Stell Dir vor, es ist Krieg in Taiwan, und keiner macht was! – Die chinesische Perspektive

Morgen beginnt unter dem Titel «Riding out the multicrisis» das Paris Peace Forum, bei dem von Korallenriffen bis Finanzhilfen für Covid-19 alles mögliche diskutiert werden soll, ausser dem aktuell folgenschwersten Konflikt rund um Taiwan, der aktuell in einen «kinetischen» Krieg auszuarten droht. Ist das ein unvermeidliches Ereignis, das vorübergeht, wie ein Sturm, den man abwettern kann? Oder gibt es vielleicht klügere Strategien zur Konfliktlösung? Als auf Zivilrecht spezialisierte Fürsprecherin fällt mir hier in erster Linie ein Zivilverfahren ein. Und ein solcher beginnt, indem man beide involvierten Seiten zu Wort kommen lässt.

von Maja Blumer, 10. November 2022

Die Terrakottakrieger in Xi’an haben zu einem Krieg nichts zu sagen. Wenigstens die im Konflikt um Taiwan Beteiligten sollten sich aber zunächst überlegen, ob es nicht doch Möglichkeiten gibt, den jahrzehnten schwelenden Konflikt beizulegen.

Anhörung beider Parteien als Mittel der Konfliktbeilegung

Dass der latente Konflikt rund um Taiwan über kurz oder lang in einen «kinetischen» Krieg auszuarten droht, darüber dürfte weitherum Einigkeit herrschen, nicht erst, seit der chinesische Herrscher Xi Jinping seine Truppen inspiziert und ihnen geboten hat, sich für einen Krieg bereitzuhalten. Obwohl die Menschheit Jahrtausende von Erfahrungen mit Kriegen hat, herrscht grösste Ratlosigkeit, wenn es darum geht, die Kriegsgefahr zu bannen. Die Strategie des «Abwetterns», des «Aussitzen des Sturms» scheint das Beste zu sein, was den Leuten dazu einfällt. Dies kommt auch im Titel des diesjährigen Paris Peace Forum zum Ausdruck, das unter den Titel «Riding out the multicrisis» gestellt wurde. Der Begriff «riding out», zu Deutsch «abwettern» kommt aus der Seemannssprache und ist durchaus eine gute Strategie, um mit Stürmen und anderen Gefahren umzugehen, die von selber wieder verschwinden.

Konflikte, die sich über Jahre oder Jahrzehnte aufbauen, verschwinden nur ganz selten von alleine, davon können alle Anwälte dieser Welt ein Liedchen singen. Hier sind andere Ansätze zielführender. Etwa derjenige, dass man sich mit der Gegenpartei auseinandersetzt. Der Nobelpreisträger Lester B. Pearson, der sich mit der Schaffung der UN-Friedenstruppen befasst hat und half, die 1956 die Suezkrise zu entschärfen, hat hier allerdings das grundlegende Problem auf den Punkt gebracht:

“How can there be peace without people understanding each other, and how can this be if they don’t know each other?” – Lester B. Pearson, Nobel Peace Prize Lecture 1957

Dieses Problem besteht auch bezüglich dem Konflikt zwischen Taiwan und der Volksrepublik China. Die Völker und Regierungen dieser beiden Länder können sich zwar knapp in derselben Sprache (Standardchinesisch) unterhalten, damit hat es aber mit den Gemeinsamkeiten auch schon ein Ende. Die Lebenswirklichkeit hat sich in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht dies- und jenseits der Taiwanstrasse derart weit voneinander entfernt, dass die beiden Länder ebensogut auf anderen Planeten befinden könnten. Kein Wunder, erfüllt sich die Erwartung nicht, dass sich die beiden Länder mit der Zeit immer mehr annähern und bilateral eine friedliche Lösung Konflikts näher kommen.

Ein Allheilmittel für die Überwindung dieser Kluft bezüglich des gegenseitigen nicht- Kennens bzw. nicht-Anerkennens gibt es natürlich nicht. Immerhin aber hat man bezüglich der unblutigen Lösung von Konflikten in Zivilprozessen die Erfahrung gemacht, das es hilft, wenn man beiden Parteien Gelegenheit gibt, ihren Standpunkt darzulegen und dabei einmal einfach zuhört, bevor man überhaupt nur über eine Lösung diskutiert. Auf lateinisch:

Audiatur et altera pars.

Eigentlich wollte ich heute den von mir vielzitierten und vielkritisierten chinesischen Zhao Lijian heute verschonen. Immerhin feiert er heute seinen 50 Geburtstag, und es wäre ihm zu wünschen gewesen, dass er diesen nicht damit verbringt, an der täglichen Pressekonferenz des chinesischen Aussenministeriums mit unbequemen Fragen gelöchert zu werden. Da er sich aber ausgerechnet heute im Zusammenhang mit zwei Fragen des Korrespondenten von Reuters ausführlich zur Position Chinas zur Taiwanfrage geäussert hat, kommt er heute gleichwohl zu Wort, um die chinesische Sicht der Dinge zu präsentieren.

Der kanadische Vorwurf disruptiven (oder destruktiven?) Verhaltens und die Taiwanfrage

Zunächst nahm Zhao Lijian in der erwähnten Pressekonferenz des chinesischen Aussenministeriums vom 10. November 2022 im Kontext mit einer Äusserung der kanadischen Aussenministerin Mélanie Jolie Stellung. In einer Rede an der Munk School of Global Affairs & Public Policy bezeichnete die Ministerin China als zunehmend «disruptive» globale Macht, deren Werte zunehmend von den Unsrigen abweichen:

“China is an increasingly disruptive Global power. It seeks to shape the global environment into one that is more permissive for interests and values that increasingly depart from ours. […] what I would like to say to Canadians doing business in and with China, you need to be clear-eyed. The decisions you take as businesspeople are your own. As Canada’s top diplomat, it is my job to tell you that there are geopolitical risks linked to doing business with the country.” – Mélany Joly, Canada and the Indo-Pacific Region, 9. November 2022

Die Ausführungen von Aussenministerin Joly dienen lediglich dazu, die Ausführungen von Zhao Lijian in den Kontext zu setzen. Selbstverständlich soll nun erst einmal die Seite der Volksrepublik China zu Wort kommen (Pressekonferenz des chinesischen Aussenministeriums vom 10. November 2022, deutsche Übersetzung und Hervorhebungen durch die Autorin):

路透社者:加拿大外长乔利周三表演讲时称,中国日益成“破坏性”全球大国。你此有何评论

赵立坚:加方有关涉华言论违背事实,充满意识形态偏见,公然干涉中国内政。中方对此坚决反对,已经向加方提出严正交涉。我想强调三点:

第一,中国坚持和平发展,倡导开放包容,践行合作共赢,始终是世界和平的建设者、全球发展的贡献者、国际秩序的维护者。国际社会对此有目共睹。中国的发展是世界的机遇,是世界和平力量的增长,无论发展到什么程度,中国永远不称霸、永远不搞扩张。

第二,和平发展、合作共赢是时代潮流,也是亚太地区国家共同愿望。制定所谓“印太战略”是加方自己的事,但不管加方提出什么样的地区战略,宗旨都应该是互利共赢,而不是零和博弈。抱守冷战零和思维、挑动集团政治和阵营对抗的做法不得人心,也不会得逞。

第三,国与国关系只能建立在相互尊重、平等互利基础之上,中加关系也不例外。台湾、新疆、香港事务纯属中国内政,不容他国指手画脚。当前中加关系正处在十字路口,两国关系何去何从,关键在于加方能否回归理性务实轨道,客观公正地看待中国。

Reuters: In einer Rede am Mittwoch sagte die kanadische Aussenministerin Mélanie Jolly, dass China zunehmend zu einer «destruktiven» Weltmacht werde. Was ist Ihr Kommentar dazu? [Anmerkung der Übersetzerin: Die Aussenministerin sprach von «disruptiv» und nicht «destruktiv», auf der chinesischen Seite kam dies aber als 破坏性, d.h. «destruktiv» oder «zerstörerisch» an – ein Fall von «Lost in Translation».]

Zhao Lijian: Die Äusserungen der kanadischen Seite zu China widersprechen den Tatsachen, sind voller ideologischer Voreingenommenheit und mischen sich eklatant in die inneren Angelegenheiten Chinas ein. China ist strikt dagegen und hat sich bei der kanadischen Seite bereits förmlich beschwert. Ich möchte drei Punkte hervorheben.

Erstens beharrt China auf einer friedlichen Entwicklung, befürwortet Offenheit und Einbeziehung und praktiziert eine Zusammenarbeit, bei der beide Seiten gewinnen. Dies ist für alle in der internationalen Gemeinschaft offensichtlich. Chinas Entwicklung ist eine Chance für die Welt und eine wachsende Kraft für den Frieden in der Welt. Wie weit seine Entwicklung auch gehen mag, China wird nie einen Hegemonieanspruch erheben und sein Territorium niemals vergrössern.

Zweitens: Friedliche Entwicklung und Kooperation im gemeinsamen Interesse sind der Trend der Zeit und das gemeinsame Bestreben der Länder im asiatisch-pazifischen Raum. Die Formulierung der so genannten «Indo-Pazifik-Strategie» ist eine Angelegenheit der kanadischen Seite, aber welche regionale Strategie die kanadische Seite auch immer vorschlägt, das Ziel sollte der gegenseitige Nutzen und eine Win-Win-Situation sein und kein Nullsummenspiel. Der Ansatz, an der Nullsummen-Mentalität des Kalten Krieges festzuhalten und Blockpolitik und Konfrontation zwischen den Lagern zu provozieren, wird von der Bevölkerung nicht getragen und wird keinen Erfolg haben.

Drittens können die Beziehungen zwischen Ländern nur auf gegenseitigem Respekt, Gleichheit und gegenseitigem Nutzen beruhen, und die Beziehungen zwischen China und Kanada bilden da keine Ausnahme. Die Angelegenheiten von Taiwan, Xinjiang und Hongkong sind rein interne Angelegenheiten Chinas und andere Länder haben hier nicht dreinzureden [Anmerkung der Übersetzerin: Die von Zhao Lijian verwendete Redewendung 指手画脚 besagt bildlich gesprochen, dass jemand wild herumgestikuliert und herumtrampelt, und im übertragenen Sinne das jemand ungefragt in der Öffentlichkeit Bemerkungen macht bzw. Kritik übt]. Die Beziehungen zwischen China und Kanada befinden sich an einem Scheideweg, und der Schlüssel für die Zukunft der Beziehungen zwischen den beiden Ländern liegt darin, ob die kanadische Seite zu einem rationalen und pragmatischen Kurs zurückkehren und China auf objektive und faire Weise betrachten kann.

Die roten Linien der USA und die Taiwanfrage

Zhao Lijian hatte anlässlich der Pressekonferenz vom 10. November 2022 gleich noch ein zweites Mal Gelegenheit, sich zu Taiwan zu äussern. Dies im Zusammenhang mit einer Äusserung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, der im Rahmen einer Pressekonferenz am Mittwoch, 9. November 2022, gesagt hatte, er plane, Xi Jinping am Rande des G-20 Gipfels in Bali zu treffen gedenke und gemeinsam die «roten Linien» der beiden Länder zu ziehen, um die sStreitigen Punkte auszuloten. Dies betreffe insbesondere Taiwan. Konzessionen gedenke er nicht zu machen.

In diesem Zusammenhang äusserte sich Zhao Lijian anlässlich der Pressekonferenz des chinesischen Aussenministerium wie folgt (Pressekonferenz des chinesischen Aussenministeriums vom 10. November 2022, deutsche Übersetzung und Hervorhebungen durch die Autorin):

路透社者:美方周三表示,中美元首将于下周行会晤,其将就美方在多个问题上的“红线”等议题进讨论,且美方不会做出任何根本性步。外交部此有何评论

赵立坚:中美两国元首通过多种方式保持经常性联系。中方重视美方提出两国元首在巴厘岛举行会晤的建议,目前双方正就此保持沟通。

中方对美国政策立场是一贯的和明确的,我们致力于同美方实现相互尊重、和平共处、合作共赢,同时坚定捍卫自身主权安全发展利益。

台湾问题是中国核心利益中的核心,一个中国原则是中美关系政治基础中的基础,三个联合公报是中美关系最重要的“护栏”。美方应该做的是停止虚化、掏空、歪曲一个中国原则,恪守尊重他国主权和领土完整、不干涉内政的国际关系基本准则,回到中美三个联合公报和一个中国原则上来。中美经贸关系的本质是互利共赢。美方应停止将经贸问题政治化、工具化、意识形态化,以实际行动维护市场经济规则和国际贸易体系。国与国之间发展关系不是非此即彼。中方一贯主张发展不针对第三方的包容性伙伴关系,反对逼迫别国选边站队。

中方始终按照习近平主席提出的相互尊重、和平共处、合作共赢三原则看待和发展中美关系,主张推动构建新时期中美正确相处之道。美方应同中方相向而行,妥善管控分歧,推进互利合作,避免误解误判,推动中美关系重返健康稳定发展的正确轨道。

Reuters: Die US-Seite erklärte am Mittwoch, dass sich die Staatschefs Chinas und der USA nächste Woche treffen würden, um die «roten Linien» der US-Seite in einer Reihe von Fragen zu erörtern, und dass die US-Seite keine grundlegenden Zugeständnisse machen werde. Was sagt das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten dazu?

Zhao Lijian: Die Staatsoberhäupter Chinas und der Vereinigten Staaten stehen auf verschiedenen Wegen in regelmässigem Kontakt. China misst dem Vorschlag der USA, ein Treffen zwischen den beiden Staatsoberhäuptern in Bali abzuhalten, grosse Bedeutung bei, und die beiden Seiten unterhalten sich derzeit darüber.

Chinas politische Position gegenüber den Vereinigten Staaten ist konsequent und klar: Wir setzen uns für gegenseitigen Respekt, friedliche Koexistenz und eine für beide Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit mit den USA ein, während wir gleichzeitig unsere eigene Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen entschlossen verteidigen.

Die Taiwan-Frage steht im Zentrum der chinesischen Kerninteressen, das Ein-China-Prinzip bildet die politische Grundlage der chinesisch-amerikanischen Beziehungen, und die drei gemeinsamen Communiqués sind die wichtigsten «Leitplanken» der chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Die USA sollten aufhören, den Ein-China-Grundsatz auszuhöhlen und zu verfälschen, sich an die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen halten, d.h. die Souveränität und territoriale Integrität anderer Länder respektieren und sich nicht in deren innere Angelegenheiten einmischen, und zu den drei gemeinsamen Communiqués und dem Ein-China-Grundsatz zurückkehren. Der Kern der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen China und den USA ist der gegenseitige Nutzen und die Win-Win-Situation. Die US-Seite sollte aufhören, Wirtschafts- und Handelsfragen zu politisieren, zu instrumentalisieren und zu ideologisieren, und stattdessen praktische Massnahmen ergreifen, um die Regeln der Marktwirtschaft und des internationalen Handelssystems zu wahren. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Ländern ist nicht das eine oder das andere. China hat sich stets für die Entwicklung umfassender Partnerschaften eingesetzt, die nicht auf Dritte ausgerichtet sind, und lehnt es ab, andere Länder zu zwingen, sich für eine Seite zu entscheiden.

China hat die Beziehungen zwischen China und den USA stets im Einklang mit den drei von Präsident Xi Jinping vorgeschlagenen Grundsätzen des gegenseitigen Respekts, der friedlichen Koexistenz und der Win-Win-Kooperation betrachtet und entwickelt und sich für die Förderung des Aufbaus des richtigen Weges für das Miteinander von China und den USA in der neuen Ära eingesetzt. Die USA sollten sich in dieselbe Richtung wie China bewegen, Differenzen richtig handhaben, eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit fördern, Missverständnisse und Fehleinschätzungen vermeiden und die Rückkehr der Beziehungen zwischen China und den USA auf den richtigen Weg einer gesunden und stabilen Entwicklung vorantreiben.

Fazit

Zhao Lijian stellt sich zusammenfassend auf den Standpunkt, Taiwan stehe auf der gleichen Stufe wie Hong Kong und Xinjiang. Alles gehöre zu «Ein-China». In allen drei Fällen dulde China keine Einmischung. Eine Begründung, weshalb Taiwan zu «Ein-China» gehört, sucht man vergeblich.

Ebenso vermisst man jegliche Bezugnahme auf die taiwanesische Perspektive. Es ist davon die Rede wiederholt davon die Rede, was die USA sollte. Taiwan wird gar nicht erst zur Kenntnis genommen – es fehlt schon an der von Lester B. Pearson skizzierten Grundvoraussetzung für eine friedliche Konfliktlösung, dass die Volksrepublik China Taiwan als Gegner kennt, geschweige denn versteht.


Die Autorin Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua) hat nach ihrem Studienabschluss in der Schweiz an der Tsinghua University in Beijing von 2008 bis 2009 einen Masterabschluss im chinesischen Recht erworben und von 2013 bis 2015 an der Beijing Language and Culture University und an der National Chengchi University in Taipei die chinesische Sprache studiert.