Der MSCI-Index kündigt China die Liebe auf

Die Liebe für chinesische Firmen hatte, soweit der Index der Morgan Stanley Capital International Inc., kurz MSCI betroffen ist, ausgerechnet am Valentinstag 2024 ein abruptes Ende. Die MSCI Inc. gab bekannt: Per Ende Monat werden 66 Firmen aus dem MSCI China Index und damit auch aus dem MSCI World Index gestrichen. Dies hat unmittelbare Auswirkungen für Anlagefonds aus aller Welt. Ist China «uninvestible» geworden?

von Maja Blumer, 14. Februar 2024

Am 14. Februar 2024 wurde öffentlich, dass per Ende Monat 66 Firmen aus der Volksrepublik China und drei Unternehmen aus Hong Kong aus dem MSCI China Index bzw. aus dem MSCI Hong Kong Index verbannt werden. Auf der Liste der Gestrichenen aus der Volksrepublik China sind bekannte Namen zu finden, beispielsweise die Immobilienentwickler Gemdale Corp. und Greentown China Holdings Ltd., die Fluggesellschaft China Southern Airlines Co., im Gesundheitssektor BGI Genomics und Ping An Healthcare and Technology Co., letztere ein Zweig des Finanzkonzerns Ping An. Der bekannteste Namen unter den Gestrichenen dürfte Weibo sein, das chinesische Pendant zu Twitter. In Hong Kong wurden Budweiser Brewing Co APAC Ltd, New World Development Co und Xinyi Glass Holdings Ltd. eliminiert.

Neu hinzugefügt wurden in der Volksrepublik China fünf Gesellschaften, die bekanntesten sind das Biotechunternehmen Giant Biogene Holding und der Weisswarenhersteller Midea Group Co.

Nun ist es bei Indizes immer wieder notwendig, diesen anzupassen. Dass aber gleich auf einen Schlag 66 von insgesamt 756 Firmen bzw. 3 von 33 Unternehmen aus einem Index verschwinden, ist doch eher aussergewöhnlich.

Ganz unerwartet kommt der Schritt nicht. Wenn man sich die Indexentwicklung des MSCI China bzw. des MSCI Hong Kong anschaut, versteht man, wieso etwas unternommen werden musste. Seit ihrem Höchstand im Sommer 2021 befinden sich beide Indizes im freien Fall und haben sich zudem seit Herbst 2022 nicht nur vom Rest der Welt sondern auch von anderen Entwicklungsländern abgekoppelt.

Der MSCI China Index stand im Januar 2024 bei noch 202.38 Punkten, während der MSCI All Countries World Index Investable Market Index (MSCI ACWI IMI) bei 541.40 stand. Der MSCI Hong Kong sackte im Januar 2024 auf 259.48 Punkte ab, während der MSCI World 552.97 Punkte erreichte.

Besonders schmerzhaft dürfte für die Volksrepublik China sein, dass sich die Aktienmärkte in Japan und Taiwan steil nach oben bewegten.

Einige Kommentatoren schliessen aus der Scherenbewegung, dass eine Kapitalflucht aus der Volksrepublik China eingesetzt hat und dass Liquiditätsengpässe drohen. Und dass die Rettungsversuche der chinesischen Regierung sich als Fehlschläge erwiesen haben.

Ob dies zutrifft, lässt sich sehr schwer beurteilen, weil es je länger je schwieriger ist, verlässliche Zahlen bezüglich der chinesischen Wirtschaft zu erhalten. Es ist hinreichend bekannt, dass Angaben zu Bruttosozialprodukt, Arbeitslosigkeit, Bevölkerung, Teuerung etc. nicht stimmen können. Lange galt der «Li Keqiang Index» (bestehend aus Elektrizitätsverbrauch, Güterverkehr per Eisenbahn und Bankdarlehen) als verlässlichste Messgrösse. Nachdem Li Keqiang tot ist, wagt wohl niemand, einen entsprechenden Index zu generieren. Erst recht ist es lebensgefährlich geworden, chinesische Firmen einer Fundamentalanalyse zu unterziehen, wie es z.B. Andrew Left mit seinem Citron Report 2012 mit seiner Analyse der Bilanz von Evergrande getan hat.

Die Indexmacher von MSCI standen hier wohl vor einer schwierigen Aufgabe: streichen sie zu viel, ist der Index untauglich, um langfristige Entwicklungen zu beobachten und zudem verteilen sich die schwindenden Anlagegelder auf zuviele Titel. Streichen sie zu wenig, nehmen die Anleger reissaus, weil sie nicht bereit sind, ihre Anlagen auf 765 Unternehmen zu verteilen. So oder so riskieren die Indexmacher von MSCI, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren und den Zorn der Volksrepublik China auf sich zu ziehen. Gerade in der Volksrepublik China wird behördlicherseits explizit – insbesondere vom Ministerium für Staatssicherheit – gefordert, nur noch Positives über den Aktienmarkt zu berichten.

Chinesische Anleger bezeichnen sich selbst als Giraffen, nachdem sie einen Post der amerikanischen Botschaft in Beijing auf deren Weibo Account ihrem Unmut über die Entwicklung auf dem chinesischen Aktienmarkt Luft gemacht haben. (Bild: privat)

Die «Giraffen», wie sie sich chinesische Kleinanleger selber bezeichnen, dürften von der Schützenhilfe von MSCI Inc. für die chinesische Regierung nicht unbedingt erfreut sein. Wenn sie davon ausgehen müssen, dass sie manipuliert werden sollen, dürfte das eher zu einer grösseren Diskussion führen, als derjenigen, welche frustrierte chinesische Anleger zum Thema Giraffen in ihren Kommentaren auf den Weibo Account der US-Botschaft in Beijing geführt haben.

Weibo ist vielleicht das beste Beispiel, welche Probleme sich für MSCI wie auch die Anleger stellten, handelt es sich doch um eine der 66 aus dem MSCI China Index gestrichenen Firmen, die vor noch nicht allzulanger Zeit ein Publikumsliebling war. Weibo gilt als Pendant zu Twitter. 2013 ging Weibo mit Alibaba eine strategische Partnerschaft ein. 2014 wurden Depositary Receipts von Weibo an der Nasdaq gelistet, wobei Alibaba nach dem IPO rund einen Drittel der Aktien hielt. Anfangs 2018 hatte Weibo einen Marktwert von über USD 30 Milliarden. Seither Januar 2018 ist der Kurs um über 90% von rund USD 130 auf noch ca. USD 9 gefallen, die Marktkapitalisierung beträgt noch USD 2,1 Milliarden.

Inzwischen wurde Weibo sogar von Newcomern wie z.B. die Jobvermittlungsplattform Kanzhun überholt. Kanzhun, besser bekannt als Boss Zhipin, ging 2021 untersützt von Tencent in den USA an die Börse und erreichte kurz darauf einen Wert von ca. USD 42 pro ADR. Zu den Käufern gehörten UBS Asset Management und Tiger Global Investments. Seither Kanzhun bei einem Kurs von etwas über USD 14 «nur» etwa zwei Drittel seines Werts verloren und hat immer noch eine Marktkapitalisierung von USD 6,36 Milliarden.

Es hat also eine gewisse Logik, wenn Weibo aus dem Index fliegt und Platz für Newcomer wie Kanzhun macht. Allerdings erklärt das nicht, weshalb es nicht genügt, einem Titel einfach weniger Gewicht zu geben, wie es eben der Börsenkapitalisierung gemessen richtig ist.

Der MSCI China wird derzeit von Tencent angeführt, dessen Titel mit 13,78% gewichtet sind, gefolgt von Alibaba mit 8,64%, Pinduoduo mit 4,53%, China Construction Bank mit 3,41%, Meituan mit 2.42%, Netease mit 2,24, ICBC mit 1,9%, Bank of China mit 1.78%, Baidu mit 1,75% und Ping an Insurance mit 1.67%. Die zehn grössten Firmen haben zusammen ein Gewicht von 42%, während die restlichen 755 Firmen den Rest unter sich aufteilen. 66 Firmen zu streichen fällt also nicht so sehr ins Gewicht.

Es muss also andere Gründe geben. Einer kann sein, dass ein Unternehmen, das aus der Liste fällt, als «uninvestible» angesehen wird. Der MSCI China Index ist insbesondere für Exchange-Traded Funds, welche an den Index gebunden sind, sehr wichtig. Die Titel, in die solche Fonds investieren, müssen einerseits breit gestreut sein. Andererseits wollen die Fondsmanager nicht auf Verlierer setzen und wenn mehr Investoren auf weniger Titel setzen, müsste sich ungeachtet der Fundamentaldaten (welche im chinesischen Aktienmarkt überhaupt nicht erhältlich sind) eigentlich automatisch nach oben bewegen.

Investmentfonds, die auf China bzw. Hong Kong setzen sollen laut Bloomberg mindestens USD 5,9 Milliarden schwer sein. Die Titel aus der Volksrepublik China und Hong Kong sind natürlich auch in anderen Indizes enthalten, etwa dem MSCI World. Entsprechend fliessen auch Anlagen von Anlegern, die ein weltweit abgestütztes Portfolio bevorzugen, mindestens teilweise nach China.

Dies kann sich ändern, wenn Anleger beginnen, nur noch in Fonds mit dem Zusatzauftrag «ex China» investieren oder ganz aufhören, auf ein von MSCI vorgeschlagenes Portfolio zu setzen und stattdessen «à la carte» investieren. Weder MSCI noch die Banken, welchen dies ebenfalls ein Dorn im Auge ist, wollen dies. Eine Möglichkeit ist, hier Gegensteuer zu geben, indem man missliebige Titel, welche Anleger aus irgendeinem Grund als «uninvestible» betrachten, von vornherein aus dem Index entfernt.

Bei einigen Unternehmen, die aus dem Index verschwunden sind, handelt es sich tatsächlich um solche, welche von einigen Fonds als «uninvestible» betrachtet werden. Das bereits erwähnte Twitter-Pendant Weibo wurde wegen der Zensur und damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen kritisiert, BGI Genomics für die Zusammenarbeit mit der People’s Liberation Army. Ob es noch irgendjemanden gibt, der hofft, dass Immobilienunternehmen Gemdale und Greentown den Kollaps des chinesischen Immobilienmarkts überleben, ist höchst fraglich.

Einige sehr grosse Anbieter wie State Street sind dazu übergegangen, eigene schwarze Listen mit Firmen herauszugeben und die Indizes, auf welche sie sich abstützen, entsprechend anzupassen. Solche schwarze Listen sind allerdings heikel und auch korruptionsanfällig, insbesondere im Hinblick auf das beliebte «greenwashing». Die Listen kommen nicht überall gleich gut an. Der Staat Oklahoma hat beispielsweise eine Zusammenarbeit mit State Street und anderen Finanzdienstleistern untersagt, weil Ölfirmen ausgeschlossen wurden. Der Ethikrat der schwedischen Pensionskasse hat seiner entsprechende Liste lediglich 16 Firmen aufgeführt, darunter viele Cannabis-Produzenten aus Kanada. Wie wirkungsvoll solche Listen sind, ist fraglich.

Gerade State Street sind aber weniger vergleichsweise kleine Firmen ein Dorn im Auge. Gemieden werden eher sehr bekannte Namen wie Baidu und deren Tochter iQiYi, Tencent sowie Tencent Music Entertainment, China Petroleum & Chemical Corporation, CNPC, Petro China usw.

Zunehmend tritt auch der Gesetzgeber in Aktion und stellt einzelne Firmen an den Pranger. Ein Beispiel ist die Resolution des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 2022 als Reaktion auf die Niederschlagung der White Paper Revolution. Unter Ziffer 12 ist festgehalten:

[Das Europäische Parlament] Condemns the fact that Chinese technology companies TikTok and Tencent are working with the Chinese Government to gather evidence on the identity of protesters to enable their arrest and are censoring the internet; calls on European pension funds to divest from Chinese companies that undermine human rights; – European Parliament resolution of 15 December 2022 on the Chinese Government crackdown on the peaceful protest across the People’s Republic of China (2022/2992(RSP))

Auch wenn solche Resolutionen den Ruf haben, ein Papiertiger zu sein, sind das doch sehr starke Worte, die nach einer Eskalation rufen, wenn sie ungehört verhallen. Dies zeigt sich etwa bei den aktuellen Plänen der EU, Firmen zu sanktionieren, die verkappt Kriegsgüter nach Russland liefern, beispielsweise «Jagdwaffen» für den Kriegseinsatz in der Ukraine.

Die Warnlampen leuchten allerdings nicht nur bezüglich von kämpferischen Auseinandersetzungen und auch nicht nur bezüglich des gebeutelten Finanz- und Immobilienmarktes in China, sondern bei Firmen, die bislang als grundsolide galten.

Besonders heikel ist die Lage derzeit beim Indexschwergewicht Tencent und den mit Tencent verbundenen Firmen wie Tencent Music Entertainment, Sea Limited oder der bereits erwähnten Jobvermittlungsplattform Kanzhun. Das Problem sind hier weniger die Geschäftskonzepte dieser Firmen, sondern die nicht enden wollenden Säuberungsaktionen unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung, bei der Leute einfach monatelang oder auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Immer häufiger sieht man Schlagzeilen wie die folgenden:

«China’s internet giant Tencent Holdings fired more than 100 employees who allegedly were involved in some 60 corruption cases uncovered by internal anti-graft probes since the fourth quarter of 2019, the company reported Tuesday», Nikkei Asia, 3. Februar 2021

Zhang Feng [der Vizepräsident von Tencent] has been under investigation by China’s antigraft inspector since early last year for alleged unauthorized sharing of personal data collected by Tencent’s social-media app WeChat, the people [familiar with the matter] said. They said Mr. Zhang was suspected of turning over WeChat data to former Vice Public Security Minister Sun Lijun, who is being investigated by Beijing for undisclosed violations of Communist Party rules. – Wall Street Journal, 10. Februar 2023.

After disappearing nearly a year ago as part of an investigation by the Chinese authorities, the prominent investment banker Bao Fan has resigned as chairman and chief executive of China Renaissance Holdings, the company said on Friday. Mr. Bao, a deal-making banker for the Chinese internet giants Alibaba and Tencent, went missing last February. – The New York Times, 2. Februar 2024

State Street ist dazu übergegangen, Tencent und Tencent Music Entertainment auf die schwarze Liste zu setzen. Fairnesshalber wurde gleich auch noch der Konkurrent Baidu mitberücksichtigt, und damit zwei Index-Schwergewichte des MSCI China Index. Lediglich Alibaba blieb bisher verschont, hier wurde lediglich Weibo auf die Liste gesetzt.

Das sieht vielleicht nach Panikreaktion aus, doch es sei an die alte Börsenregel im Film «Margin Call» erinnert, wo John Tuld erklärt, dass es keine Panik ist, wenn man als erster bei der Tür ist.

Sam Rogers You are panicking.
John Tuld If you’re first out the door, that’s not called panicking.

Heisst das, dass China «uninvestible» geworden ist, wie die amerikanische Handelsministerin Gina Raymondo dies ausgedrückt hat? Für die meisten Anleger dürfte die Antwort wohl «ja» sein. Für die Verantwortlichen für das China-Portfolio bei institutionellen Anlegern im Westen dürfte es immer schwieriger werden, intern zu erklären, wieso sie an den Investitionen in China festhalten wollen. Erst recht dürften Anlageberater es schwer haben, ihren Kunden zu erklären, weshalb man in ihrem Portfolio keine Titel von Tabakproduzenten und Waffenlieferanten duldet, bezüglich Umweltschutz und Menschenrechtsverletzungen bei China ein Auge zudrückt. Insbesondere bei individuellen Anlegern, die bei gewissen Titeln in China innerhalb von drei, vier Jahren mehr als die Hälfte ihres Investments verloren haben, dürfte schlicht der Geduldsfaden gerissen sein.

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es gefährlich sein kann, der Masse zu folgen. Als ich mich im September 2020 bei meinem Bankberater nach Alternativen zu einem Fonds erkundigte, der neu ESG-konform ausgerichtet werden sollte, erklärte er mir kopfschüttelnd, seine Bank könne mir kein solches «Kriegsportfolio» bieten, wie ich es wünsche. Wer im Herbst 2020 auf ein Kriegsportfolio gesetzt hat, ist selbstredend in den letzten Jahren sehr viel besser gefahren als jemand, der Ende 2020 in Windmühlen, Elektrofahrzeuge und Wokeness investiert hat.

Dabei ist zu bedenken, dass das Pendel auch in die andere Richtung schwingen kann und dass sich früher oder später ein «Friedensportfolio» auszahlen kann. Interessant ist, dass Peter Zeihan, der sich als Untergangsprophet punkto China hervorgetan hat, kürzlich darauf hingewiesen hat:

Some like the Chinese are destined to break up, not probably because of military confrontation, but because of their own internal issues. Which means this is going to be a zone of chaos (?), opportunity (?) carpet bagging* (?) for those of you who bothered to learn Mandarin.

* Der Terminus «carpet bagging» bezieht sich auf diejenigen, die nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs ihr Hab- und Gut in einer Stofftasche (carpet bag) verstauten und in den kriegsversehrten Süden zogen, um zu einem Spottpreis Plantagen und alles zu kaufen, was nicht niet- und nagelfest war.

Ob und wann der Zeitpunkt gekommen ist, bis er China (wieder) als «investible» betrachten kann, muss jeder für sich entscheiden. In der Zwischenzeit kann man ja seine Chinesischkenntnisse aufrischen.