Nord Stream AG: Spielt die Schweiz mit dem Feuer?

Am 26. bzw. 27. September 2022 wurde bekannt, dass sowohl in Schweden als auch in Dänemark mindestens drei grosse Lecks an den Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 festgestellt wurden. Und mittendrin steckt die Schweiz, welche nach wie vor die Nord Stream 1 AG und die Nord Stream 2 AG beherbergt und zwar vielleicht nicht rechtlich aber mindestens moralisch für allfällige Schäden in der Verantwortung steht.

von Maja Blumer, 27. September 2022

Blenden wir ein bisschen zurück: Am 30. November 2005 wird in Zug die Nord Stream AG (damals noch: NEGP Company) ins Leben gerufen. Zweck: Erstellen und Betrieb einer Pipeline durch die Ostsee. Mit von Partie neben einem Schweizer «Wirtschaftsanwalt» der Stasi-Spitzel und Putin-Vertraute Artur Matthias Warnig, Deckname «Hans-Detlef» und wechselnde Vertreter der russischen Eigentümerin Gazprom, vorwiegend Russen. Damit dürfte auch die Antwort auf der Hand liegen, wieso die Nordstream AG in der Schweiz und nicht in einem der Länder gegründet wurde, durch deren «Exclusive Economic Zone» bzw. Territorialgewässer (Russland, Finnland, Schweden, Dänemark, Deutschland) die Pipeline führt: Hinter dem Schweizer Firmenmantel kann man viel besser im Verborgenen operieren, das war schon im Kalten Krieg so, als die Schweizer Behörden keine Schritte unternahmen, vom Stasi gesteuerte Geheimdeals zu unterbinden. Wie auch immer. Einiger Kritik zum Trotz wurde Nord Stream 1 im Jahr 2011 eingeweiht.

Kein Gasleck, sondern Sonnenuntergang über der Ostsee in Malmö. (Bild: privat)

Fast forward 2015: Russland hat inzwischen die Ukraine überfallen und am 11. Februar 2015 mit dem Abkommen von Minsk II einen Waffenstillstand vereinbart, wobei das Abkommen allerdings schon vor der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 mehrfach gebrochen wurde. Das hinderte aber die Gründung der Nordstream 2 AG am 14. Juli 2015 nicht. Gleicher Zweck, gleicher modus operandi. Mit von Partie wieder ein Schweizer «Wirtschaftsanwalt» (diesmal eine Frau, aber von der gleichen Kanzlei) und der bereits erwähnte Stasi-Spitzel «Hans-Detlef». Wieso man sich die Mühe machte, für eine zweite Pipeline am gleichen Ort eine separate Gesellschaft zu gründen, ist ein Rätsel. Divide ed impera?

Diesmal wurden nullkommaplötzlich kritische Stimmen laut. Und zwar nicht nur in den USA, wo die Kongressabgeordneten John McCain und Marco Rubio das Projekt kritisierten, sondern auch aus vielen EU-Ländern. Für viele war klar, dass Nord Stream 2 nur dazu diente, die Ukraine als Gas-Transitroute zu umgehen und so Druck auf die Ukraine auszuüben, sich den Forderungen der Russen zu unterwerfen.

Lediglich Deutschland und Österreich wehrten sich energisch gegen die Verschärfung der Sanktionen gegenüber Russland, um das im September 2021 schliesslich fertiggestellte, US$ 11 Milliarden schwere Projekt Nord Stream 2 noch zu retten. Im Februar 2022 wurde das Vorhaben in Deutschland endgültig auf Eis gelegt. Am 23. Februar verhängten die USA gegen Nord Stream 2 und Matthias Warnig erneut Sanktionen. Ab Juni 2022 floss das Gas in Nord Stream 1 auch nur noch spärlich und der Gasfluss kam Anfang September 2022 gänzlich zum Erliegen. Offenbar blieb aber doch noch recht viel Gas in den beiden Leitungen von Nord Stream 1 und 2 liegen, das dann plötzlich auf einen Schlag weg war.

Mit den am 26./27. September aufgetretenen drei Lecks dürften Nord Stream 1 und 2 aller Wahrscheinlichkeit nach endgültig zum Erliegen gekommen sein. Selbst wenn es sich bei den drei Lecks nicht um Sabotage handeln würde, sondern bloss um eine «zufällige» Fehlmanipulation der Nord Stream in Zug, wo «hoch spezialisierte Fachleute» die Anlage angeblich «wie Fluglotsen» am Bildschirm «steuern» sollten (Notabene: welch ein Glück, dass Flugzeuge von Piloten gesteuert werden, nicht von Lotsen, man stelle sich vor, diese Aufgabe würde nach Zug ausgelagert). So oder so dürfte keines der betroffenen Länder bereit sein, die Leitungen wieder instand zu stellen. Selbst wenn doch, und sich der Krieg in der Ukraine plötzlich in Minne in Luft auflösen würde, wäre das Vertrauen in die russischen Betreiber und die schweizerischen «Wirtschaftsanwälte» zu sehr erschüttert, um diese wie bisher weiterwursteln zu lassen. Da nützen auch vollmundige Versprechen der Nord Stream AG nichts:

Aufgrund der qualitativ hochwertigen Materialien und der sorgfältigen Konzeption der Rohrleitungen sind Beschädigungen und Verformungen sehr unwahrscheinlich. So liegt etwa die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls der Pipeline oder eines Lecks bei einem Zwischenfall in 100.000 Jahren. Dennoch ist Nord Stream im Umgang mit seinem zertifizierten Transportsystem auf jede Situation vorbereitet. Website der Nord Stream AG (aufgerufen am 27. September 2022)

Bleibt noch die Frage, was mit den beiden Schweizer AGs passiert. Nordstream 2 befindet sich bereits im Stadium der Auflösung, mit Entscheid vom 07.09.2022 hat der Einzelrichter am Kantonsgericht Zug eine provisorische Nachlassstundung letztmals bis 10. Januar 2023 verlängert. Mit Ablauf dieses Termins fällt die provisorische Stundung automatisch dahin. Die Liquidation einer Gesellschaft, deren einziger Vermögenswert in einer kaputten Pipeline in fremden Gewässern besteht, dürfte eine ziemlich unerfreuliche Angelegenheit werden. Das Gleiche gilt wohl sinngemäss für die Nord Stream AG, welche theoretisch fortbesteht und für den angerichteten Schaden gerade stehen müsste. Aber mit welchem Geld?

In Frage kommt natürlich eine persönliche Haftung, allen voran diejenige des Geschäftsleitungs- und Verwaltungsratsmitglieder. Nur sind das vorwiegend Russen, da dürfte die Strafverfolgung schwierig sein. Der Deutsche Artur Matthias Warnig soll abgetaucht sein, da dürfte ihm seine Stasi-Vergangenheit geholfen haben. Bleiben also fast nur noch die Schweizer Wirtschaftsanwälte und der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Wie hat letzterer in einem Interview doch kürzlich gesagt:

«Vielleicht kann ich noch mal nützlich sein.» – Gerhard Schröder, ehemaliger Bundeskanzler und Aushängeschild der Nord Stream 2, Stern vom 9. August 2022

Immerhin dürfte für die Schweiz ein Problem gelöst sein. Lange vor der Invasion Russlands in die Ukraine verlangte Nationalrat Jon Pult in einer Motion, dass sichergestellt wird, dass kein Gas durch die Pipeline Nord Stream 2 bezogen wird. Seine Begründung führte er unter anderem aus:

Die Schweiz ist nicht zuletzt aufgrund des rechtlichen Sitzes der Nord Stream 2 AG in Zug sowie weiterer Firmen stark exponiert. Zur Wahrung der aussenpolitischen Glaubwürdigkeit und des Klimaschutzes ist es Zeit, klar zu deklarieren, dass die Schweiz kein Gas von Nord Stream 2 beziehen wird. Nationalrat Jon Pult, Motion «Kein Gas von Nord Stream 2», 18. März 2021

Auch wenn das Problem, technisch sicherzustellen, dass kein Erdgas durch die Pipeline Nord Stream 2 bezogen werden kann, gelöst ist, obwohl die Motion von Jon Pult im Nationalrat (noch) nicht behandelt wurde, bleibt die Frage, was die aussenpolitischen Folgen sind, dass die Schweiz besonders bei den Nord Stream Gesellschaften toleriert, dass ausländische Unternehmen unter Schweizer Flagge unkontrolliert operieren können. Gesellschaften wie die beiden Pipelineunternehmen sind beileibe nicht die Einzigen, die den Standort Schweiz benutzen, ohne irgendeinen Bezug zur Schweiz zu haben.

Steht die Schweiz nicht mindestens moralisch in der Verantwortung, wenn sie zulässt, dass in Kriegszeiten eine russische Pipeline in der Ostsee von der Schweiz aus weiter betrieben werden kann und deshalb dort Schaden an der Umwelt oder der Schifffahrt anrichtet? Und was sind die Folgen für das aussenpolitische Ansehen der Schweiz?

Oder anders gefragt: spielt die Schweiz mit dem Feuer, wenn sie toleriert, dass fremde Mächte die Schweiz als Plattform für ihre internationalen Operationen nutzt, die durchaus im Kontext von Kriegshandlungen zu sehen ist?

Die im Rahmen des Investitionsprüfgesetzes angefragten Parteien und Wirtschaftsverbände äusserten sich mit wenigen Ausnahmen gegen die Einführung von Investitionskontrollen. Stehen Investitionskontrollen wirklich im «Widerspruch zur bewährten Aussenwirtschaftspolitik», wie etwa die FDP in ihrer Vernahmlassung zum Bundesgesetz über die Prüfung ausländischer Investitionen behauptet? Manövrieren wir uns nicht wieder in die internationale Isolation, in die genau diese «bewährte Aussenwirtschaftspolitik» während und nach dem zweiten Weltkrieg geführt hat, als man versucht hat, zwischen Hitler-Deutschland und den Alliierten und später zwischen der Sowjetunion und dem Westen zu lavieren, damit ein paar Wenige ihre Geschäfte machen können?

Es wäre an der Zeit ein breite Diskussion zu führen, wem die Aussenpolitik zu dienen hat: Einzelnen «Wirtschaftsanwälten» und den Steuereinnahmen einzelner Kantone, welche dubiose Firmen beherbergen? Oder den Gesamtinteressen der Schweiz, die nicht nur wirtschaftliche Interessen umfassen, sondern auch gesellschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte.


Die Autorin, Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua University), ist Fürsprecherin.