Opfer des Erdrutsches in Schwanden: Zahlt die Versicherung?

In den letzten Tagen machte die Gemeinde Glarus Süd Negativschlagzeilen, als verkündet wurde, als die Gemeinde am Freitagabend, 1. September 2023, also wenige Tage nach der Evakuation, verkündete, sie würde die Kosten für die Notunterbringung der wegen des Erdrutsches in der Wagenrunse in Schwanden Evakuierten ab Mittwoch, 6. September 2023 nicht mehr aufkommen. Hilft jetzt die Versicherung? Und wenn ja: welche?

von Maja Blumer, 9. September 2023

Schleicht sich die Gemeinde aus der Verantwortung?

Wie so oft ist die Ankündigung der Gemeinde anlässlich der Information am Freitagabend, 1. September 2023, die Betroffenen des Erdrutsches hätten für die Kosten für ihre Unterbringung ab Mittwoch, 7. September 2023, selber aufzukommen, in der medialen Verkürzung weder ganz richtig noch ganz falsch. Richtig ist, dass die Gemeinde offenbar mit der Bereitstellung von Notunterkünften und anderen Nothilfen überfordert ist, so dass Private, die Kirchgemeinden, der Kanton (soziale Dienste) und/oder der Bund (Militär, Zivilschutz) einspringen müssen. Falsch ist die Aussage insoweit, als der Eindruck erweckt wurde, die Betroffenen würden auf der Strasse landen. Notfalls werden sie die Hilfe der «Sozialberatung» des Kantons in Anspruch nehmen müssen und günstige Secondhand-Kleider kaufen müssen, wenn sie keine Hilfe von Verwandten und Freunden in Anspruch nehmen können oder selber für die Mehrkosten aufkommen können, welche der Verlust von Hab und Gut sowie in einigen Fällen der Existenzgrundlage mit sich bringt.

Etwas problematischer ist die Begründung des Gemeindepräsidenten, dass «jede Person irgendwie versichert ist». Im Interview mit der Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF führte er am 3. September 2023 aus:

Irgendwann muss man die Selbstverantwortung wieder übergeben, den Personen. Es ist ja so, dass jede Person irgendwie versichert ist, ich sage mal. Gebäudeversicherung, da konnten wir informieren am Abend der Evakuierten, dann Hausratsversicherung, persönliche Versicherungen, das ist jetzt schon so, dass das zu checken ist. – Gemeindepräsident Hansruedi Forrer, SRF Tagesschau 3.9.2023

Die Versicherung zahlt ja!?

Es mag tatsächlich sein, dass einige Versicherungen bei einer behördlich angeordneten Evakuierung etwas kulanter sind als sonst und unbürokratisch Soforthilfe leisten. Die Erfahrung lehrt aber, dass es im Normalfall eher Monate wenn nicht Jahre dauert, bis von einer Versicherung Leistungen erbracht werden. Das hat seinen guten Grund, muss die Zahlungspflicht durch die Versicherung in jedem Einzelfall nicht nur dem Grundsatz sondern auch der Höhe nach geklärt werden. Es darf nicht sein, dass am Ende mehrere Versicherungen für den gleichen Schaden in voller Höhe Ersatz leisten, und ebensowenig darf sein, dass die Versicherung zahlt, wo gar kein Schaden entstanden ist.

Die Situtation ist umso komplizierter, als bei rund 100 unmittelbar Betroffenen mutmasslich hunderte von Versicherungsverträgen geprüft werden müssen. Pauschale Antworten auf die Frage, ob und für was die Versicherung zahlt, sind von Vornherein falsch und unseriös. Sie konnten offensichtlich weder am «Abend der Evakuierten» (d.h. die Informationsveranstaltungen der Gemeinde vom Freitag, 1. September 2023) gegeben werden, noch können diese an dieser Stelle gemacht werden. Es gilt wie immer bei den Anwälten: «Es kommt darauf an.»

Trotzdem versuche ich hier, einen ersten Überblick über die involvierten Versicherungen zu geben und einige Hinweise auf die möglichen Fussangeln zu geben, die in den Versicherungsverträgen und Gesetzen enthalten sind.

Vorab die Liste der Versicherungen, die auf den ersten Blick in Frage kommen und einige der bekannten Fussangeln:

  • Gebäudeversicherung Feuer/Elementar: Im Kanton Glarus obligatorische Versicherung bei der Glarner Sach für das Gebäudes gegen Elementarschäden wie Sturm, Hagel und Überschwemmungen. Ausgeschlossen sind in der Regel Erdbeben. Versicherungsnehmer ist der Eigentümer des Gebäudes. Bei Gebäuden in der Evakuierungszone, die zwar äusserlich noch weitgehend intakt sind, aber nicht betreten werden dürfen, weil sie höchstwahrscheinlich bei einem nächsten Erdrutsch komplett zerstört werden, entsteht die absurde Situation, dass eine Versicherungsleistung momentan wohl verneint werden müsste, weil der Schaden am Gebäude noch nicht festgestellt werden kann. Auch bei komplett zerstörten Gebäuden können Probleme entstehen: Weil nur etwa alle zehn Jahre eine Neueinschätzung des Versicherungswerts stattfindet, wenn der Grundeigentümer nicht von sich aus eine solche verlangt, etwa bei wertvermehrende Renovationen, kann die Versicherungsdeckung je nachdem nicht ausreichen. Schon allein wegen der Bauteuerung in den letzten zehn Jahren kann die die Versicherungssumme bei Neubewertung ohne weiteres um10% oder mehr ausfallen, d.h. der realistische Versicherungswert des gleichen Hauses kann von CHF 900’000 auf eine Million gestiegen sein. Notorisch schwer zu bewerten sind historisch wertvolle Häuser, weil sie oft nur einen geringen Marktwert haben und deren Instandsetzung (wenn überhaupt noch möglich) weit kostspieliger ist als bei modernen Bauten. Hinzu kommt das praktische Problem, mit der Leistung der Versicherung irgendwo gleichwertigen Ersatz zu finden.
  • Wasserversicherung: Viele Hauseigentümer haben neben der obligatorischen Gebäudeversicherung auch eine solche gegen Wasserschäden. Diese Versicherung basiert oft auch auf dem Versicherungswert des Gebäudes hinsichtlich Feuer/Elementarschäden, muss aber nicht unbedingt bei der Glarner Sach abgeschlossen worden sein, so dass sich keine Angaben zum Deckungsumfang gemacht werden können. Die Versicherung ist, verglichen mit der Gebäudeversicherung oder Haftpflichtversicherung relativ teuer. Beispielsweise betrug die Versicherung obligatorische Versicherung gegen Feuer/Elementar inklusive Brandschutzabgabe rund CHF 600, während die Wasserversicherung (inklusive «Naturgewalten») gemäss einer Offerte beim gleichen Gebäude CHF 380 gekostet hätte, wobei noch ein Selbstbehalt von 10% zur Anwendung gekommen wäre und sind teilweise Schäden wie z.B. Schäden durch Wasser, welches durch die Gebäudehülle dringt (z.B. Leck im Dach) ausgeschlossen wurden. Es lohnt sich hier, erst einmal «das Kleingedruckte» in der Versicherungspolice zu lesen, bevor man sich hier Hoffnungen auf Versicherungsleistungen macht. Vorausgesetzt, man die Police überhaupt zur Hand.
  • Hausratsversicherung: Im Kanton Glarus freiwillige Versicherung für Schäden an Möbeln, Elektronik und anderen beweglichen Sachen, die sich normalerweise im Haus befinden, infolge Feuer (Brand, Blitzschlag, Explosion, Implosion), (Leitungs-)Wasser, Einbruchsdiebstahl und Sturm/Hagel. Ob und inwieweit Elementarschäden mitumfasst sind, ist im Einzelfall zu prüfen, hier kann man aber wohl mit Kulanz der Versicherer rechnen. Problematischer. Wer überhaupt eine Versicherung abschliesst, unterschätzt den Wert seiner Haushaltung gerne – massgebend ist der Wiederbeschaffungswert, nicht der aktuelle Wert. Oft geht auch der «Unterversicherungsverzicht» vergessen, d.h. wenn der Wert der Versicherungssumme zu niedrig angesetzt wurde, läuft der Versicherungsnehmer Gefahr, dass er nur einen Teil des Schadens ersetzt bekommt, weil der Versicherer ohne diesen «Unterversicherungsverzicht» das Recht, bei einer zu niedrigen Versicherungssumme anteilmässig seine Leistungen zu kürzen. Am meisten betroffen sind vom Erdrutsch in Schwanden diejenigen, welche momentan ihre Wohnung nicht betreten dürfen, um die wertvollsten Stücke in Sicherheit zu bringen. Selbst wenn sie eine Haushaltversicherung abgeschlossen haben, steht momentan nicht fest, ob sie einen Schaden erlitten haben.
  • Haushaltsversicherung: Die Haushaltsversicherung ist nicht ganz das gleiche wie die Hausratsversicherung, sie umfasst neben der noch weitere individuell vereinbarte Deckungen wie z.B. private Haftpflichtversicherung, Versicherung von Wertsachen, Haustierversicherung, Hausrats-Kaskoversicherung, Erdbebenversicherung und vieles mehr.
  • Fahrzeuge: Bei Fahrzeugen kann unter Umständen die (Teil-)Kaskoversicherung zum Tragen kommen, wenn das abgestellte Fahrzeug beschädigt oder zerstört wurden. Hingegen sind Versicherungsleistungen fraglich, wenn das Fahrzeug zwar noch intakt ist oder dessen Zustand ungewiss ist, aber auf längere Sicht nicht aus der Gefahrenzone weggebracht werden kann. Dies betrifft namentlich die Bewohner des Gebiets, welche zwar nicht evakuiert wurden, die ihr Haus bis zur Errichtung einer Notbrücke nur über kleine Brücken erreichen können. Geklärt werden muss je nachdem auch, ob Versicherungsprämien, Leasingkosten etc. weiter bezahlt werden müssen bzw. wer für die Kosten eines Ersatzfahrzeugs aufkommt, solange ein noch intaktes Fahrzeug nicht benützt werden kann.
  • Versicherung von Gewerbetreibenden und Hauseigentümern: Angestellte, die wegen des Erdrutsches ihren Arbeitsplatz verloren haben, können damit rechnen, dass sie Unterstützung von der Arbeitslosenkasse erhalten. Anders ist es für die Selbständigerwerbenden, und insbesondere für die Gewerbetreibenden, welchen auf einen Schlag die Mittel fehlen, um vorhandene Aufträge zeitgerecht auszuführen, so dass ihnen die Existenzgrundlage wegzubrechen droht, wobei die Arbeitslosenversicherung in einem solchen Fall in der Regel keine oder höchstens sehr geringe Leistungen erbringt. Denkbar ist, dass die Arbeitslosenkasse hier eine Ausnahme macht. Einige Selbständigerwerbende verfügen auch über eine Betriebsversicherung, welche Betriebsausfälle infolge Elementarereignissen deckt. Mieter, die eine andere Mietwohnung finden, müssen aller Wahrscheinlichkeit nach für die Wohnung in der Gefahrenzohne mutmasslich auch dann keine Miete zahlen, wenn die Sperrzone wider Erwarten aufgehoben würde. Demgegenüber fallen möglicherweise viele Kosten bei den Hauseigentümern weiter an (z.B. Hypothekarzinse, Steuern), während die Mietzinseinnahmen (bzw. Nutzen bei selbstbewohntem Wohneigentum) wegfallen. Manche Vermieter verfügen über eine Versicherung, welche auch die Mietzinsausfälle infolge Elemantarschäden deckt. Obligatorisch ist dies aber nicht. Ob hier eine Versicherungsdeckung vorliegt, ist einmal mehr im Einzelfall zu prüfen.
  • Krankenkasse/Krankentaggeld- bzw. Unfallversicherung: Soweit ich mit Betroffenen direkt sprechen konnte, machten sie einen «gefassten» Eindruck. Dies kann jedoch täuschen, zumal die Sache noch nicht ausgestanden ist – der Hang ist sozusagen stabil instabil und dürfte weiterhin dem einen oder anderen eine schlaflose Nacht bereiten. Es ist keine Schande, in einer solchen Situation ärztliche oder psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen und auch die Arbeitgeber dürften Verständnis haben, wenn die berufliche Leistungsfähigkeit vorübergehend eingeschränkt ist. Nicht so ganz klar ist, ob bei gesundheitlichen Problemen die Kranken- oder die Unfallversicherung zuständig ist. Hinzu kommt, dass bei Selbständigerwerbenden zwar die Kosten für Therapiekosten gedeckt sind, oft aber keine Versicherung für den Lohnausfall infolge Krankheit besteht. Krankentaggeldversicherungen werden normalerweise mit Wartefristen von ein bis drei Monaten abgeschlossen, wobei eine Versicherungsdeckung von den Versicherungen für Selbständigerwerbende vielfach abgelehnt wird, ohne dass man genau erfährt, wieso.
  • Rechtsschutzversicherung: Angesichts der Vielzahl von Versicherungsträgern, welche eine Rolle spielen kann «last but not least» für diejenigen, welche über eine Rechtsschutzversicherung verfügen, auch diese eine Rolle spielen, jedenfalls dann, wenn eine Versicherung auf eine Schadensmeldung nicht innert nützlicher Frist reagiert bzw. erst einmal eine Deckung verneint bzw. immer neue Ansprechpartner vorschiebt. Selbst für Anwälte ist es oft schwierig, den Überblick im Dschungel der Allgemeinen Versicherungsbedingungen zu waren, erst recht für den Versicherten, der noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hat. Ob die Rechtsschutzversicherung die Kosten für die Klärung der Versicherungsdeckung übernimmt und ob sich ein Anwalt findet, der über die nötigen zeitlichen und fachlichen Kapazitäten verfügt und bereit ist, den Tarif der Rechtsschutzversicherung zu akzeptieren, muss allerdings wiederum individuell geklärt werden
  • Haftpflichtversicherung: Für die Verantwortlichen der Gemeinde, insbesondere den Gemeinderat, stellt sich die bange Frage, ob sie letztendlich zur Verantwortung gezogen werden können. Klar ist, dass die beteiligten Fachleute – Geologen, Bauingenieure, Hydrologen – nicht «in den Berg schauen» können und selbst heute noch schwer vorstellbar ist, wie ein derart kleines Bächlein in einer derart kleinen Runse einen derart schweren Erdrutsch auslösen kann. Tatsache ist aber auch, dass der Hang schon lange am Rutschen war, dass die Evakuationszone erst sehr spät ausgeweitet wurde und so vielen Betroffenen sehr wenig Zeit blieb, ihnen wichtige Tiere und Sachen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Wie immer in solchen Fällen melden sich Experten, welche schon früh gewarnt hatten und auf die man angeblich nicht hören wollte. Erweisen sich deren Vorwürfe als berechtigt, rollt stellt sich nicht nur die Frage nach der moralischen Mitverantwortung der Gemeindeexekutive, sondern fällt auch eine Haftpflicht in Betracht.
  • Versicherung für öffentliche Einrichtungen und Strassen: Auch öffentliche Gebäude, Strassen und andere Einrichtungen können versichert sein. Wenn nicht, muss je nachdem die Gemeinde (bzw. der Kanton bzw. der Bund) den Schaden tragen. Bei der Wagenrunse stellt sich insbesondere die Frage, welche Folgen die versuchte Sanierung der Strasse Richtung Kies hatte – für die Gemeinde einerseits, für die Gemeindebewohner unterhalb der Strasse andererseits.

Recht auf Opferhilfe?

Nach dem bisherigen Kenntnisstand kann gesagt werden: Diverse Versicherungen werden wohl früher oder später helfen, das kann aber noch eine Weile dauern. Finanzielle Soforthilfe kann man von den Versicherungen nicht unbedingt erwarten. Ein Manko besteht auch bei der Beratung, hier dürfte auch die «Sozialberatung» angesichts der vielen in Frage kommenden Leistungsträger schnell einmal überfordert sein. Zudem stellt sich die Frage, ob die Behörden und Versicherungen genügend neutral sind, um überhaupt Ratschläge zu erteilen. Wenn die Gemeinde auf die Versicherung und auf die «Selbstverantwortung» verweist unwillkürlich die Frage auf: Kann sich die die Gemeinde so leicht aus der Affäre ziehen?

Ein Dorfbewohner hat diese Frage mit einem klaren «Nein» beantwortet und die Beründung in dem, was man unter Juristen als «Parallelwertung in der Laiensphäre» bezeichnen können, auf den Punkt gebracht:

«Das kann es ja nicht sein. Wir sind eine reiche Schweiz. Für anderes haben sie Geld. Aber für das nicht?» – Dorfbewohner, SRF Tagesschau 3.9.2023

Tatsächlich denkt man unwillkürlich an die vor dem Krieg in der Ukraine geflohenen, denen man auch in der Gemeinde Glarus Süd unbürokratisch und seit Monaten Unterkunft und Sozialleistungen gewährt. Oder an die Alters- und Pflegeheime der Gemeinde, bei denen man seit Jahren in Kauf nimmt, dass Jahr für Jahr für ein Defizit von einer halben Million Franken oder mehr «erwirtschaftet» wird, während die Belegungszahlen sinken. Mit Recht hat die «Hilfe» der Gemeinde gegenüber desen Personengruppen allerdings recht wenig zu tun.

Das Versicherungsrecht in der Schweiz ist ein Flickenteppich, der nicht in jedem Fall ein Recht auf Hilfe gewährleistet. Aber ein Recht auf Hilfe gibt es in der Schweiz tatsächlich: Das Opferhilfegesetz. Haben die Betroffenen des Erdrutsches Anspruch auf Opferhilfe? Die Rechtslage ist leider auch hier keineswegs klar.

Das schweizerische Opferhilfegesetz sieht vor, dass jede Person Hilfe erhält, die durch eine Straftat gegen Leib und Leben, gegen die sexuelle Integrität sowie gegen die Freiheit in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist.

Bei der Straftat kann es sich auch um eine fahrlässig begangene Straftat handeln, namentlich fallen auch Katastrophen aufgrund menschlichen Versagens wie etwa Flugzeugabstürzen oder Eisenbahnunglücken. Keine Anwendung findet das Opferhilfegesetz bei Naturkatastrophen. Damit wären wir zurück bei der Haftungsfrage: Handelt es sich um eine reine Naturkatastrophe oder ist auch menschliches Versagen im Spiel? Und sind die Betroffenen, die zum Glück unversehrt geblieben sind, in ihrer psychischen Integrität beeinträchtigt, oder steht diese faktisch auf einer tieferen Stufe als die Verletzung der physischen oder sexuellen Integrität (vgl. zu dieser Frage Jelena Riniker, Opferrechte des Tatzeugen, Die Problematik des Opferbegriffs nach OHG und die strafrechtliche Qualifikation der Verletzung der psychischen Integrität, Diss. Bern 2011).

Sicher ist im Moment nur, dass Beratungs- und finanzielle Soforthilfe aufgrund einer Straftat durchaus in Betracht fällt. D.h. es ist nicht auszuschliessen, dass auch die Betroffenen Anspruch auf unentgeltliche Beratung durch die Opferberatungsstellen und bei Bedarf auf Vermittlung von psychologischer, juristischer, sozialer, materieller und medizinischer Hilfe hätten, so wie es z.B. ein Opfer häuslicher Gewalt auch hätte. Ebenso ist denkbar, dass Soforthilfe wie Notunterkunft und Übernahme der Kosten für anwaltliche Erstberatung übernommen werden sollten.

Bei einem Erdrutsch kann leider auch unser gute alte Fridolin 3 – hier bei einer Feuerwehrübung der Feuerwehr Kärpf im Sernftal – wenig ausrichten. (Bild: privat)

Vorgehen im Versicherungsfall

Neben diesen doch eher akademischen Fragen stellt sich die Frage, wie die Betroffenen, welche auf eigene Faust versuchen wollen oder müssen, Versicherungsleistungen geltend machen, am besten vorgehen. Auch hier sind nur allgemeine Hinweise möglich:

Sicherheit gewährleisten: Verständlicherweise wird der Eine oder Andere überlegen, in einer Nacht- und Nebelaktion noch zu retten, was zu retten ist, schnell noch ein Photoalbum oder ein paar Goldstücke aus dem Tresor zu holen. Allerdings besteht die Gefahr, dass er nicht nur sich selber, sondern auch Dritte gefährdet. Jeder sollte bedenken, was man in der Feuerwehr als «ständigen Auftrag bezeichnet»: Sichern-Retten-Halten-Schützen-Bewältigen (in dieser Reihenfolge). Die eigene Sicherheit geht vor, wer dafür sorgen kann, dass er nicht selber zu Schaden kommt, kann auch andere Menschen oder Tiere retten, d.h. aus der Gefahrenzone bringen und danach versuchen, eine Eskalation zu verhindern bzw. die Lage zu stabilisieren. Erst danach kommt der Schutz vor Sachwerten und schliesslich das Bewältigen (die Beseitigung der Gefahr und der Folgen) an die Reihe.

Gegenüber der Versicherung ist es natürlich auch wichtig, die Schäden zu dokumentieren. Auch hier lohnt es sich nicht, sich selber in Gefahr zu bringen, um noch schnell ein paar Fotos vom Schaden zu schiessen. Wo der Schadensbeweis nicht möglich ist, wird das auch die Versicherung akzeptieren müssen.

Die Versicherungen verlangen auch regelmässig umgehende Schadenmeldung. Auch hier muss bei den Versicherungen Kulanz verlangt werden. Von einem Betroffenen kann nicht verlangt werden, dass er sich in Gefahr begibt, um in seinem Haus in der Evakuationszone Dokumente wie Versicherungspolice etc. zu finden.

Dass Reparaturen von beschädigten Gegenständen, welche herausgeholt werden konnten (z.B. Fahrzeuge) erst nach vorgängiger Absprache mit der Versicherung gemacht werden sollten, versteht sich von selbst. Gleichzeitig besteht aber eine Schadenminderungspflicht: Wer es in der Hand hat, den Schaden zu mindern, sollte es auch tun. Hier lohnt es sich eventuell, hartnäckig zu bleiben und nachzufragen, wieso etwas (noch) nicht möglich ist.

Nicht immer sind die Hügel im Glarnerland so ruhig wie bei dieser Feuerwehrübung der Feuerwehr Kärpf im Sernftal der Feuerwehr Kärpf (Bild: privat)

Nach dem Rutsch ist vor dem Rutsch

Dieser Blog hat sich vorwiegend der versicherungstechnischen Bewältigung des Erdrutsches in der Wagenrunse in Schwanden gewidmet. Vielleicht ist aber eine juristische Frage noch wichtiger: Genügt das Sicherheitsdispositiv der Gemeinde, oder müssen diesbezüglich Anpassungen gemacht werden?

Auch die Gemeinde – deren Bevölkerung, deren Gemeindeverwaltung und deren Exekutive – muss früher oder später wieder die Selbstverantwortung übernehmen. Dabei stellen sich folgende Fragen:

Ist der Gemeinderat genügend dotiert?

Die Gemeindeexekutive besteht seit 2018 aus einem Gemeindepräsidenten im Vollamt und sechs Gemeinderäten im Nebenamt. Sechs der sieben Mitglieder der Exekutive sind erst seit 1. Juli 2022 im Amt, wobei der Vorsteher des Departements Gesellschaft und Sicherheit bereits nach einem Jahr seine Demission erklärt hat. Am 22. Oktober 2023 soll eine Ersatzperson per 1. Dezember 2023 gewählt werden. Es stellt sich die Frage, ob dies für eine der flächenmässig grössten Gemeinden mit immerhin rund 10’000 Einwohnern ob der Gemeinderat qualitativ wie quantitativ ausreichend dotiert ist, mit Personen, die über die nötige Erfahrung, Wissen und Führungskompetenz verfügen, damit sie einzeln und als Gremium schwierige Entscheide wie «Evakuieren» (oder nicht), «Hilfe leisten!» (oder die Verantwortung auf andere übertragen) fällen und glaubwürdig vertreten können.

Nun ist es ein Leichtes, dem Gemeindepräsidenten vorzuwerfen, er werfe schweizweit ein schlechtes Licht auf die Gemeinde Glarus Süd, wenn er die Betroffenen des Erdrutsches auf die Versicherungen, die Eigenverantwortung oder an das Sozialamt verweist. Es ist auch ein Leichtes den Gemeinderäten einen Vorwurf zu machen, welche soweit ersichtlich durch Abwesenheit glänzen. Aber stehen nicht letztendlich die Stimmbürger in der Verantwortung, welche besagten Gemeindepräsidenten und besagte Gemeinderäte nicht nur (mit-)gewählt haben, sondern selber auch auf selbst auf eine Kandidatur verzichtet haben, obwohl sie vielleicht besser qualifiziert gewesen wären als die Gewählten? Nota bene: die Schreibende ist ist mitgemeint.

Gemeindeführungsorganisation

Kein Vorwurf gemacht kann dem Stimmvolk hingegen bezüglich des Reglements für die Notfallorganisation, kurz: Gemeindeführungsorganisation (GFO), welche in «besonderen» oder «ausserordentlichen» Lagen zum Zug kommt und welche vom Gemeinderat Glarus Süd per 1. Juli 2028 in Kraft gesetzt wurde und per 1. Mai 2023 hinsichtlich des Organisationsreglements geändert wurde, insofern statt Funktionsbezeichnungen Namen eingesetzt wurden.

Die Gemeindeführungsorganisation (GFO) und insbesondere deren Leitung hat in eine Notfall weitreichende Kompetenzen. Die Leitung der GFO besteht dabei aus dem Gemeindepräsidenten, dem Gemeinderat, welcher dem Departement Gesellschaft und Sicherheit vorsteht (aktuell Stephan Muggli, welcher per 1. Dezember die Demission erklärt hat) und drittens der Staatschef (Hanspeter Speich).

Dazu nur zwei Feststellungen:

Erstens ist eine grosse Machtballung beim Gemeindepräsidenten festzustellen und zwar nicht nur bei der Leitung der GFO, sondern auch bei der Kommunikation. Zwar wäre bei der Information der Bevölkerung und der Medien der Beizug eines Juristen oder Kommunikationsspezialisten vorgesehen, mit der Ankündigung der Betroffenen, die Noterkunterkunft würde nur bis zum Dienstag bezahlt und danach müssten sie selber schauen bzw. zum Sozialamt gehen ist «der Mist geführt». Der Schaden, den der Ruf der Gemeinde Glarus Süd durch diese Ankündigung genommen hat, dürfte nicht mehr zu korrigieren sein. Der Verweis auf den Versicherungsschutz und die Selbstverantwortung der Betroffenen in der Tagesschau vom 3. September 2023 hat die Sache nur noch schlimer gemacht.

Zweitens fällt auf, dass die Fachkompetenz und Führungserfahrung beim Gemeindepräsidenten als Leiter der GFO und dem Departementsvorsteher Gesellschaft und Sicherheit nicht gerade auf der Hand liegt, obwohl sie das bloss dreiköpfige Leitungsgremium dominieren. Ich persönlich habe sehr grosses Vertrauen in meine Kameraden von der Feuerwehr (die wenigen Feuerwehrfrauen sind mitgemeint) und ihre Fähigkeit, sich selber, mich und andere zu schützen. Bezüglich des Departementsvorstehers (dem man zugutehalten muss dass er im Frühling 2023 einmal bei einer Übung zugeschaut hat) und dem Gemeindepräsidenten habe ich da so meine Zweifel. Das ist nicht so ganz nebensächlich, weil ich und andere Angehörige der Feuerwehr je nachdem ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie aufgeboten werden, andere zu schützen. Ich muss darauf vertrauen können, dass Hinweisen auf mögliche Gefahren nachgegangen wurden, bevor ich in die Gefahrenzone geschickt werde.

Kann diesen Mängeln im Reglement abgeholfen werden? Ein Korrektiv wäre die Einberufung einer ausserordentlichen Gemeindeversammlung (Art. 8 GFO), in welcher über die nötigen finanziellen und sachlichen Mitteln Beschluss gefasst werden könnte. Daneben besteht die Hoffnung, dass per 1. Dezember 2023 eine geeignete Person in den Gemeinderat gewählt wird, um die von der Demission des bisherigen Amtsinhabers ausgelöste Vakanz zu füllen.

Die bange Frage ist: bleibt genug Zeit, bevor der Rest der Wagenrunse in die Senf donnert?


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua), ist ausserhalb des Kantons Glarus als Rechtsanwältin tätig und leistet in der Feuerwehr Kärpf Dienst.