Europa und China: Partner oder Rivalen?

Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat sich zu einer umstrittenen Stippvisite in die Höhle der Wölfe begeben. Das Ziel des Besuchs ist unklar: soll dem zu neuer Machtfülle gelangten Herrscher Xi Jinping der Kotau erwiesen werden? Soll Öl auf die Wogen geschüttet werden, nachdem der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock zu verstehen gegeben wurde, jeder der sich auf die Seite Taiwans stelle, würde der Kopf blutig geschlagen? Oder sind Deutschland tatsächlich Partner, und nicht Rivalen, wie der Wolf Warrior Zhao Lijian behauptet? Und welche Folgen sind von diesem symbolträchtigen Besuch für die umliegenden Länder in Europa zu erwarten?

von Maja Blumer, 9. November 2022

Ein Blitzbesuch der in die Weltgeschichte eingehen könnte

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz statte Beijing einen Blitzbesuch ab, im Schlepptau diverse hochkarätige Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft, Automobilindustrie und Chemie. Er tat dies ausdrücklich auch als Vertreter Europas, Scholz selbst sagte dazu:

 “…if I am traveling to Beijing as Germany’s federal chancellor, I’m also doing so as a European.” – Bundeskanzler Olaf Scholz, Politico, 3. November 2022

Somit kann dieser Besuch nicht als rein innerstaatliche Angelegenheit abgetan werden, sondern betrifft unter anderem auch die Schweiz.

Deutsch-chinesische «Partnerschaft» als Einbahnstrasse? Gasse in Beijing (Bild: privat)

Scholz lässt durchblicken, der Besuch sei mit Präsident Macron und den «transatlantischen Freunden» (USA, Australien?) abgesprochen worden und natürlich müsse Europa eine einheitliche Linie verfolgen. Mindestens letzteres wirkt wenig glaubwürdig, da noch nicht einmal innerhalb Deutschland Einigkeit bezüglich des Umgangs mit China besteht – eine entsprechende Strategie der Ampelkoalition ist noch in Arbeit.

Wenn Bundeskanzler Scholz als Vertreter Europas und aufgrund geheimer Absprachen mit Präsident Macron und anderen «Partnern» agiert, so muss die Frage erlaubt sein, was er denn mit diesem Besuch bezweckt. Seine Aussagen dazu sind allerdings äusserst vage. Man wolle sich nicht von China abkoppeln, aber gleichzeitig nicht übermässig abhängig von der Volksrepublik China machen, so die Scholz’sche Formel. Schön und recht, doch wie soll das konkret gehen?

Doch was bezweckte der Besuch von Bundeskanzler Scholz im Reich der Mitte nun wirklich? Und was hat er tatsächlich erreicht?

Der grosse Kotau?

Vielerorts wird vermutet, der Besuch habe lediglich dazu gedient, den Kotau vor Xi Jinping zu machen, der ihm im Rahmen der olympischen Spiele in Beijing versagt blieb, weil sich westliche Politiker unter dem Vorwand von Covid davor drücken konnten. Scholz mache sich damit «zur Popanz für Propagandazwecke».

Dem mag so sein. Doch hat nun einmal der Kotau in China eine lange Tradition, der man sich nicht leicht entziehen kann. Dies mussten die Vertreter im Reich der Mitte seit jeher zur Kenntnis nehmen. Der einzige, der beim chinesischen Kaiser nicht zu Kreuze kriechen wollte, war Lord Macartney, der auf seiner Mission in China Kaiser Qianlong 1793 den Kotau verweigerte. Mit dem Resultat, dass er die von der britischen Regierung gesetzten Ziele vorerst nicht erreichte. Ob das dem britischen Königreich zum Nachteil gereichte, ist eine andere Frage. Der Auftrag von Lord Macartney war nämlich, China

«von seinem wirklichkeitsfremden Postulat einer sinozentrischen Weltordnung, der Ungleichheit anderer Staaten gegenüber China und dem Recht des chinesischen Reiches, sich je nach eigenem Gutdünken handelspolitisch und diplomatisch von der übrigen Welt zu isolieren.» – Kindermann, Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik 1840-2000, S. 418.

Hätte sich Lord Macartney tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes «beknien lassen», wäre das chinesische Weltbild noch stärker zementiert worden und eine Verhandlung auf Augenhöhe über den gewünschten Handelsvertrag wären jedenfalls in noch weitere Ferne gerückt. Bestenfalls wäre Grossbritannien – damals die führende Weltmacht – gnädigst einige Vorteile gewährt worden, wenn es sich in die Reihe der Tributstaaten wie Korea, Vietnam und den zentralasiatischen Ländern eingeordnet hätte.

Die Tradition des Kotaus in seiner physischen Form verlor schon im 18. Jahrhundert an Boden und wurde mit der Republik China aufgegeben. Nach der Ausrufung der Volksrepublik China erlebte der «Kotau mit chinesischen kommunistischen Charakteristiken» ab 1949 ein Revival. Zwar nicht mehr im Sinne des physischen Niederwerfens, aber im Sinne der bedingungslosen Befolgung der Edikte des Herrschers, Mao Zedong. Kern des Kotaus war seit jeher die Anerkennung, dass der eigene Staat ein tributpflichtiger Vasallenstaat des chinesischen Kaisers ist, der gewisse Eingriffe in die Souveränitätsrechte zu dulden hat, beispielsweise im Falle Koreas die Abänderung von dem chinesischen Herrscher nicht genehmer Geschichtsschreibung, Tributgeschenke, das Einholen von Genehmigungen für die Heiraten im Königshaus etc. (Klaus Mäding, Tributsystem und Weltherrschaftsanspruch Chinas, ZWG 2003, S. 50).

Anzumerken ist, dass es derjenige, der den Kotau vor der Volksrepublik China macht, nicht notwendigerweise einen Gewinn daraus zieht. Das erlebte unter anderem die Schweiz, welche 1950 eines der wenigen westlichen Länder der maoistischen Order folgte, alle Beziehungen zu Taiwan abzubrechen, in der Hoffnung, seine Handelsbeziehungen zum maoistischen China retten zu können. Eine Hoffnung, die sich in den Folgejahren zerschlug (der erhoffte Handelsvertrag wurde erst 1974 abgeschlossen), ebenso wie die Hoffnung, sich durch die Anerkennung Chinas aus der politischen Isolation zu retten, in welche die Schweiz nach dem zweiten Weltkrieg geraten war.

Seit der Machtübernahme durch Xi Jinping erlebt der Kotau in der Volksrepublik China eine Wiederbelebung. 1945 rief Mao in seiner Resolution zur Geschichte auf, Fehler aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen und in Zukunft zu vermeiden. Dazu gehörte insbesondere das Desaster, welches nicht zuletzt Resultat Fehleinschätzung der Qing-Dynastie hinsichtlich der Rolle von Lord Macartney und des britischen Empires war, die als Mitursache für den Niedergang der Qing-Dynastie betrachtet wird. Aus der Mao-Zeit sind entsprechend relativ wenige Beispiele zum Kotau dokumentiert. In der zweiten Resolution zur Geschichtsrevolution würde 1981 zwar die ganze Verantwortung der desaströsen Politik der Kulturrevolution auf Mao bzw. auf die «Viererbande» geschoben, was auch eine Wiederbelebung des Kotaus mit chinesischen kommunistischen Charakteristiken möglich machte. Immerhin zog Deng Xiaoping aber seine Lehren aus der Geschichte, was die Wirtschaft anging. Dies änderte sich mit der dritten Geschichtsrevision 2021 durch Xi Jinping und der Verankerung von dessen Ideologie. Sie geht von der Prämisse aus, dass China nun im Zentrum der Welt steht und dass es nichts als recht ist, dass andere Länder zum Kowtow antreten. Victor Shih, Professor an der UC San Diego führte dazu aus:

“Xi has increasingly surrounded himself in a cocoon of very favorable facts and he is not going to have very good understanding of what’s happening in the rest of the world. He may become so surrounded in the cocoon that he doesn’t take very seriously what other countries do or say about China … so misunderstandings and misperceptions may become more serious over time. … He’s rewriting history because he believes in a lot of it, and the notion that China is now center stage so that other countries have to kowtow to China and not the other way around.” – Victor Shih, Professor an der UC San Diego

Der Kotau von Bundeskanzler Scholz mag politisch geboten gewesen sein. Leider macht es den Eindruck, dass wie bei Lord Macartney die Verständigungsversuche bereits beim Begrüssungszeremoniell scheiterten – ob trotz oder wegen dem grossen Kotau ist nicht ganz klar. Selbst ein unbedarfter Beobachter, der die asiatischen Gepflogenheiten nicht kennt, muss aufgrund der Bilder zum Schluss kommen, dass Bundeskanzler Scholz von Xi Jinping nicht mit dem einem Staatsoberhaupt gebührenden Respekt behandelt wurde; dass es nicht nur der fehlende Handschlag bzw. das fehlende «Fäusteln» war, haben die deutschen Medien allerdings übersehen. In chinesischsprachigen Kreisen wurde der Affront, der in der Behandlung des deutschen Gastes durch das chinesische Staatsoberhaupt weitherum diskutiert.

Besonders deutlich kommt dieser Affront bei der Begrüssung durch Xi Jinping zum Ausdruck. Xi Jinping «begrüsste» Scholz mit den Worten «矮,你好, 我们照个片».

Man kann diese «Begrüssung» wahlweise als «Ah, hallo, lass uns mal ein Photo schiessen» oder «Hallo Kleiner, lass uns mal ein Bildchen machen» übersetzen. So spricht man in China ein kleines Kind oder einen Hund an, bestenfalls einen engen Freund, mit dem man einen engen Umgang pflegt. Sicher nicht einen Staatsgast, den man zum ersten Mal sieht. Das weiss auch Xi Jinping, der aus einem Land kommt, in dem «Gesicht wahren» (留面子)und «Gesicht geben» (给面子), Gesicht verlieren, (丢面子) von zentraler Bedeutung ist.

Was Bundeskanzler Scholz nach diesem unglücklichen Start gesagt hat, erfährt man aus den chinesischen Medien nicht. Man sieht Scholz im chinesischen Staatsfernsehen, wie er scheinbar andächtig den Worten des grossen Führers lauscht. Zwar wird auch kurz wiedergegeben, was Scholz gesagt haben soll, aber selbstverständlich nichts, was auch nur als leiseste Kritik verstanden werden könnte. Insbesondere die im Westen gefeierten Aussagen von Xi Jinping zum Einsatz von Atomwaffen an die Adresse Russlands fanden in den Berichten dervon den offiziellen Medien in China bzw. in der Berichterstattung des chinesischen Aussenministeriums keine Erwähnung. Bezüglich Xinjiang hatte das chinesische Aussenministerium zum Vornherein klargemacht, dass keine Gesprächsbereitschaft bestand, und es bestehen auch keine Anzeichen, dass diese Themen angesprochen wurden. Auch wenn Bundeskanzler Scholz sicher zugute zu halten ist, dass er dies versucht hat.

Zum Kotau mit chinesischen Charakteristiken gehören natürlich auch Tributzahlungen. Und tatsächlich haben Bundeskanzler Scholz und die Vertreter der Industrie, die ihn begleiteten, gewichtige Gastgeschenke mitgebracht: Scholz selber drückte den Entscheid durch, dass die staatlich kontrollierte COSCO einen Anteil am Hamburger Hafen erwerben kann. Der deutsche Chemieriese BASF plant die Verlagerung energieintensiver Unternehmenszweige nach China – ausgerechnet in ein Land, das von Erdölimporten komplett abhängig ist und den grössten Teil seines Energiehungers weiterhin mit Kohle stillt. BMW will die Produktion des elektrischen Mini Coopers von Grossbritannien nach China verlagern. Und die Deutsche Bank gab bekannt, «Panda Bonds» (in Renminbi denominierte Schuldverschreibungen für ausländische Gläubiger) auflegen zu wollen.

Diese Gastgeschenke haben vorderhand symbolischen Charakter. Sie sollen das Vertrauen beweisen, das Deutschland China entgegenbringt. Dies brachte die China-Chefin der Deutschen Bank, Rose Zhu, auf den Punkt:

The issuance showcases the bank’s confidence in the future of China’s capital market and the prospect of RMB (renminbi) as a global currency, as well as demonstrating our long-term commitment in China. – Rose Zhu, Deutsche Bank

Ob dieses Vertrauen von Konsumenten und Investoren geteilt wird und diese dem Etikettenschwindel bezüglich chinesischen Autos mit britischer Marke und chinesischen Bonds mit Gütesiegel der Deutschen Bank aufsitzen, wird abzuwarten sein. Ebenso wird abzuwarten sein, woher China die Rohstoffe importieren will, damit BASF und BMW kostengünstig produzieren können.

Auffallend ist, dass ausgerechnet der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Christian Sewing, der vor wenigen Tagen im Schlepptau von Bundeskanzler Scholz nach Beijing pilgerte und dessen Bank Panda Bonds auflegte, plötzlich ganz neue Töne anschlägt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand am 7. November 2022 die Schlagzeile zu lesen:

«China ist das neue Risiko.» – Cristian Sewing, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank.

Sewing war mit seinem plötzlichen Sinneswandel nicht allein. Kurz darauf untersagte die deutsche Bundesregierung den Einstieg chinesischer Unternehmen bei deutschen Firmen. In einem Fall handelt es sich um die Dortmunder Firma Elmos, welche in der Chipfertigung tätig ist, im anderen Fall handelt es sich mutmasslich um die Halbleiterfirma ERS Electronic. In beiden Fällen war die Begründung, es gehe um die Sicherheit in Deutschland und den Schutz kritischer Infrastruktur – eine Begründung, die auch im Falle des Hafens Hamburg nachvollziehbar gewesen wäre.

Ist dieser Sinneswandel und die damit verbundene nachträgliche Verweigerung des Kotaus durch Bundeskanzler Scholz dem verunglückten Empfang durch Xi Jinping zu verdanken? Oder ist der Grund, dass die Gegenleistungen von chinesischer Seite ausgeblieben sind, die angesichts der von Bundeskanzler mitgebrachten «Gastgeschenke» üblicherweise zu erwarten gewesen wären? Im alten Tributsystem, konnten die Länder, welche vor dem chinesischen Herrscher den Kotau machten, nämlich immerhin wertvolle Gegengeschenke und allenfalls auch Hilfe gegen äussere Bedrohungen erwarten. Gilt diese alte Regel beim Kotau mit chinesischen kommunistischen Charakteristiken nicht mehr?

Öl auf die Wogen giessen?

Dieser Kotau und die damit verbundenen Geschenke, deren Vorteile für Deutschland weder in politischer noch wirtschaftlicher Hinsicht so recht nachvollziehbar sind, wecken den Eindruck, dass es nicht primär darum ging, dem scheinbar in seiner Machtposition bestätigten Xi Jinping die Ehre zu erweisen. Vielmehr scheint die deutsche Regierung aus einer Notlage heraus gehandelt zu haben. Vielleicht, weil die Vertreter von Finanzen und Industrie in China die Felle davonschwimmen sehen?

Dies ist insofern plausibel, als nun «plötzlich» allen klar wird, dass etwas mit dem chinesischen Bruttosozialprodukt nicht stimmt, chinesische Importe und Exporte wegbrechen oder die chinesiche Nachfrage nach Rohöl und Computerchips plötzlich verschwindet – wobei hier wie immer der Grundsatz gilt: Glaube keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast. Es ist keine Neuigkeit, dass die Zero-Covid-Policy je länger je verheerendere Auswirkung auf Wirtschaft und Volksgesundheit hat und der Volkszorn nur mit immer drakonischeren Massnahmen unter Kontrolle gehalten werden kann, und zwar überall, nicht nur in notorischen Krisenherden wie Tibet, sondern auch in Shenzhen, Wuhan, Lanzhou und anderswo. Das Aussergewöhnliche daran ist nur, dass selbst unter der Kontrolle der chinesischen kommunistischen Partei stehenden Medien neuerdings hie und da erlaubt wird, darüber zu berichten, wie etwa im Fall der Massenflucht der Foxconn-Mitarbeiter – was allerdings eine Warnung an Taiwan sein dürfte, wo Foxconn seine Wurzeln hat.

Mit anderen Worten gebieten die aktuellen Entwicklungen, einen geordneten Rückzug aus der Volksrepublik China anzutreten. Nur: wie tut man dies, wenn man derart wirtschaftlich verbandelt ist, wenn man nicht riskieren will, mehr Geschirr zu zerschlagen als unbedingt nötig?

Ein geordneter Rückzug ist umso schwieriger, als die geopolitischen Risiken, auf die Christian Sewing von der Deutschen Bank nun hinweist, wurden von der deutschen Wirtschaft lange beiseitigeschoben wurden. In geopolitischer Hinsicht spielt Deutschland ein besonders gefährliches Spiel. Das Wirtschaftswunder «nach der Wende» hat im Wesentlichen darauf beruht, billiges Gas aus Russland zu importieren und sich bezüglich Handel immer mehr von China abhängig zu machen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Vorleistungen für die florierenden Exporte.

Für das Jahr 2021 wurde zum sechsten Mal in Folge vermeldet, die Volksrepublik China sei der wichtigste Handelspartner, mit Exporten im Wert von 103,6 Milliarden Euro und Importen von 103,6 Milliarden Euro. Die milliardenhohen Verluste im Handel mit der Volksrepublik China machte mit Exportüberschüssen in die USA (49,7 Milliarden Euro), Frankreich (40,8 Milliarden Euro) und Grossbritannien (32,8 Milliarden Euro) spielend wieder wett. Wenn die Quellen für billige Importe auf der einen Seite versiegen und andererseits die wichtigsten Abnehmer in den Nato-Staaten genauer hinschauen, woher die Ware tatsächlich kommt, hat die deutsche Wirtschaft ein Problem. (Die Schweiz sitzt hier im gleichen Boot, nur fehlt hier die Rückendeckung, welche bei Deutschland immerhin durch die Einbindung in die Nato und die EU gewährleistet ist).

Und dann ist noch die Sicherheitspolitik. Abgesehen vom Krieg in der Ukraine, den Russland mit Rückendeckung der Volksrepublik China durchaus auf andere europäische Länder ausdehnen könnte, dem eskalierenden Konflikt um Taiwan und weiteren Staaten, inklusive den Nato-Partnern, steht da noch die Frage im Raum, wer die beiden Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 in die Luft gesprengt hat. Wobei das eher eine rhetorische Frage sein dürfte, jedenfalls für die Geheimdienste, die Mitarbeiter haben, die 1 und 2 zusammenzählen können und die gewillt sind, auch Indizien zu beachten, welche sich ausserhalb von Bekennerschreiben der «üblichen Verdächtigen» bewegen. Dasselbe dürfte für die Sabotage auf das Funknetz der Deutschen Bahn in Norddeutschland gelten. Bevor noch weitere Anschläge auf die essentielle Infrastruktur Deutschlands drohen – etwa auf den Hamburger Hafen mit dem neuen «Partner» COSCO – tut Deutschland gut daran, die sicherheitspolitische Situation so gut wie möglich zu deeskalieren.

Ob der Besuch von Bundeskanzler Scholz bei Xi Jinping dazu bestimmt und vor allem auch geeignet war, die der deutschen Industrie davonschwimmenden Felle zu retten und gleichzeitig die geopolitisch brenzlige sicherheitspolitische Situation zu entschärfen, wird die Zeit weisen. Wenn der Besuch tatsächlich diesem Ziel diente, so war es mindestens einen Versuch wert, sich ohne langes Zögern in die Höhle der Wölfe zu wagen und den dazu nötigen Kotau zu vollziehen.

China als «strategischer Partner» Deutschlands?

Dies und jenseits des Atlantiks hat der Besuch von Bundeskanzler Scholz in der Volksrepublik China Misstrauen geschürt. Dies insbesondere in den USA, die bereits im Zusammenhang mit der Anbiederung Deutschlands bei Russland im Zusammenhang mit den Projekten Nordstream 1 und 2 Bedenken geäussert hatten und auch bezüglich einem Kontrollerwerb der chinesischen Cosco im Hamburger Hafen gewarnt hatten (dass der Anteil auf 24,9% beschränkt wurde, schliesst die Ausübung faktischer Kontrolle keineswegs aus). Was am 3. November 2022 notabene trotz Genehmigung des Übernahmevorhabens prompt das chinesische Aussenministerium auf den Plan rief, der den USA vorwarf, die USA mische sich in Angelegenheiten seiner «Partner» ein und verfolge eine schädliche «might is right mentality and coercive diplomacy».

In derselben Pressekonferenz des chinesischen Aussenministeriums vom 3. November 2022 hiess der wohl berühmteste Diplomat und Wolf-Warrior Chinas, Zhao Lijian, den deutschen Bundeskanzler Scholz willkommen und betonte, Deutschland sei ein «strategischer Partner» Chinas. Das klingt nett, jedenfalls netter als die Worte, welche derselbe Diplomat am 25. Juli 2022 im Zusammenhang mit der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock gewählt hat, der er gedroht hatte, dass jeder, der sich bezüglich Taiwan einmische, sich den Kopf blutig schlagen würde (必将碰得头破血流). Anzumerken ist: Inzwischen verwendet Zhao Lijian die etwas unblutigere Version von «一败涂地», die in etwa mit «komplett plattgemacht» übersetzt werden kann.

Trotz der etwas netteren Wortwahl ist das Statement des chinesischen Aussenministeriums keineswegs harmlos und verdient, in seiner Gesamtheit gewürdigt zu werden, und zwar (für diejenigen, welche die Sprache beherrschen) in der chinesischen wie auch in der deutschen Fassung:

法新社记者:德国总理朔尔茨昨天发文表示,在访华期间不会忽视有争议的问题,会谈及人权、新疆少数民族权利、自由贸易等话题。他还表示,中德在建立对等互惠的双边关系方面还有差距。请问中方是否愿意在这些问题上与德方进行讨论?朔尔茨总理的表态会否影响中方对此次访问的期待?

赵立坚:中方期待朔尔茨总理任内首次访华取得成功。中德是全方位战略伙伴,今年是两国建交50周年,半世纪以来的交往合作已充分证明,两国的共识远多于分歧,合作远大于竞争,双方是伙伴而不是对手,均从对方的发展和中德务实合作中获益。发展好中德关系不仅惠及两国,也有利于中欧和世界。中方愿继续秉持务实合作、互利共赢的主基调,同德方一道推动双边关系进一步发展,为世界和平稳定贡献更多力量。

关于你提到的中德之间的一些分歧,比如在涉疆问题上,涉疆问题是中国的内政。中方在这些问题上的立场是一贯、明确的。中国的内部事务不容外部势力干涉。关于所谓的“中国人权问题”,中国一贯尊重和保障人权,是世界人权事业的重要贡献者。促进和保护人权是全人类共同的事业。中方愿在平等和相互尊重的基础上同各方开展人权对话与交流,推动全球人权治理朝着更加公平公正合理包容的方向发展。但中方反对以讨论人权问题为幌子,干涉中国内政,对中国进行污蔑抹黑。

AFP: Der deutsche Bundeskanzler Scholz sagte gestern in einer Botschaft, dass er bei seinem Besuch in China kontroverse Themen nicht ausklammern werde und Themen wie Menschenrechte, die Rechte ethnischer Minderheiten in Xinjiang und Freihandel ansprechen werde. Er sagte auch, dass es in den bilateralen Beziehungen zwischen China und Deutschland noch Lücken in Bezug auf Gegenseitigkeit und gegenseitigen Nutzen gibt. Wäre die chinesische Seite bereit, mit der deutschen Seite über diese Fragen zu diskutieren? Wird die Erklärung von Bundeskanzler Scholz die Erwartungen der chinesischen Seite an den Besuch beeinflussen?

Zhao Lijian: China erwartet dass der erste Besuchs von Bundeskanzler Scholz in China während seiner Amtszeit erfolgreich sein wird. China und Deutschland sind in jeder Hinsicht strategische Partner, und in diesem Jahr jährt sich die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern zum 50 Mal. Ein halbes Jahrhundert des Austauschs und der Zusammenarbeit hat bewiesen, dass die beiden Länder mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede und mehr Kooperation als Konkurrenz an den Tag gelegt haben; die beiden Seiten sind Verbündete und nicht Gegner. Beide Seiten profitieren von der Entwicklung und der praktischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China. Der Nutzen der Entwicklung deutsch-chinesischen Beziehungen betrifft nicht nur die beiden Länder, sondern dient auch Europa und der ganzen Welt. China ist gewillt, den Grundsatz der pragmatischen Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten und und auf der Basis der beidseitigen Interessen mit Deutschland zusammenzuarbeiten, um die weitere Entwicklung der bilateralen Beziehungen zu fördern und verstärkt zu Frieden und Stabilität in der Welt beizutragen.

Was einige der von Ihnen erwähnten Streitfragen zwischen China und Deutschland betrifft, zum Beispiel die Frage von Xinjiang, handelt es sich um eine interne Angelegenheit Chinas. Chinas Position zu diesen Fragen ist konsequent und klar. In die inneren Angelegenheiten Chinas dürfen sich keine äusseren Kräfte einmischen. Zu den so genannten «Menschenrechtsfragen in China» ist zu sagen, dass China die Menschenrechte immer geachtet und geschützt hat und einen wichtigen Beitrag zur Sache der Menschenrechte in der Welt leistet. Die Förderung und der Schutz der Menschenrechte ist ein gemeinsames Anliegen der gesamten Menschheit. China ist bereit, mit allen Parteien einen Menschenrechtsdialog und -austausch auf der Grundlage von Gleichheit und gegenseitigem Respekt zu führen und die globale Menschenrechtspolitik in eine fairere, gerechtere, vernünftigere und integrativere Richtung zu lenken. China lehnt jedoch jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas und jede Verleumdung Chinas unter dem Deckmantel der Erörterung von Menschenrechtsfragen ab.

Der zweite Teil ist klar: Seitens der Volksrepublik China besteht keine Bereitschaft, irgendwelche «Dialoge» bezüglich Menschenrechten im Allgemeinen oder Xinjiang im Speziellen zu führen; solche «Dialoge» als Feigenblatt zu nehmen, um Gespräche über die Verfolgung von wirtschaftlichen Interessen zu verwenden, dient weder dazu, die Menschenrechte zu verbessern noch die Gesprächsbereitschaft der chinesischen Seite zu erhöhen. Wenn es Bundeskanzler Scholz gleichwohl versucht hat, diese Themen anzusprechen, dass die geringste Aussicht bestand, damit bei Xi Jinping Gehör zu finden, ist unwahrscheinlich.

Der erste Teil, in dem Zhao Lijian die Ziele des Staatsbesuches des deutschen Bundeskanzlers aus Sicht des Gastgebers absteckt, hat es in sich. Einmal mehr kommt eine Formulierung zum Zug, die der berühmte chinesische Diplomat schon einmal verwendet hat. Bereits im Juli 2022 twitterte Zhao Lijian in einem etwas verunglückten Tweet auf dem chinesischen Portal Weibo, China und Europa seien keine Gegner sondern Verbündete.

Diese Formulierung, welcher Bundeskanzler Scholz soweit ersichtlich weder verbal noch non-verbal widersprochen hat, wirft die Frage auf: Wenn China und Deutschland Verbündete sind, gegen wen haben sie sich verbündet? Etwa dem anderen «Partner» Deutschlands, den USA, dem Zhao Lijian in der gleichen Pressekonferenz harschen Worten Einmischung in innerdeutsche Angelegenheiten vorwirft? Ein Vorwurf, der umso unberechtigter ist, weil ungenügende Massnahmen zur Wahrung der Sicherheitsbedürfnisse Deutschland die USA sehr wohl betreffen, welche aufgrund V der Nato-Charta Beistand zu leisten hat, wenn Deutschland angegriffen wird und auch berechtigt ist, zu verlangen, konsultiert zu werden, wenn nach sie zum Schluss kommt, dass «die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.»

Versucht hier Zhao Lijian als Repräsentant der Volksrepublik China, Deutschland gegen die anderen Nato-Mitglieder aufzuwiegeln, einen Keil zwischen Deutschland und die anderen Nato-Länder zu treiben? Das wäre ziemlich genau das, was die Nato-Partner Deutschlands befürchteten. Dass eine derartige «Partnerschaft» mit China, das sich schützend vor Putin und Kim Jong-un stellt, dürfte wohl weder im wirtschafts- noch im sicherheitspolitischen Interesse sein. Vielleicht sollte Bundeskanzler Scholz die im Rahmen seines Blitzbesuchs von ihm und seinen Reisebegleitern gemachten «Geschenke» an die Volksrepublik China noch einmal gründlich überdenken, nach dem Motto:

Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, grosse nähren den Verdacht.

Folgen für die umliegenden Länder

Andere europäische Länder sollten sich angesichts des unterkühlten Empfangs von Bundeskanzler Scholz überlegen, ob sie wirklich in dessen Fussstapfen treten und den «Kotau mit chinesischen Charakteristiken» machen wollen, mit dem Risiko, sich nicht nur zur «Popanz für Propagandazwecke» missbrauchen zu lasen, sondern zum Spaltpilz hinsichtlich gemeinsamer europäischer Anliegen zu machen. Man darf annehmen, dass Bundeskanzler Scholz und seine Delegation achtenswerte Gründe hatten, Xi Jinping einen Besuch abzustatten. Aber zu erwarten, dass ein solcher Besuch andere Resultate bringen würde, als bei Bundeskanzler Scholz, wäre bestenfalls naiv und schlimmstenfalls gefährlich.

Dies sollte sich besonders die Schweiz zu Herzen nehmen. Ähnlich wie Deutschland ist sich bezüglich der Handelsbeziehungen inzwischen recht stark von China abhängig, Zwar war die Volksrepublik China bei konjunktureller Betrachtung nur noch viertgrösster Handelspartner der Schweiz, aber aufgrund der starken Abhängigkeit von Deutschland als grösstem Handelspartner (mit einem kumulierten Handelsvolumen von 99’309 Mio. CHF macht Deutschland fast einen Fünftel des gesamten schweizerischen Aussenhandels aus) hängt die Schweiz mitten drin, wenn die deutsche Sicherheits- und Aussenpolitik versagt. Mit dem Unterschied, dass im Gegensatz zu Deutschland keine Bündnispartner bereitstehen, die vertraglich verpflichtet sind, der Schweiz aus der Patsche zu helfen.

Die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen begrüsst den britischen Handelsminister Greg Hands. Mit Handschlag, und jedenfalls nicht mit den Worten «Hallo Kleiner, lass uns mal ein Bildchen machen.» (Bild: CNA / https://www.taiwannews.com.tw/en/news/4712289)

Und noch ein Unterschied besteht zwischen der Schweiz und Deutschland bzw. anderen EU-Ländern: Während sich Scholz zu einem Staatsbesuch in der Volksrepublik China aufgemacht hat, haben gleich zwei Parlamentarierdelegationen kurz zuvor der Republik China einen Besuch abgestattet, welche trotz dem Fehlen diplomatischer Beziehungen von der taiwanesischen Präsidentin Tsai Ing-wen beide Male mit gebührendem Respekt empfangen wurden – trotz fast wöchentlichen Staatsbesuchen aus Staaten, welche Taiwan anerkennen (welche mit allen militärischen Ehren empfangen werden), laufendem Wahlkampf und zahlreichen Gästen aus anderen Ländern wie etwa dem britischen Handelsminister Greg Hands. Den Präsidentin Tsai mit Handschlag und sicherlich mit respektvollen Worten begrüsste.