Grande Dame trifft Exzellenz: Warum der Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan so wichtig ist

Die Grande Dame der amerikanischen Politik, ihre Exzellenz Frau Nancy Patricia Pelosi, ihres Zeichens Sprecherin des U.S. Repräsentantenhauses und damit nach dem Präsidenten und der Vizepräsidentin dritthöchstes Mitglied der amerikanischen Regierung, traf bei einem Zwischenhalt in Taiwan ihre Exzellenz Frau Prof. Tsai Ing-wen, zur Zeit die mächtigste Frau der Welt[1], welche als Staatsoberhaupt eines Landes fungiert, zugleich auch als Oberkommandantin einer der grössten Armeen der Welt mit 1’820’000 Soldaten (Aktivdienstleistende und Reservisten). Sie wird gemäss der Verfassung ihres Landes als «Präsidentin» bezeichnet, auch wenn uns kürzlich vom Sprecher des Aussenministerium der Volksrepublik China beschieden wurde, Taiwan habe keine Präsidentin[2].

Nun wurde um den Besuch von Pelosi ein grosses Aufheben gemacht, so dass man hätte denken können, es breche wegen ihr, und wegen ihr allein, nun gleich der dritte Weltkrieg aus[3]. Gleichzeitig fanden viele Kommentatoren, Pelosi gehe ein übermässiges grosses Risiko «für nichts» ein. Im von Steuergeldern finanzierten Schweizer Staatsfernsehen wurde etwa gekrittelt, der «Besuch der alten Dame» sei «brandgefährlich» und «der Besuch wird kein Problem lösen, kein positives Ergebnis bringen»[4]. Das wusste der «Diplomatie-Experte» Fredy Steiger notabene bevor der Besuch der Grande Dame der amerikanischen Politik überhaupt richtig begonnen hat (sie traf spätabends in Taipei ein und wird zum Zeitpunkt, als diese Aussage gemacht wurde, hoffentlich den Schlaf der Gerechten geschlafen haben). 

Ein echter Diplomatie-Experte trifft Grande Dame auf dem Flughafen Songshan in Taipei. (Bild: Screenshot/MOFA)

Vor allem ist die Aussage des «Diplomatie-Experten» des Schweizerfernsehens vor dem Hintergrund der angesprochenen Klassiker von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt gegenüber Ms. Pelosi ziemlich beleidigend. Harry Potter wäre vielleicht passender gewesen – nicht nur, weil Pelosi von chinesischen Hackern als «Old Witch»[5] bezeichnet wurde – sondern weil sie tatsächlich ein bisschen etwas von der Figur von Minerva McGonagall hat, die in jeder Situation Haltung bewahrt. Hexe ist so gesehen keine Beleidigung (obwohl das vielleicht so gemeint war, schliesslich wurde Harry Potter nach der Zensur in der Volksrepublik China auch vom Hexer zum «Magier»). Und «alt» ist im Falle von Ms. Pelosi keine Beleidigung, zählt sie doch schon 82 Jahre. Und falls sie doch beleidigt war, so hat sie Haltung bewahrt und sich nichts anmerken lassen.

Haltung bewahren – hatte das nicht etwas mit Diplomatie zu tun? Im Französischen, der Sprache der Diplomaten, spricht man von «faire bonne contenance» wenn jemand in einer schwierigen oder delikaten Situation Festigkeit, Mut und «l’aplomb» beweist[6]. Die Briten sprechen von «keep a stiff upper lip», und auch bei den Amerikanern gehört «Composure» zu den «Relational Skills» eines erfolgreichen Diplomaten oder Aussenpolitikers[7]

Neben der Fähigkeit, Haltung zu bewahren, gehören zweitens dazu auch noch «Leadership», die Fähigkeit, auf Basis der vorhandenen Informationen zu Handeln und dabei das grosse Ganze im Auge zu behalten[8]

Drittens gehört dazu die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, dazu gehört auch das, was man in der Entwicklungspsychologie die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme bezeichnet und erlaubt, die Haltung des Gegenübers zu erkennen und eine gemeinsame Basis zu finden[9]

Zwei Exzellenzen im Gespräch vertieft. (Bild: Screenshot/MOFA)

Der Besuch von Nancy Pelosi hatte sehr viel mit diesen «Relational Skills» zu tun. Will ihr wirklich jemand die «Composure» absprechen, und ich meine nicht, dass sie die steile Treppe ihres Fliegers in High Heels in einer Behendigkeit erklimmt, die einer 30 Jahre jüngeren Frau Respekt verschaffen würde? Kann man ihr die Fähigkeit absprechen, Entscheide zu fällen und auch durchzuziehen, und sich nicht in ihr Schneckenhäuschen zurückzuziehen, nur weil irgendein Sprecher irgendeines Aussenministeriums verkündet, sie sei ignorant? Und will wirklich jemand behaupten, die beiden Frauen seien nicht in der Lage, die Haltung des Gegenübers zu erkennen und eine gemeinsame Basis zu finden, wenn man sie im Gespräch sieht? Natürlich hilft es, dass die Rechtsprofessorin Tsai, die über einen Abschluss der bekannten New Yorker Cornell University verfügt, somit perfekt Englisch spricht und mit ihrer Besucherin in intellektueller Hinsicht auf Augenhöhe sprechen kann. Aber die Fähigkeit zur Zusammenarbeit beschränkt sich nicht auf das, was gesagt wird, es kommt auch darauf an, von wem und wie etwas gesagt wird.

Es  macht den Eindruck, als hätte Pelosi etwas erkannt, was alle anderen, die sehr oft über und sehr wenig mit Taiwan und ihren Repräsentanten sprechen, vergessen: Taiwan hat Anerkennung verdient und braucht diese auch – wie jeder jeder andere Staat einschliesslich der Volksrepublik China ebenfalls[10]. Die Gastgeberin weiss das. Sie zeigte die Anerkennung ihres Landes gegenüber der Besucherin, die keineswegs zum ersten Mal hier war, nicht nur mit Worten, sondern auch dadurch, indem sie dieser den «Orden der günstigen Wolken»(卿雲勳章)verlieh. Der 1941 geschaffene Orden ist tief in der Geschichte der Republik China verankert. Das «Lied der günstigen Wolken» diente von 1913 bis 1915 sogar als Landeshymne der jungen Republik:   

卿雲爛兮,
Qīngyún làn xī,
Wie herrlich sind die günstige Wolken

糺縵縵兮﹐
Jiū mànmàn xī,
Wie sie sich langsam zusammenfügen

日月光華﹐
rìyuè guānghuá,
Sie glänzen im Sonnenlicht wie im Mondesschein

旦復旦兮。
dàn fùdàn xī.
und erneuern sich in der Morgendämmerung.

時哉夫,天下非一人之天下也。
Shí zāi fú,tiānxià fēi yī rén zhī tiānxià yě.
Die Zeiten haben sich gewandelt, die Welt[11] steht nicht mehr in der Gewalt eines einzigen Menschen.

Günstige Wolken über dem Xiangshan in Taipei. (Bild: privat)

Wenn man sich die Gedanken dieses Gedichts, die in meiner unzureichenden Übersetzung natürlich nur ansatzweise wiedergegeben werden, vor der Geschichte der beiden Politikerinnen und ihrer Länder vor Augen führt, weiss man, welche Wirkung das Treffen haben könnte. Was, wenn die Zeiten sich wirklich gewandelt haben, so wie die Wolken sich wandeln, und die Welt nicht mehr unter der Gewalt eines einzigen Menschen steht, der von sich glaubt, ein «Mandat des Himmels» zu haben? Was, wenn der Herrscher über das Reich der Mitte nicht mehr entscheiden würde, wann und wo eine demokratisch legitimierte Kongressabgeordnete und eine gemäss der Verfassung von ihrem Volk gewählte Präsidentin sich treffen dürfen und über was sie diskutieren können? Was, wenn dieser Herrscher nicht mehr entscheiden dürfte, ob ein Land von einem Tag zum andern keine Verfassung, keinen Präsidenten mehr haben darf, zu exisitieren aufhört?

Pelosi witzelte: “they didn’t say anything when the men came”[12] – sie spricht von den unzähligen Politikern, welche Taiwan in den letzten Jahren den Besuch abstatteten, einschliesslich ihres Vorgängers Newt Gingrich, der Taiwan 1997 besuchte. Nun, Pelosi und Tsai sind tatsächlich für eine doppelte Premiere verantwortlich: Sie haben sich dem ersten expliziten Verbot des Herrschers über Festlandchina, sich zu treffen, einem mit massivsten Gewaltandrohungen verbundenen Verbot nota bene, als erste offen widersetzt. Sie haben zugleich mit einer jahrhundertelangen, wieder aufgeblühten Tradition, vor Beijing den Kotau zu machen[13], gebrochen.

Ob es dem so brüskierte Herrscher gelingt, die «Contenance» zu wahren? Dann hätten die beteiligten Parteien tatsächlich die Möglichkeit, einen respektvollen Dialog zu führen, bei dem man einer Lösung des seit 73 Jahren schwelenden Konflikts zwischen Taiwan und der Volksrepublik China näher zu kommen.

Ein Addendum für Schweizer Diplomaten und Aussenpolitiker: Ich kann nicht für die ehemalige Bundespräsidentin Ruth Dreifuss sprechen. Aber ich kann sagen, dass ich als Frau Mühe hätte, die Contenance zu bewahren, wenn mir ein Mann bei der ersten Begegnung ein Phallussymbol schenkt, während seine Ehefrau über meine Schulter linst. Erst recht, wenn dieses Bild über Presseagenturen in die ganze Welt verbreitet wird. Zum Glück heisse ich nicht Dreibein, ähem, Dreifuss.

Bundesratspräsidentin Dreifuss erhält 1999 ein Geschenk eines ausländischen Staatsgastes. (Bild: Keystone/swissinfo.ch)

[1] Das liegt allerdings vor allem daran, dass die politische Macht in den führenden Ländern in Männerhand liegt (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_current_heads_of_state_and_government). Gemessen an der Wirtschaftskraft gemessen am Bruttosozialprodukt liegt Taiwan knapp hinter der Schweiz auf Platz 20 und dürfte diese bei Fortsetzung der Tendenz (https://eng.stat.gov.tw/point.asp?index=1) demnächst überholen; bezüglich Exporten ist Taiwan und aufgrund seiner geostrategischen Position ist eines der wichtigsten Länder überhaupt.

[2] https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/xwfw_665399/s2510_665401/2511_665403/202207/t20220726_10728346.html

[3] Das Risiko eines Militärschlags der Volksrepublik China soll damit nicht kleingeredet werden; was nicht angeht, ist die verbreitete Tendenz, dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben, weil es sich gegenüber dem Angreifer nicht unterwürfig genug verhalten hat und irgendwelche vom Angreifer selbst definierte «Rote Linien» überschritten hat (siehe Ukraine). Kriege brechen auch nicht zufällig aus, weil jemand «versehentlich» auf den anderen geschossen hat. Der erste Weltkrieg ist auch nicht ausgebrochen, weil Franz Ferdinand II ermordet wurde, sondern weil ein Machthaber eines Landes entschieden hat, seine Machtansprüche gegenüber einem anderen Land mit Waffengewalt durchsetzen zu müssen.

[4] https://www.srf.ch/news/international/nancy-pelosi-in-taiwan-brandgefaehrlich-der-besuch-der-alten-dame

[5] https://www.taiwannews.com.tw/en/news/4615238

[6]https://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/contenance/18563#:~:text=montrer%20de%20la%20fermet%C3%A9%2C%20du,une%20situation%20difficile%20ou%20d%C3%A9licate.

[7] https://diplomacy.state.gov/education/the-9-skills-of-diplomacy/

[8] ibid.

[9] ibid.

[10] Vgl. Anneliese Rieger, Die Anderen, ich und wir, Eine philosophische Untersuchung zwischenstaatlicher Anerkennungsbeziehungen, Fajus Verlag, Stäfa 2014.

[11]天下 kann wahlweise als «die ganze Welt», «alles unter dem Himmel» oder «China» übersetzt werden.

[12] https://www.taiwannews.com.tw/en/news/4615058

[13] https://www.taiwannews.com.tw/en/news/4590611