Die Rückkehr zur Vernunft in den aussenpolitischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Taiwan?

Kaum ein Aussenminister der Welt geniesst derzeit eine derart grosse mediale Präsenz wie Joseph Wu, welcher dem Aussenministerium der Republik China vorsteht. Dass er lange Interviews gibt, ist nicht neu. Neu ist dagegen, dass ihm auch in den Schweizer Medien der Tagesanzeiger-Gruppe ein Forum geboten wurde, die Position seines Landes und den Stand der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Taiwan ausführlich zu erläutern. Ein Anstoss dafür, endlich wieder rationale Überlegungen in die Gestaltung der schweizerischen Aussenpolitik einfliessen zu lassen?

von Maja Blumer, 31. Dezember 2022

Das Licht der Vernunft auch in der Taiwanpolitik des schweizerischen Bundeshauses? Abendstimmung über dem Berner Stockhorn (Bild: privat)

Am 6. November 2022 rieb man sich als liberaler Leser die Augen: Die NZZ am Sonntag bot dem chinesischen Botschafter in der Schweiz, Wang Shiting, ein Forum, um den durchaus demokratiefeindlichen Ansichten seiner Regierung Ausdruck zu geben. Er warnte den Schweizer Bundesrat vor einer Übernahme der Sanktionen der EU und das Schweizer Parlament vor einer Annäherung an Taiwan. Dies alles unter dem Titel: «Chinas Botschafter warnt: “Wir hoffen, dass die Schweiz ihre Vernunft beibehalten kann”.»

Ist es vernünftig, sich von einem fremden und dazu noch autokratisch regierten Land Vorschriften lassen zu machen, welche Entscheide der Bundesrat (oder doch eher das Parlament) in seiner Rechtssetzungstätigkeit zu fällen hat?! Ist es vernünftig, sich vorschreiben zu lassen, zu welchen Drittstaaten der Bundesrat (oder doch eher das Parlament?) diplomatische oder nicht-diplomatische oder quasi-diplomatische Beziehungen pflegen darf?!

Dass die Schweiz «ihre Vernunft» beibehalten bzw. wo nötig wiedererlangen kann, ist in der Tat zu hoffen. Drohungen, wie sie der chinesische Botschafter ausgesprochen hat, sind allerdings diesbezüglich allerdings wenig hilfreich. Angst ist ein schlechter Ratgeber, das war schon 1949 so, als Bundespräsident Max Petitpierre wie es scheint aus purer Angst und im Alleingang den Entscheid fällte, die Volksrepublik China anzuerkennen. Die Angst war zwar verständlich, war doch im Sommer 1949 der amerikanische Vize-Konsul von Maos Schergen in Shanghai «zu Brei geschlagen» worden und inhaftiert worden, so dass sich der französische Botschafter, Mr. Meyrier, nicht mehr aus dem Haus getraute und fand, es sei das geringere Übel, die maoistische Regierung anzuerkennen – wie der Geschäftsträger in der Botschaft in Nanjing schreibt, mit der Begründung:

«Il [Mr. Meyrier] est d’avis qu’il est tout à fait vain, inutile, de refuser ou de retarder indéfiniment la reconnaissance du nouveau régime. Cela pourrait qu’avoir de fâcheux résultats, car toute opposition active ou passive exaspère les communistes les communistes et les encourage à se livrer à des représailles contre les étrangers. Mieux vaut-il, selon lui, les reconnaître rapidement, inconditionnellement, ce qui n’engage à rien et permettrait peut-être à sauver quelque chose. Cela n’empêcherait nullement d’autre part, de les étrangler économiquement, si la possibilité se présente». – Jean-Pierre Jéquier (Schweizer Botschaft in Nanjing) in einem Schreiben vom 14. Juli 1949 an Henry de Torrenté (Schweizer Botschaft in London)

Wenn der chinesische Botschafter in der Schweiz derselben Vorschriften machen will, so kann das durchaus gutgemeint sein. Sicher glaubt er, wie viele seiner Landsleute an das, was man in China als «institutioneller Vorteil» wertet: dass alle Entscheidungen «von oben» gefällt werden; der Glaube an diesen institutionellen Vorteil hat in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart in China wiederholt ins Desaster geführt. Beispiele sind etwa der Dammbruch beim Banqiao Reservoir 1975 oder die Zero-Covid-Policy von Xi Jinping einschliesslich der 180°-Wende, bei der sich nun möglichst rasch möglichst Viele mit Covid anstecken sollen.

Nichtsdestotrotz ist es unhaltbar, wenn ein Botschafter dem Parlament und dem Bundesrat Vorschriften machen will, und dies noch via Medien, zumal ihm ja der Weg offen steht, seine Anliegen auf diplomatische Weise hinter verschlossener Tür geltend zu machen.

Wer über diese chinesischen Versuche des chinesischen Botschafters der Einflussnahme auf die schweizerische Politik via NZZ nur noch den Kopf schütteln konnte, fand einige Wochen später in der «linken» Presse in Form eines Interviews mit dem taiwanesischen Aussenminister Dr. Jaushieh Joseph Wu einen wohltuenden Gegenpol – ihm steht die Möglichkeit, die Anliegen seines Landes auf dem diplomatischen Weg vorzutragen nicht offen.

Nun sind Interviews mit Dr. Wu keineswegs neu, kaum ein Wissenschafter oder Aussenminister der Welt gibt seit so langem so viele und so ausführliche Interviews wie er. Von den australischen ABC News, dem amerikanischen Nachrichtensender CNN, der Deutsche Welle, der britische Guardian, dem französische Sender France 24 bis hin zum indischen WION: die 4. Gewalt ist für die Argumente des eloquenten Professors und Politikers sehr empfänglich.

Dies natürlich sehr zur Verärgerung der Volksrepublik China. Auf das 30-minütige Interview der bekannten Journalistin Palki Sharma des indischen Senders WION mit Joseph Wu reagierte das chinesische Aussenministerium mit einem fünfseitigen Brief. Die knappe und scharfzüngige Antwort von Palki Sharma dazu in der Sendung Gravitas von WION vom 23. Oktober 2020:

Unlike China citizens and journalists of India have the right to free speech, and this includes WION. At WION the decision to broadcast any story or interview is taken on the basis of editorial merit, on the basis of facts and reason, and not by press statements or protest letters.

Und damit wären wir wieder bei der Vernunft. Bei der Publikation von Artikeln und Interviews sollten der redaktionelle Wert basierend auf Fakten und Vernunft ausschlaggebend sein, nicht (staatliche) Propaganda oder Protestbriefe.

In der Schweiz schien es lange, als würde die Presse einen grossen Bogen um Taiwan und seine Politiker und Botschafter machen. Es wurde schon als Erfolg bezüglich der Verbesserung der taiwanesisch-schweizerischen Beziehungen gefeiert, dass der de-facto-Botschafter der Schweiz in Taiwan und «der Vertreter» (d.h. der de-facto-Botschafter) Taiwans in Bern im Januar 2021 «gemeinsam» an einem Webinar auftraten, wobei die NZZ dabei betonte, dass Taiwan international isoliert sei (was wohl eher dem Wunschdenken als der Realität entspricht).

Während auf der Ebene der Legislative seit Jahren und Jahrzehnten die Diskussion verschoben wird, wie mit Taiwan umzugehen ist, scheint der Durchbruch in den Schweizer Medien geschafft zu sein: In der zur Tagesanzeiger-Gruppe gehörenden Zeitung «Der Bund» (und anderswo) wurde in der Ausgabe vom 17. Dezember 2022 ein langes Interview mit dem Aussenminister der Republik China, Dr. Jaushieh Joseph Wu publiziert.

Der Aussenminister der Republik China, Jaushieh Joseph Wu (Bild: Der Bund, 17. Dezember 2022)

Das Interview mit dem taiwanesischen Aussenminister spricht für sich selbst. Dennoch gibt es einige Punkte, die es verdienen, vertieft zu werden:

Soziale Instabilität in der Volksrepublik China als Gefahr

Zu Beginn seines Interviews kommt der Aussenminister der Republik China auf die wachsende wirtschaftliche und soziale Instabilität in Festlandchina zu sprechen. Nicht erst seit den Protesten gegen die chinesische Regierung und ihre Zero-Covid-Politik beunruhigt dies viele Beobachter. Es scheint, als jage in der Volksrepublik China eine Krise die andere. Immobiliencrashs, Bankenpleiten, Putschgerüchte, Umweltkatastrophen, Lockdowns, Zusammenbruch des Gesundheitswesens etc. schienen der Vernunft keinen Raum zu geben.

Zu Recht weist Joseph Wu darauf hin, dass diese innenpolitischen Probleme keineswegs dazu führen müssen, dass der Druck gegen Taiwan und andere Länder, mit denen die Volksrepublik China Konflikte austrägt, abnimmt. Im Gegenteil:

«Aber für ein autoritäres Land ist die Ausgangslage anders. Ein Weg, mit seinen innenpolitischen Problemen umzugehen, besteht darin, die Aufmerksamkeit abzulenken. Und da ist es der einfachste Weg, eine externe Krise zu schaffen. Und natürlich liegt da Taiwanfür China am nächsten. Wir sind daher besorgt, dass das Regime Taiwan als Sündenbock identifizieren könnte.» – Joseph Wu, Der Bund, 17. Dezember 2022

Führt man sich die Geschichte vor Augen, führte soziale Instabilität im Landesinnern oft zu äusseren Konflikten. Dies zeigt sich auch in China. So diente der Grenzkrieg mit Indien 1962 dazu, von den Folgen der desaströsen Politik des «Grossen Sprung nach vorne» abzulenken. Auch der chinesisch-vietnamesische Krieg 1979 kann im Rahmen der Konsolidierung der Macht durch Deng Xiaoping gesehen werden, einem Prozess, dem mehrere Jahre politischer und sozialer Instabilität vorausgingen.

Nun könnte man, sagen, dass erhöhte Kriegsrisiko in Taiwan und in anderen Anrainerländern der Volksrepublik China wie z.B. Indien, Japan, den Philippinen sei ein Problem, um das sich andere kümmern sollen – die Nato, AUKUS, die Amerikaner usw. Schliesslich hat das im Koreakrieg auch funktioniert. Andere haben dort die Kommunisten zurückgedrängt – wäre dies nicht gelungen, hätten dies wohl die Sowjets zum Anlass genommen, ihr Herrschaftsgebiet in Europa auszudehnen, genauso, wie der von einer tiefen Abneigung gegen Präsident Truman geprägten Bundesrat und Aussenminister Max Petitpierre befürchtete.

Es gibt allerdings verschiedene Dinge, die sich seit 1950 deutlich geändert haben: erstens ist die Schweiz inzwischen UNO-Mitglied und beansprucht ab dem nächsten Jahr als Mitglied des UN-Sicherheitsrates eine besonders wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Grundsätze des Völkerrechts. Zweitens hätten kriegerische Handlungen in Ostasien noch weit gravierendere wirtschaftliche Konsequenzen als der Krieg in der Ukraine (ohne diesen kleinreden zu wollen). Drittens haben viele Länder die Zeit genutzt, ihre Strategien bezüglich des sich verschärfenden Konflikts anzupassen und untereinander (im Rahmen der Nato, G7 etc) abzusprechen; Deutschland rechnet beispielsweise damit, dass ein Angriff auf Taiwan bereits vor 2027 erfolgen könnte, Kanada hat eine neue Strategie für den Indo-Pazifik veröffentlicht, in Grossbritannien wurde debattiert, ob China nun als «threat» einzustufen sei oder nicht usw.

Alles in allem erscheint es auch für die Schweiz als vernünftig, dem Beispiel Taiwans zu folgen und Verbündete weltweit zu gewinnen und gleichzeitig ihre eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Ob es sinnvoll wäre, sich wie Schweden der Nato anzuschliessen, oder ob es ausreicht, auf informelle Kanäle zu setzen, wird zu diskutieren sein. Einfach zu hoffen, dass die vielbeschworenen guten Beziehungen mit der Volksrepublik China der Schweiz helfen werden, wäre naiv.

Demokratie als Gegenentwurf

Immer wieder betont Joseph Wu in seinen Interviews, dass die taiwanesische Demokratie einen Gegenentwurf zum zunehmend autokratischen System der Volksrepublik China sei. Daraus spricht einmal der Stolz eines Bürgers eines Landes, dem die Demokratie nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern sich diese erkämpft hat. Hinzu kommt, dass sich der Wissenschafter im Rahmen seiner 1989 an der Ohio State University eingereichten Dissertation unter dem Titel «Toward Another Miracle? Impetuses and Obstacles in Taiwan’s Democratization» mit den Grundlagen des Demokratisierungsprozesses auseinandergesetzt hat, insbesondere mit den sozio-ökonomischen Bedingungen, in denen Demokratie gedeihen kann.

Auch wenn diese Erfahrungen im Umgang mit Demokratie nicht ohne weiteres auf die Schweiz übertragbar sind, stellt sich doch die Frage, ob es für Schweiz vernünftig ist, die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen mit Autokratien wie Putin’s Russland, Xi Jinping’s China oder Kim Jong’uns Nordkorea zu vertiefen, oder ob es nicht besser wäre, hier eine gewisse Zurückhaltung zu üben und nicht einfach an den «Wandel durch Handel» oder den Erfolg von jahrzehntelangen «Dialogen» zu hoffen. Tatsache ist: Die Zeit, die man verbringt, um über Nachbesserungen am Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik investiert, wäre womöglich anderswo besser investiert.

Das schweizerische Totschlagsargument «Einchinapolitik»

Wann immer ein parlamentarischer Vorstoss kommt, man solle doch die Beziehungen zu Taiwan überdenken, kommt als Totschlagsargument vom Bundesrat die «Einchinapolitik». Auch wenn man in der Bundesverwaltung sich schon vor Jahrzehnten eingestanden hat, dass es die Republik China nun einmal gibt (immerhin seit 111 Jahren), dass die Republik China inzwischen ein demokratisches Land ist und dass die Republik China über alles verfügt, was nun einmal einen Staat als Völkerrechtssubjekt ausmacht, werden diese Tatsachen mit dem Argument «Einchinapolitik» vom Tisch gewischt.

Dass diese Argumentation nicht verfängt, müsste man eigentlich inzwischen auch im Bundesrat gemerkt haben. Zu Recht weist Joseph Wu in seinem Interview im Bund darauf hin:

Andere Länder in Europa wie Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Tschechien, Polen oder die Slowakei haben alle eine eigene Version der Ein-China-Politik. Wir haben mit diesen Ländern keine diplomatischen Beziehungen. Dennoch ist der Austausch sehr gut. Sie beteiligen sich sogar an Sicherheitsdiskussionen. Joseph Wu, Der Bund, 17. Dezember 2022

Soweit ersichtlich kennt kein anderes demokratisches Land eine derart extrem chinahörige Version der Einchinapolitik wie die Schweiz. Wieso sollte sich die Schweiz auf die Definition der Einchinapolitik verlassen, wie es der Volksrepublik China gerade gefällt, diese heute zu definieren? Wo liegt die Ratio, die Vernunft dieser Definition? Welchen Vorteil sollte China, Taiwan und/oder die Welt haben, wenn Taiwan von der Volksrepublik China einverleibt würde (oder vice versa)? Noch nicht einmal Taiwan und die Volksrepublik China konnten sich auf eine Definition der Einchinapolitik, geschweige denn über deren Sinn und Zweck einigen. Sie konnten sich noch nicht einmal darüber einigen, Diskussionen darüber zu führen. Joseph Wu dazu in einem Interview mit dem Nachrichtensender PBS aus dem Jahr 2001:

So you can’t even agree on what is “one China”?
Exactly. And China is saying that we have to agree with their terms before the negotiation can start.
Joseph Wu, PBS Frontline, 2001

Was allerdings feststeht, ist die Einchinapolitik, welche 1972 von der USA definiert wurde und welche dazu führte, dass die Republik China ihren Sitz im UN-Sicherheitsrat räumen musste. Die Einchinapolitik, wie sie damals (gegen den Willen der Volksrepublik China) von den USA zementiert wurde, beschränkt sich darauf, festzustellen, dass beide Chinas – die Republik China und die Volksrepublik China – auf einer Einchinapolitik beharren, ohne dazu Stellung zu nehmen, ob und welches China über das andere China eine legitime Herrschaft ausüben dürfe. Solange die Volksrepublik China und Taiwan nicht über eine Aufgabe der Einchinapolitik oder über eine Anpassung der jeweiligen Definition dieser Einchinapolitik einigen können bleibt es eben beim «status quo». Die Schweiz sollte sich vernünftigerweise aus diesem Streit raushalten und die Volksrepublik China nicht noch darin bestärken, diesen status quo zu ändern.

Nichts und niemand, auch der taiwanesische Aussenminister nicht, verlangt, dass die Schweiz in unvernünftiger und unverantwortlicher Weise ihre diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik China über Bord wirft.

Aber wäre es zuviel verlangt, wenn der Bundesrat endlich seinen Bericht zu den Verbesserungen der Beziehungen zu Taiwan vorlegen würde, den der Nationalrat mit der Annahme des Postulats von Hans-Peter Portmann und Nicolas Walder betreffend «Verbesserungen der Beziehungen mit Taiwan» am 14. September 2021 mit grosser Mehrheit verlangt hat?

Wäre es zuviel verlangt, dass sich die Schweiz an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einschliesslich des seit 1918 und nach wie vor immer noch gültigen Freundschaftsvertrag mit der Republik China hält – ein Vertrag, der das Recht des Botschafters der Republik China in der Schweiz beinhaltet, als solcher behandelt zu werden (vgl. Ziff. II des Freundschaftsvertrags)? Oder wenigstens ehrlich zu sagen, dass sie an diesen Vertrag nicht mehr gebunden sein will und der Bundesversammlung die Aufhebung dieses Vertrages zu beantrage?

Wäre es zuviel verlangt, dass sich die Schweiz wenigstens die Volksrepublik China nicht durch ihre gedankenlose Übernahme der kommunistischen Variante der Einchinapolitik in ihrem Vorhaben unterstützt, Taiwan als «innere Angelegenheit» zu qualifizieren und dadurch die Annektion zu legitimieren? Dies eingedenk ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung «jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt» zu unterlassen (Art. 2 (4) der UN-Charta)?

Oder wäre es zuviel verlangt, die minimalsten Regeln des Anstandes zu wahren, etwa diejenigen, den Aussenminister in dieser Funktion in die Schweiz reisen zu lassen? Joseph Wu dazu im Interview im Bund:

«Sagen Sie bitte Ihrer Regierung, dass sie den taiwanesischen Aussenminister einreisen lassen soll. Ich kann Bratislava besuchen. Ich kann Kopenhagen besuchen. Ich kann Prag besuchen. Ich kann Warschau besuchen. Ich kann Brüssel besuchen. Aber ich glaube nicht, dass ich im Moment die Schweiz besuchen kann wegen deren Auslegung der Ein-China-Politik.» Joseph Wu, Der Bund, 17. Dezember 2022

Dass so ganz nebenbei einige Punkte bestehen, in denen man bei einem solchen Besuch gemeinsame Anliegen vernünftigerweise gemeinsam angehen würde, dürfte wohl unbestritten sein. Zu nennen ist etwa Cybersicherheit und der Schutz vor Desinformation, der Tourismus, Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien, Abbau von Handelsschranken usw.

Voraussetzung dafür wäre aber, dass man sich auf Augenhöhe begegnen kann. Die herablassende Art, mit der die Schweiz den taiwanesischen Botschafter in der Schweiz gnädigerweise gestattet hat, an einer Videokonferenz teilzunehmen, was wie oben erwähnt von der NZZ als Entgegenkommen gegenüber Taiwan gefeiert wurde, ist einer gedeihlichen Beziehung zwischen den beiden Staaten und deren Bürgern nicht gerade förderlich.

Neutralität

In diplomatische Worte verpackt, übt der taiwanesische Aussenminister leise Kritik an dem, was der Schweizer Bundesrat als Neutralitätspolitik bezeichnet:

«Die Schweiz verfolgt seit langem eine Politik der Neutralität, und deshalb würde ich die Schweiz ermutigen, sich etwas neutraler zwischen Taiwan und China zu verhalten, anstatt auf der Seite Chinas zu kämpfen. Schliesslich ist China ein sehr autoritäres Land, das andere Länder bedroht. Sich auf die Seite dieses autoritären Chinas zu stellen, ist vielleicht nicht die beste Politik für Ihr Land.» – Joseph Wu, Der Bund, 17. Dezember 2022

Auch wenn es am Schweizer Volk ist, über die Neuausrichtung der Schweizer Neutralitätspolitik oder die Auslegung ihrer Einchinapolitik zu beschliessen, schiene es mir es durchaus vernünftig, diesen Rat des Aussenministers der Republik China zu beherzigen. Ob Bundesrat Cassis nun in einer Führungskrise steckt oder nicht, es wäre buchstäblich die letzte Minute, über den Umgang mit Taiwan nachzudenken, bevor die Schweiz als Mitglied des Sicherheitsrates für die nächsten zwei Jahre das glitschige Parkett der geopolitischen Bühne betritt, wo die Republik China auch 2023 mit grosser Sicherheit ein Thema bleiben wird.