Eigentlich hatte ich vor, heute wie jedes Jahr die Ansprache des örtlichen Redners an der offiziellen Feier zum 1. August und das Konzert der Harmoniemusik anzuhören. Doch nachdem ich heute meine Schweizerflaggen rausgehängt hatte und feststellen musste, dass ich eine der wenigen im Dorf bin, welche dieser Tradition frönt, habe ich beschlossen, mit der Tradition der Teilnahme an der offiziellen Erstaugustfeier zu brechen. Stattdessen begründe ich eine neue Tradition, meine eigene Rede zum 1. August zu halten.
von Maja Blumer

Hochvertruuti liäbi Mitlandlüt
Im Berner Oberland aufgewachsen, gehören die Tellspiele in Interlaken, die meine Familie alle paar Jahre besuchte, zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Am meisten beeindruckte mich die mutige Berta von Bruneck, die in ihrem eleganten Kostüm hoch zu Ross über den Platz sprengt. Heute will ich mich aber nicht mit Berta von Bruneck widmen, sondern ihrem wankelmütigen Verehrer, Ulrich von Rudenz.
Im zweiten Aufzug von Schillers Drama «Wilhelm Tell» plädiert Rudenz gegenüber Werner von Attinghausen dafür, vor dem Kaiser den Kotau zu machen:
Rudenz: Das Land ist schwer bedrängt – Warum, mein Oheim?
Wer ist’s, der es gestürzt in diese Not?
Es kostete ein einzig leichtes Wort,
Um augenblicks des Dranges los zu sein,
Und einen gnäd’gen Kaiser zu gewinnen.
Weh ihnen, die dem Volk die Augen halten,
Dass es dem wahren Besten widerstrebt.
Um eignen Vorteils willen hindern sie,
Dass die Waldstätte nicht zu Östreich schwören,
Wie ringsum alle Lande doch getan.
Wohl tut es ihnen, auf der Herrenbank
Zu sitzen mit dem Edelmann – den Kaiser
Will man zum Herrn, um keinen Herrn zu haben.
Attinghausen: Muss ich das hören und aus deinem Munde!
Rudenz: Ihr habt mich aufgefordert, lasst mich enden.
– Welche Person ist’s, Oheim, die Ihr selbst
Hier spielt? Habt Ihr nicht höhern Stolz, als hier
Landammann oder Bannerherr zu sein
Und neben diesen Hirten zu regieren?
Wie? Ist’s nicht eine rühmlichere Wahl,
Zu huldigen dem königlichen Herrn,
Sich an sein glänzend Lager anzuschliessen,
Als Eurer eignen Knechte Pair zu sein,
Und zu Gericht zu sitzen mit dem Bauer?
Gut siebenhundert Jahre später sieht sich die Schweiz im gleichen Zwiespalt. Zwar sitzt der Kaiser, dem zu huldigen wäre, nicht mehr auf der Habsburg, sondern in Beijing. Die Schweiz sitzt mit Europa und den USA nach den Sanktionen gegenüber Russland im gleichen Boot und sieht sich mit diesen einer drohenden Energieknappheit, einer hohen Inflation und gar einer Rezession gegenüber. Aber anders als die europäischen und amerikanischen Verbündeten hat die Schweiz eine Trumpfkarte noch nicht ausgespielt: Das Freihandelsabkommen mit China. Was macht es schon, wenn die Wirtschaft in der EU und den USA als den wichtigsten Partnern der Schweiz schwächelt, wenn der Eidgenossenschaft doch der riesige Markt im Reich der Mitte zu Füssen liegt?
Leider gibt es da ein klitzekleines Problem: Das Freihandelsabkommen der Schweiz mit der Volksrepublik China, wie es am 1. Juli 2014 in Kraft trat, ist ein bisschen mangelhaft. Das hat man zwar schnell erkannt und schon seit 2017 Gespräche mit China über Nachbesserungen begonnen. Bloss liegen diese seit einiger Zeit auf Eis. Die Gespräche könnten schon morgen fortgesetzt werden, wenn die Schweiz nur dem Wunsch der Gegenseite entsprechen würde, die hinderlichen «Elemente» – sprich: Menschen – zu eliminieren, welche den Verhandlungen im Wege stehen. Wörtlich hat es der Sprecher des Aussenministeriums der Volksrepublik China, der berühmte Wolf-Warrior-Diplomat Zhao Lijian wie folgt ausgedrückt:
赵立坚: [中国]希望瑞方能够排除人为干扰因素,同中方相向而行。
Zhao Lijian:[China] hofft, dass es der Schweiz gelingt, die störenden Elemente zu eliminieren. Im Gegenzug ist die chinesische Seite bereit, der Schweiz entgegenzukommen.
Darüber, wer diese störenden Elemente sind besteht keine Ungewissheit: Es sind Experten für Verfassungsrecht, Menschenrechts- und Umweltaktivisten, Anhänger des Dalai Lama und andere Menschen, die eine Berücksichtigung ihrer Anliegen im nachgebesserten Freihandelsabkommen fordern. Dass sie nicht früher zu Wort gekommen sind, hat einen einfachen Grund: Man verzichtete auf die sonst übliche Vernehmlassung und auch auf das von Verfassung wegen eigentlich notwendige fakultative Referendum. Das Freihandelsabkommen trat schon in Kraft, bevor die vorerwähnten störenden Elemente auch nur «Bap» sagen konnten.
Man kann nun die Wolf-Warrior-Diplomatie im Allgemeinen und Zhao Lijian im speziellen sympathisch finden oder nicht. Eines ist sicher: Aus rein juristischer Sicht hat er leider Recht. Solange die besagten «störenden Elemente» nicht beseitigt werden, kann das bestehende Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China nicht «nachgebessert» werden. Die Idee des Bundesrats, die Nachbesserung von Freihandelsabkommen dem Referendum zu entziehen, wurde nämlich inzwischen bachab geschickt. Und dass das Referendum im Falle einer Neuauflage des Freihandelsabkommens ergriffen würde, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wie weit auch immer die Volksrepublik China entgegenkommen würde, es wäre also nicht auszuschliessen, dass die «störenden Elemente» das Ergebnis jahrelanger Verhandlungen immer noch nicht gut genug finden und es «ghüdere» würden. Dieses Resultat liesse nur vermeiden, wenn man alle kritischen Stimmen zum Vornherein zum Schweigen bringen würde, sprich sowohl das Referendumsrecht als auch die Meinungsäusserungsfreiheit ausser Kraft setzen würde.
Die Schweiz müsste also nach den Regeln Chinas spielen. Aber ist Kuschen vor China überhaupt die einzige Option? Einer der wichtigsten Handelspartner der Volksrepublik China, und überhaupt der Welt, hat einen anderen Weg eingeschlagen; ein Land, dessen Regierung gerade im Begriff ist, mit den USA ein «umfassendes» Wirtschaftsabkommen auszuhandeln. Ein Land, in dem Studenten vor wenigen Jahren mit Sonnenblumen bewaffnet auf die Strasse gegangen sind, um ein Abkommen mit der Volksrepublik China zu verhindern, welches das Parlament schnell und heimlich einfach so durchwinken wollte. Ein Land, mit dem wir keine Menschenrechtsdialoge führen müssen, weil diese Studenten zwar Polizeigewalt erlitten haben und vor Gericht gestellt wurden, ein Land aber, das einen Obersten Gerichtshof hat, der zum Schluss gekommen ist, dass es ein verfassungsmässiges Recht auf Widerstand und ein Recht auf zivilen Ungehorsam gibt.
Ich spreche von einem Land, über das man eigentlich nicht sprechen darf: Taiwan, auch bekannt als Republik China. Bei allen Schwierigkeiten die dieser Weg Taiwan bereitet, hat Taiwan es fertiggebracht, was nur wenige Staaten geschafft haben: Von einer kleinen mausarmen Diktatur hat sich Taiwan innert weniger Jahre zu einer lebendigen Demokratie gemausert, die in wirtschaftlicher Hinsicht gerade im Begriff ist, die Schweiz zu überholen.
Die Volksrepublik China findet natürlich, Taiwan sei gehörig auf dem Holzweg und kommentiert jeden Schritt. Lassen wir doch noch einmal Zhao Lijian zu Worte kommen:
路透社记者:今天,台湾“总统”蔡英文登上一艘海军军舰,这是她在任六年内第二次登上军舰。在视察年度海空演习时,她称赞台湾军队保卫台湾的决心。外交部对此有何评论?
赵立坚:首先我要告诉你的是,台湾没有什么“总统”,请你以后提问时注意你的措辞。我也想借此机会正告台湾当局,台湾当局走“台独”的路,是死路一条。台湾妄想在军事上对抗大陆,就如同螳臂当车,最终必将失败。
Reuters: Heute betrat Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen zum zweiten Mal in ihrer sechsjährigen Amtszeit ein Kriegsschiff der Marine. Dabei lobte sie die Entschlossenheit des Militärs, Taiwan zu verteidigen, und überwachte die jährlichen Übungen von Marine und Luftwaffe. Wie lautet der Kommentar des chinesischen Aussenministeriums?
Zhao Lijian: Zunächst muss ich klarstellen, dass es in Taiwan keinen so genannten «Präsidenten» gibt. Achten Sie bitte auf den Begriff, den Sie verwenden. Ich möchte diese Gelegenheit auch nutzen, um den taiwanesischen Behörden klarzumachen, dass der Weg der «taiwanesischen Unabhängigkeit» in eine Sackgasse führen wird. Wenn Taiwan dem Festland militärisch entgegentreten will, wird es dasselbe Schicksal erleiden, wie eine Gottesanbeterin [Lat. Mantis religiosa], die sich gegen einen Karren stellt.

Nun gleicht die grüne Insel Taiwan durchaus dem Körper dieses Insekts, während man man sich Festlandchina durchaus als Karren vorstellen kann. Und es gibt eine bekannte chinesische Fabel, mit der aufgezeichnet werden soll, dass es sinnlos ist, gegen die übermächtigen Kräfte des Bösen aufzulehnen, so dass man es besser bleiben lässt.
Nur dumm, gibt es da noch einen anderen Mantis gibt, der in China durchaus auch bekannt sein dürfte – jedenfalls wenn er nicht inzischen zensuriert worden ist. Dieser Mantis ist agil, gewitzt, praktisch unzerstörbar und wenn er nicht ein Verbündeter von Po dem Panda wäre, könnte er diesem mit seinen Akupunkturnadeln durchaus gefährlich werden. Die Rede ist natürlich von Mantis in der Trickfilmserie Kung Fu Panda. Lassen wir ihn doch einmal ihn zu Wort kommen (Minute 5:16):
Po:
他跟我说话?
Is he talking to me?
Spricht er mit mir?Tigress:
哪一个?都在说话!
Which one? The’re all talking!
Welcher? Sie reden alle!Po:
还真的,太吓人吧。我们也试试,也许能吓回去!
Oh, you’re right, that’s so scary. We should try that too, maybe it’d be scary back at them!
Stimmt, das ist ja so gruselig. Wir sollten das auch versuchen, vielleicht ist es für sie dann auch gruselig!Mantis:
好,但得先决定要说什么。不然就不吓人,只会显得很呆。
Okay, but we gotta plan what to say first, otherwise it won’t be scary, it’ll just be stupid.
Okay, aber wir müssen zuerst überlegen, was wir sagen wollen. Sonst ist es nicht gruselig, sondern bloss dumm.
Wäre das nicht auch ein kluger Rat für die Schweiz – erst einmal unter uns zu überlegen was wir (sagen) wollen, bevor wir jahrelange Diskussionen mit der Volksrepublik China führen, nicht zuletzt in Dutzenden von institutionellen «Dialogen», welche mein Kollege Henri Feron einmal als «dialogue de sourds entre la Chine et l’Occident» bezeichnet hat? Niemand verlangt von uns, dass wir uns vor den Karren werfen oder der Volksrepublik China die Freundschaft aufkünden. Aber waren wir nicht in den vergangenen 731 Jahren gut beraten, zu mehren und zu mindern, bevor wir Verträge abschlossen – sei es untereinander, sei es mit fremden Mächten?

Mit däm Gedanke im HIngerchopf wünsche ig euch aune, liebi Schwizerinne und Schwizer, a frohe erste Auguscht!