Taiwan: Geschichte und Politik

Wenn ich Bekannten in der Vergangenheit erzählte, dass ich in Taiwan Chinesisch studiert habe, beobachtete ich vielfach folgende Reaktionen: entweder erzählten die Leute, dass sie auch kürzlich in Thailand waren oder sie fragen, ob man in Taiwan denn auch Chinesisch spricht (was tatsächlich eine gute Frage ist).  Heutzutage vermeide ich es, überhaupt über Taiwan zu reden, denn sonst muss ich mir Dinge anhören wie «China muss doch nur einmal husten und schon hat es Taiwan eingenommen». Bei solchen Personen muss ich annehmen, dass sie sich nicht für Taiwan oder dessen Geschichte interessieren. Für diejenigen, die es gleichwohl interessiert, hier das, was ich in Taiwan an meiner Universität[1], auf Ausflügen und von meinen Freunden darüber gelernt habe.

von Maja Blumer

Taiwan in der Hand der Ureinwohner

Taiwan – früher Formosa[2] – war für Jahrtausende eine unbedeutende Insel, die von verschiedenen Völkern von Ureinwohnern bewohnt wurde, die mindestens 26 austronesische Sprachen sprachen, die heute zum Teil ausgestorben sind oder vom Aussterben bedroht sind. Vom Reich der Mitte durch gefährliche Gewässer getrennt, war Taiwan von den Gebietsansprüchen der Herrscher des Reichs der Mitte nie ernsthaft bedroht. Erstens scheint es, als hätten die «Bergmenschen» (山胞 Shānbāo)[3] gewusst, sich zu wehren, zweitens hatten die meisten chinesischen Kaiser und ihre Generäle keine Affinität zur Seefahrt und drittens war die lediglich 35’824 Quadratkilometer grosse und von hohen Gebirgen (der höchste Gipfel ist 3’952 Meter hoch) durchzogene Insel auch für die Landwirtschaft nicht besonders interessant.

Schön, aber für die Landwirtschaft nicht besonders bequem: Taiwanesische Küste bei Jiufen (Bild: privat)

Über die Ureinwohner und ihre Regierungen weiss man relativ wenig. Vom 7. bis zum 17. Jahrhundert soll in der Gegend des heutigen Taichung das Reich von Middang bestanden, eine Allianz von verschiedenen taiwanesischen Stämmen. Es gelang ihnen, im grossen und ganzen die Kolonialmächte fernzuhalten, lediglich den Spaniern (1626 bis 1642) und den Holländern (1624 bis 1661) gelang es für einige Jahre auf der Insel für kurze Zeit Kolonien einzurichten.

Die kurze Ära der Ming- und Qing-Dynastie 

Die Dinge änderten sich, als der japanisch-chinesische General Koxinga[4], der im Dienste der Ming Dynastie stand, sich mit seinen Truppen vor den einfallenden Manchus in den Süden des Reichs der Mitte zurückzog, sich mit den taiwanesischen Ureinwohnern verbündete und im Dezember 1661 die Holländer von der Insel jagte. Kurz darauf starb Koxinga. Der Qing-Kaiser Kangxi[5] erklärte 1684 die vom feindlichen Ming-General und seinen taiwanesischen Verbündeten eroberte Insel gehöre nunmehr zu seinem Reich (so einfach geht das!). In den Folgejahren wurde die Insel vom nahen Festland her besiedelt, was erklärt, weshalb eine der Hauptsprachen Taiwans heute Hokkien ist – Hokkien war so etwas wie die lingua franca in ganz Südostasien, bevor Englisch Einzug hielt.

Soweit ersichtlich hinterliessen die Kaiser der Qing Dynastie in Taiwan keine grosse Spuren, sieht man einmal von einer im 19. Jahrhundert begonnenen Landreform ab, bei welcher (natürlich zwecks Besteuerung) eine Zuordnung von Landtiteln vorgenommen wurde.

Die noch kürzere Ära der Republik Formosa

Im März 1895 besetzte Japan die Inseln in der Taiwanstrasse und schnitt so die Qing Dynastie (welche noch weniger Affinitäten zur Seefahrt hatte als ihre Vorgängerinnen) von Taiwan ab, so dass keine Verstärkung vom Festland geschickt werden konnte. Dieser fait accompli führte dazu, dass Taiwan im Vertrag von Shimonoseki im April 1895 von der Qing-Dynastie an Japan abgetreten wurde – selbstverständlich wie immer über den Kopf der Betroffenen hinweg. 

Einige Notablen in Taiwan wollten diese Abtretung nicht akzeptieren und riefen am 25. Mai 1895 die «Republik Formosa» aus. Aber bereits am 29. Mai 1895 landeten die japanischen Truppen in Keelung. Die Republik Formosa ging am 21. Oktober 1895 endgültig unter, als die Japaner auch Tainan einnahmen, wohin die Republikaner geflohen waren. 

Flagge der Republik Formosa (Bild:https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bc/Flag_of_the_Republic_of_Formosa_in_National_Taiwan_Museum_20180123.jpg Wikimedia Commons)

Prägende Jahre unter den Japanern

Von 1895 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges war Taiwan eine japanische Kolonie. In diesen Jahren prägte Japan die Insel sowohl in wirtschaftlicher als auch kultureller Hinsicht sehr stark[6]. Die Japaner haben eine Landreform durchgeführt, die Agrarwirtschaft revolutioniert, den Schulbesuch für breite Bevölkerungsschichten ermöglicht, Eisenbahnen gebaut, Kohleminen angelegt usw. 

Bahnstation in Jingtong, der Endstation der Pigxi Eisenbahn, welche von den Japanern zum Betrieb der Kohleminen angelegt wurde und heute als Touristenattraktion dient. (Bild: privat)

Vielleicht deshalb spricht man in Taiwan, anders als in Südkorea, wo die Schrecknisse der japanischen Kolonialherren noch sehr viel präsenter sind, überwiegend positiv über die Japaner. So pflegten viele, die noch unter der Kolonialherrschaft aufgewachsen sind, die japanische Sprache weiter und schickten ihre Kinder für das Studium nach Japan. Auch wenn die beliebteste Studiendestination heute die USA sind, scheint es, dass man sich allgemein in Taiwan und Japan nach wie vor gegenseitig als «extrem wichtige Partner» sieht, als «kostbaren Freund», mit dem man die gleichen Grundwerte teilt, sowie eine enge persönliche und wirtschaftliche Beziehung pflegt[7]. Und es macht den Anschein, es handle sich nicht um leere Worte.

Beispielsweise setzte die taiwanesische Regierung nach der Ermordung des ehemaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe die Flaggen im Land auf Halbmast und der taiwanesische Vizepräsident[8] William Lai reiste nach Japan, um der Familie des Ermordeten die Aufwartung zu machen[9] – als Privatperson selbstverständlich, so wie er auch schon zuvor in Japan Freunde besucht hatte[10], da die taiwanesische Regierung ja keine offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Japan pflegt. An der Beerdigung wurde er in Begleitung der 88-jährigen Menschenrechtsaktivistin Birei Kim gesehen, die eine enge Vertraute von Shinzo Abe und im übrigen auch des ehemaligen taiwanesischen Präsidenten Chen war.

Der taiwanesische Vizepräsident William Lai begleitet die japanische Menschenrechtsaktivistin Birei Kim an die Berdingung des ehemaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe (Bild: Twitter/Screenshot)

Eine Beerdigung in Taiwan, Japan oder Südkorea ist keine Sache, die man auf die leichte Schulter nimmt und einfach im «kleinsten Familienkreis» erledigen kann, wie das in der Schweiz üblich geworden ist. Die Frage, ob man er an die Beerdigung gehen will, stellte sich für William Lai also von Vornherein nicht. Pech war natürlich, dass auch der amerikanische Secretary of State Anthony Blinken nach Japan reiste und sich auch die Vorsitzende des Fed Janet Yellen zufällig gleichzeitig dort aufhielt. Das William Lai bei einer anderen Reise zufälligerweise der Platz neben seiner amerikanischen Amtskollegin Kamala Harris wurde, macht die Sache auch nicht besser, zumal William Lai zu allem Unglück auch noch Englisch spricht (er hat einen Abschluss von der Harvard University).

Ein Stück weit kann man unter diesen Umständen die Verärgerung der Volksrepublik China verstehen. China hätte natürlich gleichziehen können. Allerdings wären hochrangige Vertreter Festlandchinas an der Beerdigung mutmasslich nicht unbedingt gerne gesehen gewesen, wenn man bedenkt, dass sich der ehemalige japanische Premierminister Shinzo Abe wenige Monate zuvor offen auf die Seite Taiwans gestellt hatte und ein Ende der «stategischen Zweideutigkeit» forderte, weshalb ihm vom Sprecher des chinesischen Aussenministeriums Wang Wenbin ein Blutbad prophezeit wurde (wörtlich: 必将碰得头破血流, Bìjiāng pèng de tóupòxuèliú, wird unvermeidlich seinen Kopf einschlagen und bluten), eine Wortwahl, die direkt aus dem Mund von Präsident Xi Jinping stammt[11]. Dass man einem Premierminister ein Blutbad androht und dann auch noch bestimmen will, wer an der Beerdigung teilnehmen darf, wenn dieses eintrifft, ist schon ziemlich schockierend.

Republik China unter der Militärdiktatur von Chiang Kai-shek

Nach diesem Exkurs zurück zur Geschichte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Taiwan am 25. Oktober 1945 mitsamt der von den Japanern geschaffenen Infrastruktur entsprechend der Cairo Declaration und der Potsdamer Erklärung in die Hände der Republik China (natürlich nicht der Volksrepublik China, die es damals noch gar nicht gab) übergeben, ohne dass man sich gross über ein Wiederaufleben der Republik Formosa Gedanken gemacht hätte. Wahrscheinlich wurde die Republik China halbwegs zu den Siegermächten gezählt, hatte sie doch während des zweiten Weltkriegs nicht nur im Bürgerkrieg gegen die Truppen Maos gekämpft, sondern auch gegen die Japaner. Zudem zählt die Republik China zu den Gründungsmitgliedern der UNO und hat gemäss Art. 23 der UN-Charta[12] bis zum heutigen Tag Anspruch auf einen Sitz im UN-Sicherheitsrat[13]

Nachdem die Truppen der Republik China auf dem Festland unterlegen waren, zogen sie sich 1949 mitsamt dem Schatz aus dem kaiserlichen Palast nach Taiwan zurück und träumten dort von der Rückeroberung des Festlands.

Erst unter der Regierung Republik China unter Führung von General Chiang Kai-shek und seiner  Kuomintang erfolgte eine gewisse «Sinoisierung» von Taiwan, etwa indem Hochchinesisch zwangsweise eingeführt wurde und viele Festlandchinesen immigrierten. Die Sinoisierung diente insbesondere dazu, neben den alteingesessenen Taiwanern die widerspenstigen Ureinwohner unter Kontrolle zu bringen. Letztere hatten nicht nur gegen die Kolonialherren aus Spanien, Holland und Japan gekämpft, sondern kämpften auch gegen die Regierung Chiang Kai-sheks weiter.

Soweit es die indigenen Völker betrifft, hatte die Sinoisierung Erfolg. Heute machen die Ureinwohner nur noch ca. 2% der taiwanesischen Bevölkerung aus und viele Sprachen, die auf Formosa gesprochen wurden, sind inzwischen ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Zwar wurde versucht, die Rechte der indigenen Völker nach der Demokratisierung Taiwans Anfangs der Neunzigerjahre zu respektieren, doch nach hundert Jahren Unterdrückung dürfte es dafür zu spät gewesen sein.

Abgesehen von dieser «Sinoisierung» herrscht allerdings seit 1949 ein tiefer politischer und kultureller Graben zur Volksrepublik China, von der Taiwan über Jahrzehnte hinweg völlig abgeschottet war (bis 1987 waren keine Reisen über die Taiwanstrasse erlaubt), so dass sich die Anpassung an das Festland auf die gesprochene Sprache beschränkt (in der Schriftsprache werden im Gegensatz zur Volksrepublik China traditionelle Schriftzeichen verwendet) und auch das jedenfalls bei älteren Taiwanern nur dort, wo man muss. Wenn es um emotionale Dinge geht, ist vielen Taiwanern Hokkien näher bei der Seele.

Da Shan demonstriert den Begriff «nicht wissen ob man weinen oder lachen soll» – auch auf Hokkien (Taiwanisch). Vielleicht auch ein Anlass, darüber nachzudenken, ob es klug ist, im Zorn Kanonen sprechen zu lassen.

Bereits 1949 führte Chiang Kai-shek auf Taiwan Kriegsrecht ein, welches über seinen Tod 1975 hinaus bestehen blieb und erst 1987 aufgehoben wurde, ohne dass der latente Krieg[14] mit der Volksrepublik China beendet worden wäre. 

Während der Zeit des Kriegsrechts herrschte in Taiwan der «Weisse Terror», die Unterdrückung jeglicher Opposition. Tausende wurden als Staatsfeinde hingerichtet und Zehntausende inhaftiert. Parteien wurden verboten, Versammlungs-, Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit aufgehoben, Zeitungen mit Propaganda gefüllt etc.

In militärischer Hinsicht versuchten die Republik China und die Volksrepublik China wiederholte Male, ihre Sicht der «One China Policy» – beide Nationen betrachten das Gebiet des andern als eigenes Territorium – militärisch durchzusetzen. Bereits unmittelbar nach Ausbruch des Koreakriegs schickte U.S. Präsident Truman die 7. Flotte der U.S. Navy in die Taiwanstrasse, um die Streithähne auseinanderzuhalten. 

Gleichwohl versuchten Mao’s Truppen während der ersten und zweiten Taiwankrise, sich die nahe dem chinesischen Festland gelegenen taiwanesische Inseln unter den Nagel zu reissen. Das gelang nicht und so blieb es bis auf einige Scharmützel in den kommenden Jahrzehnten relativ ruhig.

Demokratisches Taiwan

Erst 1986 wurde (illegalerweise) die Democratic Progressive Party (DPP)[15] gegründet und konnte bald darauf erste Wahlerfolge verbuchen. 1992 fanden erstmals demokratische Wahlen statt und 1996 erstmals direkte Präsidentenwahlen. Die Volksrepublik China reagierte vom 21. Juli 1995 bis zum 23. März 1996 mit diversen Raketentests, welche als Dritte Taiwankrise in die Geschichtsbücher eingingen. Anlass scheint gewesen zu sein, dass die USA dem damaligen Präsidenten Lee Teng-hui auf Druck des Kongresses ein Visa ausstellten, damit er ein Klassentreffen an seiner alma mater, der Cornell University besuchen zu können, um dort einen Vortrag zur Demokratisierung Taiwans halten zu können. Danach wurden die Raketentests fortgesetzt, um die Wahl von Lee Teng-hui zu verhindern.

Was die Drohgebärden genau hätten bewirken sollen, ist nicht klar, was die Wahlen angeht, waren sie jedenfalls kontraproduktiv. Lee Teng-hui wurde mit grossem Vorsprung gewählt. Zudem entschloss sich der vorerwähnte heutige Vizepräsident William Lai angeblich, die Medizin an den Nagel zu hängen und in die Politik einzusteigen.

Er wäre aber nicht der erste Präsident der DPP, falls er 2024 gewählt würde. Bereits im Jahr 2000 schaffte es ein Kandidat der DPP ins Präsidentenamt. Von 2008 bis 2016 übernahm dann wieder die Kuomintang wieder die Führung.

Etikette ist wichtig. «紅包» das vom taiwanesischen Präsidenten Ma Ying-jeou (馬英九) anlässlich des Frühlingsfestes 2014 an Besucher im taiwanesischen Präsidentenpalast verteilt wurde – ohne Inhalt, versteht sich. (Bild: privat)

2016 wurde die Professorin Tsai Ing-wen (蔡英文)[16] mit grossem Abstand vor den anderen beiden Kandidaten (Eric Chu von der Kuomintang und James Soong von der People First Party) gewählt. Sie wurde 2020 bei rekordhoher Wahlbeteiligung von fast 75% der registrierten Wähler mit grosser Mehrheit für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Ihr grösster parteiinterner Konkurrent, der mehrfach erwähnte William Lai (賴清德)[17], amtet seit 2020 als Vizepräsident und gilt als einer der Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2024.

Heute wird die taiwanesische Politik von einer bunten Parteienlandschaft dominiert, welche grob in die «blaue» Koalition unter der Führung der Kuomintang und die «grüne» Koalition mit der DPP an der Spitze eingeteilt werden kann, daneben noch einige Splitterparteien. Das Parteienspektrum reicht von Liberal über sozialdemokratisch über grün über konservativ bis kommunistisch.  Die mit harten Bandagen geführten parteiinternen und -externen Debatten sind für Aussenstehende sehr schwer zu verfolgen, da darüber in den englischsprachigen Medien kaum berichtet wird. 

Die Lage wird noch kompliziert durch den Umstand, dass es in Taiwan neben den politischen Parteien noch diverse prominente Bürgerrechtsbewegungen gibt, die ihre Wurzeln zum Teil auf den Kampf gegen den «Weissen Terror» und für die Demokratie zurückführen, zum Teil auf Umweltschützer, die sich erstmals 1986 durch Proteste gegen eine Chemiefabrik von E.I. Du Pont bemerkbar machten. 

“Democracy has become the foundation of Taiwan’s national identity”, Prof. Tsai Ing-wen an der Harvard University, 2001

Trotz der Komplexität der taiwanesischen Politik, die manche zur Verzweiflung treibt, kann mit der heutigen Präsidentin gesagt werden, dass die Demokratie heute das Fundament der nationalen Identität Taiwans begründet, wie die heutige Präsidentin Tsai Ing-wen anlässlich einer Rede an der Harvard University im September 2011 ausführte.

Die Sonnenblumenrevolution

Eine der vielen Bürgerrechtsbewegungen, die besondere Beachtung verdient, ist die Sonnenblumenbewegung. Die von Studenten angeführte Bewegung protestierte 2014 gegen das Cross-Strait Services Trade Agreement (CSSTA), welches die damalige Regierung nach geheimen Verhandlungen durch das Parlament zu peitschen versuchte. Die Studenten befürchteten, das Handelsabkommen würde die taiwanesische Wirtschaft ungeschützt chinesischen Investoren ausliefern[18]

Nachdem in der Vernehmlassung grosse Skepsis geäussert wurde, sollte eine Debatte im Legislative Yuan, dem taiwanesischen Parlament, stattfinden. Am 17. März 2014 kam es zum Eklat, als der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses des Legislative Yuan, Chang Ching-chung, nach Durchführung der Hälfte der geplanten Anhörungen verkündete, die für die Ratifizierung festgelegte Frist von 90 Tagen sei verstrichen und es könne nun nicht mehr diskutiert sondern nur noch über das Abkommen abgestimmt werden. Die Opposition reagierte mit Empörung, es kam zum Tumult, die Parlamentssitzung wurde abgebrochen. 

Daraufhin besetzten Studenten vom 18. März bis zum 10. April 2014 während 24 Tagen das Parlamentsgebäude sowie den Regierungssitz und erreichten mit breiter Unterstützung der Bevölkerung schliesslich, dass die Ratifizierung des CSSTA ausgesetzt bzw. auf den Nimmerleinstag verschoben wurde.

Düstere Wolken über dem taiwanesischen Präsidentenpalast im Januar 2014. Ein Vorbote für die politischen Turbulenzen in den Kommenden Wochen? (Bild: privat)

Die Sonnenblumenbewegung war in vielerlei Hinsicht folgenreich. Erstens führte es dazu, dass das 2003 eingeführte Referendumsrecht, das mit Kinderkrankheiten kämpfte, plötzlich Fuss fasste. Während vorher nur zweimal je zwei nationale Vorlagen dem Volk unterbreitet wurden, stimmten die Taiwaner 2018 über 10 Vorlagen ab, 2021 über deren vier. Die nächsten Abstimmungen sind anlässlich der Lokalwahlen im November 2022 vorgesehen. 

Zweitens führte die Studentenbewegung zu einer Debatte, was in einer Demokratie erlaubt ist, und was nicht, nicht zuletzt deshalb, weil die Beweggründe und die persönlichen Erlebnisse der Beteiligten genauestens dokumentiert und reflektiert wurden, nicht zuletzt auf Facebook und anderen Social Media-Kanälen[19].

Zu dieser Wirkung hat auch beigetragen, dass 2015 insgesamt 115 an der Sonnenblumenbewegung Beteiligte vor Gericht gestellt, u.a. wegen Behinderung von Amtshandlungen[20]. In erster Instanz erfolgte ein Freispruch, in zweiter Instanz wurden aber zahlreiche Mitglieder der Protestbewegung schuldig gesprochen. Der taiwanesische Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil am 18. Januar 2021 und ordnete an, die Anklage sei unter dem Gesichtspunkt des «Rechts auf Widerstand» und des «Rechts auf zivilen Ungehorsam» zu prüfen. Der Oberste Gerichtshof fand, diese seien als Ausfluss der Meinungsäusserungsfreiheit zu verstehen, wenn es darum gehe, die verfassungsmässige demokratische Ordnung wiederherzustellen[21]. Die Anklage wurde in der Folge fallengelassen. Den Opfern von Polizeigewalt wurde zudem Schadenersatz zugesprochen[22].

Die Ironie der Geschichte ist, dass zur gleichen Zeit, als die Studenten in Taiwan gegen das Handelsabkommen mit der Volksrepublik China protestierten, auch das Freihandelsabkommen zwischen der Volksrepublik China und der Schweiz nach den genau gleichen Methoden durch das Schweizer Parlament gepeitscht wurde, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Schweiz keine Vernehmlassung durchgeführt wurde. Insbesondere wurde dem Ständerat bei der Beratung des Freihandelsabkommens am 20. März 2014 – also am dritten Tag der Sonnenblumenrevolution in Taiwan – beschieden, wenn er die Vorlage nicht unter Ausschluss des Referendums sofort durchwinke, könne das Abkommen nicht wie vereinbart ein paar Monate später in Kraft treten[23]

Während die Ständeräte an diesem Frühlingstag 2020 nichtsahnend[24] zum opulenten Mittagessen schritten, bahnte sich ein taiwanesischer Student in Taipei durch die Barrikaden und Wasserwerfer hindurch ein Weg vom Hörsaal zurück ins Parlament, wo ihn und Kommilitonen eine weitere durchwachte Nacht erwartete[25]


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua) hat von 2008 bis 2009 an der Tsinghua University in Beijing chinesisches Recht und von 2013 bis 2014 an der Beijing Language and Culture University in Beijing und von 2014 bis 2015 an der National Chengchi University in Taipei (NCCU) in Taipei die chinesische Sprache studiert. Die vorstehenden Ausführungen basieren auf den eigenen Recherchen und Erfahrungen der Autorin wieder und die Aussagen keiner anderen Person, Institution oder Regierung zuzuschreiben.


[1] An dieser Stelle möchte ich meiner freiwilligen Tutorin an der National Chenchi University (NCCU) einen besonderen Dank ausprechen. Sie hat sich von mir mit meinen unzähligen Fragen zu Geschichte, Politik und Kultur Taiwans löchern lassen und diese geduldig, umfassend und kompetent beantwortet. Alle etwaigen Missverständnisse liegen auf meiner Seite.

[2] Der Name Formosa stammt von portugiesischen Seglern, die das Eiland im 1542 als Ilha Formosa  (schöne Insel) auf ihren Karten vermerkten.

[3] So nannte man die Ureinwohner früher, heute bezeichnet man sie natürlich politisch korrekt «indigene Völker».

[4] 鄭成功 Zhèng Chénggōng

[5] 康熙, Kāngxī

[6] https://www.youtube.com/watch?v=3K__NuXscqA.

[7] https://www.mofa.go.jp/press/kaiken/kaiken22e_000090.html#topic2

[8] Nach Auffassung der Volkrepublik China hat Taiwan keinen Vizepräsidenten (https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/xwfw_665399/s2510_665401/2511_665403/202207/t20220712_10718946.html)

[9] https://focustaiwan.tw/politics/202207120006

[10] https://www.taiwannews.com.tw/en/news/3697270

[11] https://news.ifeng.com/c/87W3OzVDDs2

[12] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2003/160/de

[13] Die UN-Charta wurde in diesem Punkt nie geändert, weil eine Änderung gemäss Art. 109 der UN-Charta nicht nur der Ratifikation von zwei Dritteln der Mitglieder bedürfte, sondern auch der Zustimmung aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats.

[14] Der latente Krieg dürfte auch der Grund sein, weshalb die Taiwaner die Militärmanöver der Volksrepublik China mit relativer Gelassenheit betrachten und auch die taiwanesische Armee nicht gleich alle 1’800’000 Mann in den Aktivdienst schickt, wenn wieder einmal eine chinesische Rakete über die Insel fliegt. Das hat nichts mit Sorglosigkeit oder fehlender Widerstandskraft zu tun, sondern ist eine schiere Notwendigkeit.

[15]民主進步黨 Mínzhǔ Jìnbùdǎng

[16] Tsai Ing-wen studierte in an der National Taiwan University (NTU) in Taipei sowie an der Cornell University in New York Recht (LL.M., 1980) und doktorierte an der LSE in London im internationalen Handels- und Wettbewerbsrecht. Sie war vor ihrer politischen Tätigkeit unter anderem als Professorin an der National Chengchi University (NCCU) tätig.

[17] William Lai studierte in Taiwan an der National Taiwan University (NTU) sowie an der National Cheng Kung University Medizin und an der Harvard University (Master of Public Health). Vor seiner Wahl zum Vizepräsidenten war er Premier.

[18] https://daybreak.newbloommag.net/2017/07/20/what-was-the-cssta/

[19] https://daybreak.newbloommag.net/

[20] https://chinesischexpress.wordpress.com/2015/02/15/tagesgesprach-sonnenblumen-bewegung-vor-gericht/

[21] https://www.taipeitimes.com/News/taiwan/archives/2021/01/19/2003750847

[22] https://focustaiwan.tw/society/202201270007

[23] https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20130071

[24] Man muss zur Verteidigung der Schweizer Ständeräte sagen, dass der Informationsfluss etwas gestört ist, wenn man keine Beziehungen zur Regierung eines Landes pflegt. Ein Postulat zu den Verbesserungen der Beziehungen mit Taiwan ist hängig, allerdings hat sich der  Ständerat noch nicht geäussert und der Bundesrat spricht sich in seiner Stellungnahme vom 25. August 2021 für die Ablehnung des Postulats aus  (https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20213967).

[25] Name der Autorin bekannt. Der besagte Student hat seine Studien zwischenzeitlich erfolgreich abgeschlossen.