Schweizer Neuanfang in den Philippinen

Heute stattet der Schweizer Aussenminister Cassis den Philippinen einen Kurzbesuch ab, die erste Visite eines Bundesrates seit 2008. In den vergangenen 16 Jahren wurden lediglich zweimal Vertreter der Philippinen vom Schweizer Bundesrat in unserem Land begrüsst: Bundesrätin Simonetta Sommaruga traf sich 2011 mit der philippinischen Arbeitsministerin Rosalinda Dimapilis-Baidos und Bundesrat Schneider-Ammann traf sich 2017 mit dem philippinischen Handelsminister Ramon Lopez am WEF. Wieso hat man die Philippinen so lange links liegen gelassen? Und ist die Stippvisite ein Zeichen für einen Neuanfang in den bilateralen Beziehungen zwischen den Philippinen und der Schweiz? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich wohl zunächst mit der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen der Philippinen auseinanderzusetzen.

von Maja Blumer, 8. Februar 2023

Geografie und Geschichte

Für einen knappe Überblick über Geografie und Geschichte der Philippinen kann auf einen Bericht von Hans Schaffner aus dem Jahr 1952 zurückgegriffen werden, der in bemerkenswert konziser Weise über alle Länder berichtete, die man heute salopp als Asien-Pazifik (APAC) bezeichnet:

Die Gesamtoberfläche der Philippinen ist etwa diejenige Italiens. Die Bevölkerung beträgt ca. 19. Millionen. Die Oberfläche dieses Staates setzt sich aus 7107 Inseln zusammen, von denen nur 462 grösser sind als 6 Km2. Rund 70% der Gesamtoberfläche entfallen auf die Hauptinseln Luzon und Mindanao. Die Inselgruppe bildet ein Übergangs- und Mischungsgebiet zwischen Festland Asien, Indonesien und Ozeanien. Die Bevölkerung setzt sich zu etwa 10% aus primitiven Urbewohnern, 30% Indonesiern, 40% Malayen, 10% Chinesen, 5% Indern, 3% Europäern und 2% Arabern zusammen. Unter der spanischen Herrschaft traten über 80% der Bevölkerung zum katholischen Christentum über. Rund ¼ der Einwohner spricht englisch, etwa ½ Million spanisch und der Grossteil verschiedene Eingeborenensprachen. Die Inselgruppe wurde von Magalhaes [Fernão de Magalhães, heute besser bekannt unter dem Namen Ferdinand Magellan] 1521 entdeckt und von den Spaniern kolonisiert. 1898 erklärten sich die Philippinen unabhängig, wurden darauf am 10. Dezember des gleichen Jahres für 100 Mio. Franken von Spaniern an die USA verkauft und von den Amerikanern in Obhut genommen. Die heutige philippinische Republik trat am 4. Juli 1946 ins Leben, nachdem die USA durch ein Bundesgesetz vom 24. März 1934 innerhalb von 10 Jahren die vollständige Autonomie versprochen hatten. Die philippinische Verfassung wurde in einer Volksabstimmung vom 14. Mai 1935 angenommen und steht noch heute mit einigen Abänderungen in Kraft. Trotz der vollständigen Autonomie der Philippinen bestehen noch manche Bindungen mit den USA.

Also ob es jetzt exakt 7107 Inseln sind, wie Hans Schaffner meint, oder ein bisschen mehr, da bin ich mir nicht so sicher. Sicher ist, dass die Auswahl an grossen und kleinen, spitzen und flachen, eckigen und runden Inseln in den Philippinen, hier bei El Nido auf der Insel Palawan, unglaublich gross ist. (Bild: privat)

Seit 1952 hat sich natürlich einiges verändert:

  • Heute haben die Philippinen über 117 Millionen Bürger, die weiterhin hauptsächlich auf den Inseln Luzon und Mindanao leben. Die Philippinen sind allerdings ein Auswandererland. Die Überweisungen der Overseas Filipino Workers (OFW) aus den Golfstaaten, Taiwan, Hong Kong, den USA usw. sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Gemessen an der Bevölkerung sind die Philippinen der dreizehntgrösste Staat der Welt und werden aufgrund der immer noch hohen Fertilitätsrate von 2.7 in absehbarer Zeit Japan ablösen und damit zum zweitgrössten ostasiatischen Land hinter China bzw. zum zweitgrössten südostasiatischen Land hinter Indonesien werden. Das Medianalter beträgt lediglich 25 Jahre, verglichen mit 49 Jahren in Japan oder 39 Jahren in China.
  • Die Philippinos definieren sich längst nicht mehr nach der Herkunft ihrer Vorfahren aus China, Malaysia oder Indonesien, sondern eher nach ethnolinguistischen Gruppen, etwa Tagalog, Visayans, Cebuano, Ilocano, Hiligaynon, Bikol und Waray. Und natürlich spricht man nicht mehr von «primitiven» Urbewohnern, sondern bezeichnet diese als Indigene. Sie machen immer noch etwa 8,21 Millionen der philippinischen Bevölkerung aus. Im Jahr 2022 lebten 3’523 Schweizer in den Philippinen, die nach Thailand (9’955) die beliebteste Destination in Ost- und Südostasien waren. Es folgten Singapore (2’613), Japan (1’884) und Hong Kong (ca. 1’600).
  • Es definieren sich nach wie vor etwa 80% der Bevölkerung als Katholiken, weitere 10% gehören anderen christlichen Kirchen an, 6% bekennen sich zum Islam und 4% zu anderen oder keiner Religion(en).
  • Hauptsprachen in den Philippinen sind heute die Umgangssprache Tagalog und Englisch, wobei Englisch in der Verwaltung, in Schulen und Universitäten sowie in den Medien dominiert. Dies macht es für Ausländer sehr einfach, sich in den Philippinen zu verständigen, auch wenn es etwas gewöhnungsbedürftig ist, dass viele Philippinos ständig zwischen Tagalog und Englisch hin- und herwechseln. Daneben werden in den Philippinen etwa 180 weitere Sprachen gesprochen. Spanisch hat nur noch mit einigen Lehnwörtern überlebt.
  • Die philippinische Verfassung von 1935 hielt nicht lange stand. 1965 wurde Ferdinand Marcos sr. zum Präsidenten gewählt und 1969 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Kurz vor dem Ende dieser zweiten und letzten Amtszeit setzte er am 21. September 1972 die Verfassung ausser Kraft und verhängte Kriegsrecht. Marcos wurde erst im Februar 1986 durch die Peoples Power Revolution, eine gewaltlose Bürgerprotestbewegung, gestürzt. Die heute geltende Verfassung trat im Februar 1987 in Kraft.

Entwicklungsland oder Wirtschaftsmacht der Zukunft?

Momentan gelten die Philippinen als klassisches Entwicklungsland. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf betrug 2023 z.B. laut IMF nur USD 3’859 pro Jahr. Nachbarländer wie Taiwan (USD 32’339) oder Thailand (USD 7’298) sind deutlich wohlhabender. Allerdings hatten die Philippinen, die stark unter der Covid-Politik gelitten haben, in den letzten Jahren ein sehr hohes Wirtschaftswachstum und sind so im Begriff, aufzuholen.

Ein Grund für den Rückstand der wirtschaftlichen Entwicklung ist, dass das Land nach wie vor politisch instabil ist. Die 22 Jahre der Marcos-Herrschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Die Seilschaften des 1989 im amerikanischen Exil verstorbenen Diktators sind immer noch mächtig, was auch die Wahl von Marcos’ Sohn, Ferdinand Marcos jr., besser bekannt als Bongbong Marcos, zum Präsidenten erklärt.

Seit Jahren kämpfen die Philippinen zudem mit islamistischem Terror und Sezessionsgelüsten, die gerade wieder einmal vom ehemaligen Aussenminister Duterte geschürt werden.

Die philippinische Bürokratie gilt als Albtraum und schürt die Korruption. Das Schulsystem schneidet im internationalen Vergleich sehr schlecht ab. In der letzten PISA-Studie waren die Nachbarländer Singapore und Taiwan Weltspitze, mit 575 bzw. 547 Punkten, Thailand erreichte 394 Punkte, die Philippinen findet man ganz am Ende mit 355 Punkten. Auch beim Leseverstehen liegen Singapore und Taiwan ganz vorne (513 bzw. 515 Punkte), die Philippinen findet man mit 347 Punkten wiederum ganz am Ende der Liste.

Ein Hindernis ist die Infrastruktur. Metro Manila, die neben Manila selbst diverse Satellitenstädte umfasst, hat insgesamt knapp 14 Millionen Einwohner. U-Bahnen bzw. Hochbahnen sind eine Rarität. Ein wichtiger Teil des Verkehrs wird immer noch mit Jeepneys abgewickelt, eine philippinische Erfindung die genial, billig und praktisch ist, wenn man es nicht eilig hat. Nur bleiben die Jeepneys wie die Autos auch im gigantischen Stau stecken. Ende Jahr sollen sie ausser Betrieb genommen werden. Während in den Megastädten Dichtestress herrscht, herrscht auf dem Land gerade das gegenteilige Problem: Um vom Flughafen in Puerto Principesa zu den weltberühmten Felsformationen von El Nido zu gelangen, braucht man für die 230 km auf der Schotterpiste mindestens einen halben Tag. Natürlich würden die Chinesen gerne für wenig Geld eine Autobahn bauen. Nur wäre das wohl das Ende der Korallenriffe und der unberührten Strände der Region.

Ein Klumpfuss ist die koloniale Vergangenheit. Während z.B. Südkorea, Japan, Vietnam oder Taiwan erfolgreiche Landreformen durchführten, die enorme soziale und finanzielle Kräfte freisetzten, scheiterten entsprechende Versuche bis heute.

Die quasi-feudalen oder kolonialistischen Strukturen übertrugen sich auch auf die Industrie. So wurde die staatliche Stahlfabrik NSC entsprechend den Vorgaben der amerikanischen Kreditgeber teilweise privatisiert, so dass die Stahlfabrik von der philippinischen Familie Jacintos dominiert wurde. In den Neunzigerjahren wuchs der Kapitalbedarf, um mit der südkoreanischen und taiwanesischen Konkurrenz mithalten zu können. Es folgte eine weitere Privatisierung, bei der die malaysische Firma Wing Tiek Holding 1997 die Führungsrolle übernahm. Diese Firma hatte keine Erfahrung in der Stahlproduktion und versuchte, die NSC von Kuala Lumpur aus zu managen. 1997 folgte bereits ein neuer Handwechsel, 1999 schloss die NSC die Tore und die verbleibenden 1’800 Angestellten verloren ihre Stelle.

Die Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht USA sind ambivalent. Einerseits besteht in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine grosse Abhängigkeit und in sprachlicher und religiöser Sicht eine grosse Nähe. Viele Filippinos arbeiten in den USA, amerikanische Spitäler müssten wohl dichtmachen, wenn sie auf philippinische Krankenschwestern verzichten müssten, Kreuzfahrtschiffe könnten ohne philippinische Seeleute nicht ablegen. Für amerikanische Firmen sind die Philippinen die bevorzugte Destination für Business Process Outsourcing (BPO), egal ob es sich um Finanzen und Buchhaltung, HR, Verkauf und Marketing, Kundendienst oder anderes handelt, was nicht ortsgebunden ist. Immer wieder versuchen die Philippinen aber, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren. So mussten die USA 1992 ihre Marinebasis in Subic Bay räumen. Die Spannungen mit China führen derzeit jedoch zu einer militärischen Wiederannäherung.

U.S. Marines raise the American flag as their Philippine counterparts raise their ensign during morning colors at the start of the base deactivation ceremony for Naval Station, Subic Bay. U.S. Naval personnel are relinquishing control of both Subic Bay and Naval Air Station, Cubi Point, to the Philippine government and Subic Bay will now be recognized as Subic Bay Metropolitan Authority Headquarters. (Bild: Wikemedia Commons)

Grundsätzlich scheinen im Moment alle Voraussetzungen gegeben, dass die Philippinen sehr rasch aufholen kann. Wie Südkorea und Taiwan haben es auch die Philippinen geschafft, ohne fremde Hilfe die Diktatur abzuschütteln. Es ist nicht anzunehmen, dass die Filipinos so leicht auf diese Errungenschaft verzichten muss. Während viele Länder der Welt mit einer schnell alternden und schrumpfenden Bevölkerung kämpfen, machen sich die Philippinen gerade erst daran, die «demographische Dividende» zu ernten. Während andere Länder mit der Gefahr «Supply Chain Disruptions» kämpfen, sind die Philippinen reich an allem was man sich nur wünschen kann: grosse Agrarflächen, Wälder, reichhaltige Fischgründe, Eisenerz, Chrom, Zink, Gold, Kupfer, Silber, Erdöl und Erdgas usw. Und last but not least verfügen die Philippinen über die Allianzen, die notwendig sind, um diese Ressourcen auch verteidigen und nutzen zu können.

Verteidigung wird insbesondere bezüglich der Volksrepublik China notwendig sein, welche ihre Hoheitsansprüche weit in die Westphilippinische See – auch bekannt als Südchinesisches Meer – ausgedehnt haben und diese immer wieder mit militärischer und paramilitärischer Gewalt durchzusetzen versuchen. Nachdem die Philippinen jahrelang auf rechtlichem und diplomatischem Weg versucht haben, die Souveränität des Landes zu wahren, hat es begonnen, militärisch aufzurüsten. In den nächsten 20 Jahren sollen bis zu USD 35 Milliarden in die Modernisierung der philippinischen Streitkräfte gesteckt werden.

Und die Schweiz?

Nicht nur der Bundesrat, sondern auch die Schweizer Wirtschaft hat die Philippinen bisher links liegen gelassen. Die Schweizerische Nationalbank hat 2022 Direktinvestitionen in den Philippinen von CHF 2’662 Millionen verzeichnet. Der Höchststand war 2012 mit CHF 3’466 Millionen. Zum Vergleich: 2022 wurden die Schweizer Investitionen in der Volksrepublik China mit CHF 27’920 beziffert, eine Allzeithoch und eine Steigerung von CHF 2’677 Millionen gegenüber dem Vorjahr 2021 und eine Steigerung von 13’060 Millionen gegenüber 2012, als der Kapitalbestand der schweizerischen Direktinvestitionen in der Volksrepublik China mit 14’860 Millionen beziffert worden war. Sprich: die Schweizer Direktinvestitionen in der Volksrepublik China stiegen in der Ära von Xi Jinping um 88%, während sie in den Philippinen, wo 2016 und 2022 je ein friedlicher Präsidentenwechsel stattfand um über 23% schrumpften. Von der Demographiedividende hält man in der Schweiz offenbar etwa gleich viel wie von der Demokratiedividende. Ob sich diese Strategie bezahlt macht, wird sich weisen.

Die Importe aus den Philippinen in die Schweiz betrugen im Vorjahr CHF 229’402’125, was 0,10% der Gesamtimporte der Schweiz entspricht. Die Schweizer Exporteure lieferten Waren im Wert von 333’013’891 in die Philippinen, was 0.12% der Gesamtexporte entsprach. Während die Importe aus den Philippinen seit 2012 stark zugenommen haben, die Zunahme beträgt fast 82%, stagnieren die Schweizer Exporte mehr oder weniger.

Sowohl bei den Direktinvestitionen als auch beim Handel besteht also viel «Luft nach oben». Vom Besuch von Bundesrat Cassis sind keine konkreten Ergebnisse zu erwarten. Immerhin kann er aber ein Signal sein, den Philippinen die Beachtung zu schenken, die sie verdient