beides ist nicht gerade neu. Ohne dass auf die Argumente der Gegenseite auch nur zur Kenntnis genommen werden, ist es undenkbar, dass auch nur Gespräche über eine friedliche Konfliktbeilegung auch nur begonnen werden. Die Frage ist, wieso die Volksrepublik China nicht reagiert hat. Darüber kann nur spekuliert werden.

Fest steht, dass Gespräche zwischen Taiwan und der Volksrepublik China seit langer Zeit blockiert sind. der taiwanesische Aussenminister Joseph Wu führt in einem Interview mit VOA vom 10. November 2022 dazu aus:

Das Haupthindernis ist, dass die chinesische Seite anscheinend nicht für einen Dialog offen ist, um die Differenzen zwischen den beiden Seiten zu lösen und den Frieden und die Stabilität in dieser Region zu sichern. Die Volksrepublik China hat die Hürden für jede Art von offiziellen Kontakten zwischen beiden Seiten sehr hoch gelegt: Sie verlangten von Taiwan, das Modell «Ein Land – zwei Systeme» zu akzeptieren. Und das ist etwas, was die taiwanesische Seite keineswegs akzeptieren kann.

Ein Hoffnungsschimmer

Immerhin besteht in dieser verfahrenen Situation ein Hoffnungsschimmer. Wenn die chinesische Seite im eigenen Interesse die Fiktion von «Ein Land – zwei Systeme» (welche in Hong Kong nicht funktioniert hat, sonst hätte nicht die Zentralregierung mit dem Sicherheitsgesetz «durchgreifen» müssen) begraben könnte, ebenso wie die Idee der Umerziehung (welche in Tibet und Xinjang offensichtlich auch nicht so recht funktionieren will), könnte man damit beginnen, sich über die Realität eines souveränen Taiwans zu unterhalten.

Ein weiterer Hoffnungsschimmer, die verfahrene Situation zu lösen, wird vom taiwanesischen Aussenminister Joseph Wu im Interview mit Richard Walker and Tsou Tzung-Han von der Deutschen Welle vom 1. September 2022 aufgezeigt (Übersetzung durch die Autorin):

Richard Walker, DW: Sehen Sie auf irgendeiner Ebene Möglichkeiten für Verhandlungen mit China, die tatsächlich irgendetwas bewirken könnten? Sie haben vorhin erwähnt, dass wir es hier mit fast unversöhnlichen Gegensätzen zu tun haben. Xi Jinping und die Kommunistische Partei Chinas wollen unbedingt die «Wiedervereinigung» mit Taiwan, wie sie es ausdrücken. In Taiwan haben wir eine öffentliche Meinung. Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz möchte sich mit China vereinigen. Wie können wir das ohne Krieg lösen?

Joseph Wu: Wir können eine Menge tun. Ich bin kein hundertprozentiger Optimist, aber ich versuche immer, die Möglichkeiten auszuloten, die sich bieten. Ich denke, dass die beste Möglichkeit in Taiwan selbst liegt. Taiwan ist eine Demokratie und wir sind für alle Arten von Meinungen offen. Die taiwanesische Demokratie ist stabil und unverwüstlich. Solange Taiwan demokratisch bleibt, glaube ich, dass es eine sehr gute Zukunft für Taiwan gibt. Solange Taiwan demokratisch bleibt, werden wir weiterhin Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft erhalten. Das wird nicht verschwinden. Taiwan wird eine Demokratie bleiben. Wenn wir am Ende der Amtszeit unserer Präsidentin unser Amt verlassen, werden wir unsere Aufgaben der nächsten Generation dieser auf einem soliden Fundament aufgebauten Demokratie hinterlassen. Diese Demokratie wird auf lange Sicht die Oberhand behalten.

Andererseits, wenn man sich Chinas politisches System anschaut, mag es mächtig und bedrohlich aussehen, aber autokratische Regime sind oft sehr schwach. Schauen Sie sich die innenpolitischen Probleme an, die sie heutzutage zu bewältigen haben. Vielleicht sagt das chinesische Volk plötzlich: «Das ist nicht das, was wir wollen». 

Richard Walker, DW: Sie zählen also darauf, dass die Kommunistische Partei Chinas kollabiert und Demokratie den Weg nach China schafft? Ist das Ihre grösste Hoffnung?

Joseph Wu: Nein, das wollte ich nicht sagen und ich kann auch keine Vorhersagen machen. Aber wir haben Vertrauen in die Demokratie. So lange wie wir demokratisch sind, werden wir über die Runden kommen. Die militärische Bedrohung der Volksrepublik China ist da. Das ist eine Tatsache, der wir ins Auge sehen müssen, und wir werden weiterhin unsere Verteidigungsmöglichkeiten verstärken, so dass wir uns verteidigen können.

Die militärische Bedrohung seitens Chinas ist da. Aber solange die taiwanesische Bevölkerung dagegen hält, denke ich, dass auch Länder der gesamten übrigen Welt zusammenstehen werden und China verständlich machen, dass die militärische Bedrohung Taiwans keine gute Lösung ist.


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua), Rechtsanwältin, hat nach dem Studienabschluss in der Schweiz in der Volksrepublik China sowie in Taiwan studiert.