Elefantenrunde II: Die Resolution 2758 der UN-Generalversammlung unter der Lupe

Während es mit der Umsetzung der Friedenspläne vom Bürgenstock und der in Aussicht genommenen Folgekonferenz harzt, hat der Friedensgipfel doch immerhin das Augenmerk auf die UN-Charta gelenkt und damit auf ein Problem, welches seit rund 75 Jahren einer Lösung harrt: die Klärung des Status von Taiwan. Die Scheinlösung mit der Resolution 2758 aus dem Jahr 1971, mit der «die Vertreter Chiang Kai-sheks» von der UN-Generalversammlung aus der UNO gewiesen wurden, wird von immer mehr Ländern als nicht sachgerecht angesehen.

von Maja Blumer, 26. August 2024

Bezüglich der Hauptziele des Friedensgipfels auf dem Bürgenstock vom 15./16. Juni 2024 sind auf den ersten Blick noch keine greifbaren Ergebnisse sichtbar. Eine Folgekonferenz ist noch nicht in Sicht, der UN-Sicherheitsrat ist weiterhin blockiert. Dass in der UN-Generalversammlung am 11. Juli 2024 99 Länder die unter anderem von der Schweiz eingebrachte Resolution  A/78/L.90 unterstützen, welche sich gegen die Instrumentalisierung des Atomkraftwerks Zaporizhzhia richtet1, ist zunächst einmal erfreulich. 99 von insgesamt 193 UNO-Mitgliedstaaten sind immerhin eine Mehrheit. Nur sind diese 99 Länder grosso modo dieselben, die das Gleiche schon im Schlusscommuniqué vom Bürgenstock gefordert haben. Um die 60 Länder (einschliesslich China), die sich der Stimme enthalten haben, zu überzeugen, bräuchte es noch viel Überzeugungsarbeit, erst recht bei den 9 Ländern (einschliesslich Russland), die gegen die Resolution gestimmt haben.

In einem Teilaspekt des Ziels, die UN-Charta zu revitalisieren, wurden jedoch bemerkenswert rasche Fortschritte erzielt. Wie hier berichtet, trafen sich mutmasslich eine Woche nach dem Friedensgipfel auf dem Bürgenstock in Taiwan die Vertreter von rund zwei Dutzend Ländern zu einer «Elefantenrunde». Dabei scheint unter anderem die Resolution 2758 der UN-Generalversammlung ein Thema gewesen sein.

Die Resolution 2758 wirft die Frage auf, welche Rolle die Republik China als Gründungsmitglied der UNO und als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates entsprechend der UN-Charta spielen wird. Hält die Weltgemeinschaft an der Auffassung fest, dass ein Land einfach so aus der UNO ausgeschlossen werden kann, nur weil eine Mehrheit von Staaten bevorzugen würde, dass dieses Land eine andere Regierung bzw. ein anderes Regierungsoberhaupt hat – im konkreten Fall: Mao Zedong statt Chiang Kai-shek – würde die Grundordnung der UNO in einem derart essentiellen Punkt in Frage gestellt, dass man über ein Revival der UN-Charta gar nicht erst zu diskutieren braucht.

Vielen Ländern ist klar, dass der Status Formosas, der eigentlich schon nach dem 2. Weltkrieg hätte geklärt werden müssen, nun endlich diskutiert werden muss. Die Insel war vor der Übergabe an die Republik China 1945 50 Jahre von Japan, bestenfalls 200 Jahre lang durch die Qing Dynastie und zuvor rund 30’000 Jahre lang durch verschiedene Stämme von Ureinwohnern beherrscht worden. Seit 80 Jahren ist Formosa gleichbedeutend mit der Republik China. Seit 75 Jahren erhebt die Volksrepublik China Anspruch darauf und erklärt, diesen mit Waffengewalt durchsetzen zu wollen. Dass die Resolution 2758, mit der die «Vertreter Chiang Kai-sheks» aus der UNO verbannt wurden, nicht einmal ansatzweise eine Lösung des Konflikts zwischen der vom Volk regierten Insel und der autokratischen Volksrepublik China bietet, liegt für die meisten auf der Hand – ausser vielleicht die Schweiz, welche der Republik China schon 1949 die Existenzberechtigung abgesprochen hat, und vielleicht mit der Ausnahme der Volksrepublik China.

Erstaunlich ist nur, dass bisher fast niemand auf die Idee gekommen ist, die Interpretation der Resolution 2758, wie sie die Volksrepublik China gerne durchsetzen möchte, ernsthaft in Frage zu stellen. Wie dringlich die Klärung des Status von Formosa und die Klärung des Sinngehalts der Resolution 2758 nun plötzlich erscheint, zeigt die Häufung von «Elefantenrunden» in den letzten Wochen an:

IPAC-Gipfeltreffen in Taiwan

Ende Juli 2024 fanden sich in Taiwan insgesamt 49 Parlamentarier aus 23 Ländern der Inter-Parliamentary Alliance on China (IPAC) zum vierten Gipfeltreffen ein. Der IPAC gehören inzwischen Parlamentarier aus 40 Ländern an, darunter auch 9 Schweizer aus unterschiedlichen Parteien.

Thema war einmal mehr, den Versuche der Volksrepublik China entgegenzuwirken, mehr in die Resolution 2758 hineinzulesen, als der Text und die Entstehungsgeschichte erlaubt2. Mit der am IPAC-Gipfeltreffen beschlossenen «2758 Initiative» wird darauf abgezielt, dass sich die Parlamentarier auf nationaler Ebene einsetzen, dass Resolution 2758 nicht ein Instrument entsteht, mit der das Völkerrecht im Hinblick auf den rechtlichen Status von Taiwan verdreht wird – mit dem Resultat, dass die Volksrepublik China sich legitimiert fühlen könnte, zu einer Annektion Taiwans mit militärischer Gewalt zu schreiten.

Motion des australischen Senats vom 21. August 2024

Als erstes Land schloss sich Australien der 2758 Initiative an. Am 21. August 2024 verabschiedete der australische Senat eine entsprechende Motion, die von zwei Teilnehmern am IPAC-Gipfeltreffen im Eilverfahren eingebracht worden ist. Die Motion hält fest3:

That United Nations Resolution 2758 of 25th October 1971 does not establish the People’s Republic of China’s [PRC] sovereignty over Taiwan and does not determine the future status of Taiwan in the United Nations, nor Taiwanese participation in U.N. agencies or international organisations.

Im Ergebnis dürfte es wohl darauf hinauslaufen, dass Australien einen Weg suchen wird, Taiwan – immerhin die sechstwichtigste Exportdestination für australische Produkte und Rohstoffe – als souveränen Staat zu anerkennen. Dafür hat sich insbesondere die Senatorin Pauline Hanson klar ausgesprochen4:

I believe Australia and the rest of the world should recognise Taiwan for the independent sovereign nation it has effectively been since the 1950s. Taiwan is highly industrialised, technologically advanced, socially cohesive and democratic. Taiwan has all the features, characteristics and institutions of a modern nation-state, including self-determination. 

Die Eile, die man bezüglich den Beschlüssen des Friedensgipfels auf dem Bürgenstock vermisst, erklärt die Parlamentarierin Linda Reynolds wie folgt5 (Hervorhebungen hinzugefügt):

The brutal reality for those of us in this place, and for all Australians, is that we now have a four-nation axis of dictatorship and authoritarianism, the members of which are now working together in ways that we never previously thought possible. This alliance is seeking to increase quite rapidly its sphere of influence and part of that is through a wide range of multilateral fora and international agreements, by stealth and, as other people have said, by gaslighting—in China’s case—Taiwan. […] what they are now trying to do—to change this definition of Taiwan—is wrong, like so many other things they are seeking to do. We have to stand up.

Ketagalan Forum vom 21. August 2024 und Nikki Hailey in Taiwan

Noch konkreter als der australische Senat wurde die frühere UNO-Botschafterin der USA und ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley, die als Referentin am Ketagalan Forum vom 21. August 2024 in Taiwan weilte. Sie forderte am Rande der Konferenz, die USA sollten zusammen mit Taiwan eine Sitzung der UN-Generalversammlung einberufen, um nicht nur Resolution 2758 bzw. den Status Taiwans zu diskutieren, sondern auch den Umgang mit den ständigen Drohungen der Volksrepublik Chinas gegenüber Taiwan (und dessen Regierung)6. Die UNO bzw. die UNO-Mitgliedstaaten müssten aufhören, so zu tun, als ob 24 Millionen Menschen nicht existieren würden. Taiwan sollte ein vollwertiges Mitglied der UNO sein. Mindestens, so der Vorschlag Haileys, müsste Taiwan ein Beobachterstatus bei der UNO haben, wie er auch Palästina zuerkannt werden.

Auffallend am Ketagalan Forum, bei dem Sicherheitsfragen in der Region Indo-Pazifik diskutiert wurden, war der Umstand, dass nicht nur die USA und Japan als Pazifikanreiner prominent vertreten waren, Japan namentlich mit dem früheren Premierminister Noda. Wie schon bei der ersten «Elefantenrunde» in Taiwan waren auch diesmal diverse nord- und osteuropäische Länder dabei. Unter anderem der frühere slowakischen Premierminister Heger, der frühere litauische Verteidigungsminister Pabriks oder der frühere EU-Botschafter in den Philippinen, Jessen. Die entsprechenden Personen dürften in ihren Heimatländern aufgrund ihrer Erfahrung ein gewisses Gewicht haben, auch oder gerade deshalb, weil sie sich aus dem Politbetrieb zurückgezogen haben.

Spätestens jetzt ist Taiwan zu einem Thema im amerikanischen Wahlkampf geworden. Das Votum von Nikki Haley kann wohl kaum ignoriert werden, erst recht nicht, wenn die Republikaner das Rennen machen sollten. Wer die Nase diesbezüglich vorne hat, ist schwer zu sagen. Kamala Harris kann von sich immerhin sagen, mit dem taiwanesischen Präsidenten persönlich gesprochen zu haben (natürlich nur kurz und rein zufällig).

Und die Schweiz?

Und was ist mit der Schweiz, die möglicherweise mit ihrer Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock die Lawine der Diskussion um die UN-Charta und Resolution 2758 ins Rollen gebracht hat – wohl ohne dies bedacht oder beabsichtigt zu haben?

Hier ist bekannt, dass Bundesrat Cassis Ende Mai entschieden hat, die «China-Strategie», in der Taiwan bisher keinen Platz gefunden hat, aufzugeben7. Stattdessen soll eine Strategie verfolgt werden, die auch andere asiatische Länder – namentlich Indien, Indonesien und Südkorea – umfasst. Dies hat, neben allen Nachteilen, einen offensichtlichen Vorteil: Die Schweiz kann sich darüber Gedanken machen, wie sie es vermeiden kann, dass ihr die seit 1949 bezüglich der Republik China verfolgte Strategie auf die Füsse fällt. Diesbezüglich ist die Schweiz 1949 ausgeschert, während sich andere Länder noch darüber austauschten, ob es klug sei, die Volksrepublik China sofort zu anerkennen. Der Schweizer Bundesrat hat seither mit aller Kraft versucht, so zu tun, als gäbe es Taiwan und die Republik China nicht mehr. Seit 1971 konnte sich die Schweiz hinter der Resolution 2758 verstecken und ins Feld führen, die meisten anderen Staaten würde Taiwan nicht «anerkennen». Nun, da das Scheinwerferlicht auf die Resolution 2758 gerichtet ist, droht auch dieses Feigenblatt verloren zu gehen. Das ist umso peinlicher, als die Bundesratsbeschlüsse betreffend die Anerkennung der Volksrepublik China und die «Aberkennung» der Republik China unauffindbar sind, wenn sie denn je existiert haben.

Dem seit langem erwarteten Bericht des Bundesrates zur «Institutionalisierung des Austauschs und der Koordination von Schweizer Akteuren gegenüber China (Whole of Switzerland)»8 ist zu entnehmen, dass im Rahmen der dreimal jährlich tagenden interdepartementalen Arbeitsgruppe zu China (IDAG) auch eine Untergruppe zu Taiwan geschaffen wurde. Sie hat den Auftrag, die «sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen einer möglichen Eskalation in der Region Taiwan auf die Schweiz zu antizipieren und die entsprechenden Bedürfnisse der Bundesverwaltung zu ermitteln». «Ausserdem» soll es «Kontakte mit Think Tanks, vor allem zu Sicherheitsfragen oder Brennpunkten in Südostasien (Taiwan, Koreanische Halbinsel, Südchinesisches Meer)» geben.

Was die IDAG-Untergruppe und Think Tanks hinsichtlich ihrer Aufgabe, eine mögliche Eskalation in Ostasien im Allgemeinen und in Taiwan im Speziellen zu antizipieren, zu leisten vermögen, hängt damit von der Qualität der Informationen ab, über die die «Experten» in diesen Gremien verfügen.

Die «Elefantenrunden» der letzten drei Monate allein schon nur zum Thema der Resolution 2758 zeigen, vor welch schwierige Aufgabe die Bundesverwaltung gestellt ist. Gewissheiten, wie die Idee, alle verstünden unter der «One China Policy» dasselbe, lösen sich in Luft auf.

Die Schweizer Diplomaten und Vertreter der Bundesverwaltung dürfen offizielle oder quasi-offizielle Regierungskontakte zu Taiwan nicht pflegen, die zahlreichen Möglichkeiten inoffizieller Kontaktpflege – von der Amtseinsetzung von William Lai über das IPAC-Gipfeltreffen bis zum Ketagalan Forum – werden, soweit erkennbar, nicht ergriffen. Bei den «Elefantenrunden» war die Schweiz auch nicht dabei. Ohne Informationen aus erster oder mindestens aus zweiter Hand (via Länder, die den Kontakt zur taiwanesischen Regierung pflegen) riskiert die Schweiz, auf Propaganda hereinzufallen oder alte Glaubenssätze herunterzubeten, die einer objektiven Überprüfung nicht standhalten.


  1. https://press.un.org/en/2024/ga12614.doc.htm ↩︎
  2. https://globaltaiwan.org/2021/10/resolution-2758-and-the-fallacy-of-beijings-un-one-china-principle/ ↩︎
  3. https://fapa.org/2024-0823-australian-senate-passes-pro-taiwan-motion-taiwan-should-be-full-u-n-member-democratic-party-reaffirms-strong-support-for-taiwan/ ↩︎
  4. https://www.openaustralia.org.au/senate/?id=2024-08-21.197.2 ↩︎
  5. https://www.openaustralia.org.au/senate/?id=2024-08-21.197.2 ↩︎
  6. https://www.taipeitimes.com/News/front/archives/2024/08/25/2003822727; https://www.ocac.gov.tw/OCAC/Eng/Pages/Detail.aspx?nodeid=329&pid=67726119. ↩︎
  7. https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-beerdigt-die-china-strategie-ld.1838093 ↩︎
  8. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20213592 ↩︎