Man stelle sich vor, eine Botschaft verbreite ungefiltert staatliche Propaganda ihres Gaststaats, mit welcher zur Ermordung von prominenten Politikern und möglicherweise Millionen von Bürgern in einem Nachbarstaat aufgerufen wird. Undenkbar? Leider nein. Die Schweizer Botschaft in Beijing hat zum wiederholten Male in ihrem Pressespiegel auf Artikel der chinesischen Propaganda verlinkt, in der die «Todesstrafe» hochrangiger taiwanesischer Politiker wie beispielsweise der Vizepräsidentin Hsiao Bi-Khim als rechtmässig dargestellt wird.
von Maja Blumer, 10. August 2024
Am 9. August 2024 verlinkte die Schweizer Botschaft in Beijing in ihrer wöchentlichen Presseschau1 unter anderem einen Artikel des staatlichen Propagandaorgans «China Daily» unter dem Titel «10 die-hard Taiwan separatists facing lawful punishment». Als «rechtmässige Bestrafung» nach dem Recht der Volksrepublik China – welches in der Republik China offensichtlich nicht anwendbar ist – wird für die «unverbesserlichen Separatisten» wie beispielsweise die taiwanesische Vizepräsidentin Hsiao Bi-khim (蕭美琴), den taiwanesischen Verteidigungsminister Wellington Koo (顧立雄) und den Generalsekretär des National Security Council Joseph Wu (吳釗燮)2 die Todesstrafe vorgesehen.
Alte Kamellen?
Es war nicht das erste und auch nicht das einzige Mal, dass die Schweizer Vertretung in der Volksrepublik China sich bei der Verbreitung von Propaganda beteiligte, nur die Kadenz bei der Verbreitung hasserfüllter Artikel über die Bestrafung unverbesserlicher taiwanesischer Separatisten hat in letzter Zeit auffallend zugenommen.
So feierte die Schweizer Botschaft in Beijing im Mai die erfolgreiche Aktion der Regierung der Volksrepublik China, mit der (in Festlandchina aktive) «Celebrities» als Reaktion auf die Antrittsrede des taiwanesischen Präsidenten William Lai aufgefordert wurden, ihre Unterstützung für die «Wiedervereinigung» Taiwans mit der Volksrepublik China kundzutun, was manche auch taten. Dass die taiwanesischen Stars ihre Statements nicht ganz freiwillig abgaben, die Schweizer Diplomaten diese Botschaft dagegen aus eigenem Antrieb weiterverbreiteten, ist nicht ganz unerheblich, scheint den Diplomaten in Beijing aber entgangen zu sein. Sie hatten wohl keinen Zugriff auf die entsprechenden Verlautbarungen aus Taiwan3.
Woche für Woche wurden von der Botschaft in Beijing gleiche oder ähnliche Nachrichten weiterverbreitet. Etwa Anfang Juni diejenige, die Volksbefreiungsarmee (People’s Liberation Army, PLA) sei bereit, gegen die Separatisten vorzugehen. Ende Juni kolportierte die Schweizer Botschaft in Beijing, die «Öffentlichkeit» unterstütze die Weisung der chinesischen Regierung, die verlangt, taiwanesischen Separatisten mit der Todesstrafe zu belegen, die entsprechenden Urteile könnten von Gerichten in Festlandchina auch im Abwesenheitsverfahren ausgefällt werden.
Diese Nachricht von Ende Juni ist besonders problematisch, weil sie einige Hitzköpfe veranlassen könnte, das vermeintliche Recht Chinas selber in die Hand zu nehmen und nicht zuzuwarten, bis die Volksbefreiungsarmee unter Beweis stellt, dass sie fähig ist, gegen die aus chinesischer Sicht offenbar so gefährlichen Sezessionisten gewaltsam vorzugehen. Die chinesischen Generäle werden sich wohl gut überlegen müssen, ob sie die jungen Soldaten, die meisten davon Einzelkinder, durch den Fleischwolf drehen wollen. Sie dürften inzwischen dank dem Ukrainekrieg gemerkt haben, dass sich «Militäroperationen» zur Bestrafung irgendwelcher missliebiger Personen oder Personengruppen recht lange hinziehen können. Die letzte solche Bestrafungsaktion – 1979 gegenüber den Vietnamesen – ist für die Volksbefreiungsarmee ziemlich blamabel verlaufen4. Von den «Little Pinks» kann man solche Überlegungen wohl eher weniger erwarten.
Auch die Liste der mit der Todesstrafe bedrohten taiwanesischen Politiker ist nicht neu, sie existiert mindestens seit Mai 2021. Die Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes verabschiedete 2023 eine weit umfassendere Liste von Politikern, Journalisten, Experten und Geschäftsleuten, welche angeblich die (Wirtschafts-)beziehungen zum Festland untergraben sollen und mittels «Spezialoperationen» umgebracht werden sollen5.
Neuerungen in der Hasspropaganda
Neu ist, dass die chinesische Regierung am vergangenen Mittwoch ein Meldesystem eingerichtet hat, mit dem weitere «unverbesserliche Separatisten» denunziert werden können. Mutmasslich sollen anhand dieser Denunzazionen die Kriterien erarbeitet werden, welche die Einordnung der «unverbesserlichen» Separatisten erlauben, welche mit dem Tod bestraft werden sollen. Informationen darüber, was diese Separatisten genau verbrochen haben, sucht man nämlich vergebens. In der Dissertation oder in den zahlreichen Interviews der letzten 25 Jahre von Joseph Wu, könnte man beispielsweise nach gehöriger Gehirnwäsche sicher etwas finden, um dem professoralen Politiker einen Strick zu drehen. Nur schaffen es diese Interviews wohl kaum über den «Great Firewall». Entsprechend dürften die Denunziazionen eher dazu dienen, unliebsame Geschäftspartner loszuwerden.
Neu ist auch, dass nun eindeutig nicht mehr (nur) die chinesischen Gerichte für die extraterritoriale Rechtsdurchsetzung zuständig sind (wozu sie ja auch nicht in der Lage sind), sondern die Armee: «China’s defense chief says PLA ready to deter, shatter any separatist activity» – auch diese problematische Nachricht der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua wurde in der Presseschau vom 9. August 2024 von der Schweiz weiterverbreitet. Es geht also eindeutig nicht um (extraterritoriale) Rechtsdurchsetzung durch die Justiz, sondern um die Rechtfertigung militärischer Gewalt gegen Taiwan oder taiwanesische Exponenten.
Neu ist weiter die Idee, welche ebenfalls in der Presseschau vom 9. August 2024 auftaucht, wonach in Festlandchina eine Schattenregierung aufgebaut werden sollte, welche die Regierungsgeschäfte in Taiwan übernehmen soll. Irgendwie müssen die zu ermordenden taiwanesischen Politiker ja nahtlos ersetzt werden, damit Beijing die erfolgreiche taiwanesische Wirtschaft ungehindert anzapfen kann. Jedenfalls deutet ein Artikel der South China Morning Post, auf den die Schweizer Botschaft in Beijing verlinkt, in diese Richtung: «Beijing should set up a shadow government ready to run Taiwan, academics say». Es wäre interessant zu wissen, ob unter den Akademikern die rechtlichen Implikationen im Lichte der real existierenden Verfassung der Republik China und der UN-Charta diskutiert wird.
Die Schatten der Nazizeit
Angesichts der Skrupellosigkeit, mit der taiwanesische Politiker für irgendwelche imaginären Verbrechen mit dem Tode bestraft werden sollen, fühlt sich in die schwärzesten Jahre der Nazizeit zurückversetzt, als man die Juden zu Sündenböcken stempelte und die Staatsschatullen auf ihre Kosten füllte.
Die Rolle der Schweiz in der Nazizeit ist ein düsteres Kapitel, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann. Einige Diplomaten traten in dieser Zeit als umsichtige Retter in der Not auf, nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien. Bundesrat und Aussenminister Pilet-Golaz fiel damals vor allem durch zu grosse Nähe zu den Achsenmächten auf und musste 1944, als sich das Blatt für die Nazis wendete, den Hut nehmen. Allerdings wäre es selbst damals Pilet-Golaz und seinen Untergebenen nicht eingefallen, die Ermordung der Juden als rechtmässige Bestrafung zu propagieren, auch wenn es natürlich auch Juristen gab, die das Treiben der Natzis als rechtmässig deklarierten.
Ein wesentlicher Unterschied zur Nazizeit besteht: Damals befand sich die Schweiz in der Umklammerung der Achsenmächte und musste irgendwie zwischen diesen und den Alliierten lavieren, wenn sie nicht untergehen wollte. Eine solche Zwangslage ist nicht erkennbar.
Es ist noch nicht einmal ersichtlich, welchen Zweck die Botschaft mit ihrer wöchentlichen Propagandasammlung verfolgt, die offenbar insbesondere bei diversen staatlichen Stellen zirkulieren soll. Wer die chinesische Propaganda zu lesen weiss, kann daraus durchaus interessante Schlüsse ziehen. Insbesondere hinsichtlich der politischen Vorgängen hinter den Kulissen und der wirtschaftlichen Entwicklung. Das setzt aber Chinesisch- und Chinakenntnisse sowie auch persönliche Beziehungen voraus, über die die Allerwenigsten verfügen. Wenn die chinesische Propaganda ungefiltert als vermeintliches Expertenwissen in der Bundesverwaltung zirkuliert, sind Fehlentscheide vorprogrammiert.
Mögliche Motive der Schweizer Botschaft bei der chinesischen Propagandaaktion
Über die Motive der Schweizer Diplomaten, bei dieser Propagandaaktion mitzuwirken und das Mitwissen des letztendlich verantwortlichen Bundesrats kann man nur rätseln: Kontrollverlust gegenüber Botschaftsmitarbeitern? Demonstratives Distanzieren von Taiwan? Profilierungsversuche der Schweizer Botschaft?
Kontrollverlust
Einiges deutet darauf hin, dass die Botschaft in Beijing ein Problem bei der effizienten Nutzung von Ressourcen hat.
Beispielsweise plante man, den Mitarbeiterbestand im Zuge des Ersatzneubaus des Botschaftsgebäudes aus den Siebzigerjahren von aktuell ca. 60 auf ca. 130 glatt zu verdoppeln. Pro Arbeitsplatz hätte in Beijing eine Fläche von 50 Quadratmetern zur Verfügung stehen sollen (statt wie üblich maximal 30 Quadratmeter). Die Finanzaufsicht riss unter anderem angesichts der unerklärlichen Verfünffachung der Kosten von ca. CHF 9 Millionen 2014 auf fast CHF 50 Millionen 2023 vor einem Jahr einen Notstopp6. Nachdem Bundesrat Cassis im Mai 2024 die China-Strategie aufgegeben hat und stattdessen eine Asien-Strategie verfolgen will, die von Indien über Indonesien bis Südkorea unter einen Hut bringt, wird man wohl auch überprüfen müssen, wo man personelle und finanzielle Ressourcen bindet7. Es dürfte eine interessante Aufgabe sein, eine Presseschau über diese heterogenen Länder zu verfassen.
Wer die Presseschau für die Volksrepublik China inkl. Hong Kong und Taiwan sowie die Mongolei verfasst, und ob der entsprechende Mitarbeiter eher die schweizerischen Interessen vertritt, oder doch eher diejenige der chinesischen Regierung, ist nicht bekannt. Ebenso ist nicht klar, ob der entsprechende Mitarbeiter Zugang zu Medien ausserhalb der Volksrepublik China hat, was eine kritische Überprüfung erlauben würde. Jedenfalls kann aber gesagt werden, dass die Kontrolle über diese Mitarbeiter wohl fehlt. Das kann daran liegen, dass es bei der Botschaft in Beijing zu wenige Mitarbeiter gibt. Oder zu viele ohne das notwendige Know-how, so dass die Führungsspanne der ausgebildeten Diplomaten zu gross ist.
Die Verbreitung von Pressemeldungen durch Privatpersonen mit dem Aufruf zur Gewalt gegen eine Bevölkerungsgruppe ist durchaus problematisch und kann strafbar sein (Art. 259 ff. StGB). Die Verbreitung eines Aufrufs zum Hass oder der Tötung einer Menschengruppe durch eine offizielle staatliche Stelle wie ein Botschaft ist ein no-go, jedenfalls dann, wenn man offen lässt, ob der Staat, den man vertritt, diese Meinung teilt. Ein Botschafter müsste das wissen. Ein Stagiaire oder ein chinesischer Mitarbeiter vielleicht nicht.
Demonstratives Distanzieren von Taiwan
Eine weitere Möglichkeit ist, dass sich die Schweizer Diplomaten und insbesondere ihr Vorgesetzter Bundesrat Cassis demonstrativ von Taiwan distanzieren wollen. Die Schweiz verfolgte schon seit 1949 eine Politik der strategischen Zwiespältigkeit, was auch der maoistischen Regierung nicht entgangen sein kann. So «anerkannte» ein untergeordneter Mitarbeiter des diplomatischen Dienstes möglicherweise schon am 5. Oktober 1949 die neue Regierung der Volksrepublik China, eine offizielle Bestätigung dieser «Anerkennung» durch einen Entscheid des Gesamtbundesrats ist aber nicht belegt.
Erst recht konnte oder wollte der Bundesrat die Republik China nie formell «aberkennen» und den 1918 geschlossenen «Freundschaftsvertrag» aufheben. Er beschränkte sich darauf, so zu tun, als gäbe es dieses Land und diesen Freundschaftsvertrag einfach nicht mehr. So konnte die Fiktion aufrechterhalten werden, im Falle von geteilten Staaten (Deutschland, Korea, Vietnam etc.) handle der Bundesrat differenziert und anerkenne nicht immer nur den nicht-kommunistischen Landesteil.
Die Situation verschärfte sich, als 2017 Dr. Ignazio Cassis in den Bundesrat gewählt wurde und zum Aussenminister gekürt wurde. Die Bundesversammlung hat es möglicherweise nicht gemerkt, die Vertreter der Volksrepublik China jedoch sicherlich, jeder kann sich über diese Tatsache im Handelsregister selber vergewissern: Vom 15. April 2014 bis zum 21. Dezember 2017 war ein gewisser Dr. Ignazio Cassis kollektivzeichnungsberechtigter Vizepräsident des Vereins, der heute die Bezeichnung «Délégation de Taiwan, République de Chine» trägt und als quasi-Botschaft Taiwans fungiert. Dass Bundesrat Cassis einen Doppelgänger hat, kann wohl ausgeschlossen werden.
Zweifellos war Dr. Cassis mindestens damals der Auffassung, seine Aufgabe sei es, die Interessen der Schweiz zu vertreten, wozu auch gehört, minimale Beziehungen zu einem Land aufrecht zu erhalten, das offiziell für die Schweiz nicht existiert, aber auch für uns von grösster geopolitischer und wirtschaftlicher Bedeutung ist.
Nur teilt die Regierung der Volksrepublik China diese Auffassung möglicherweise nicht. Es kann durchaus sein, dass sie auch Bundesrat Cassis zu den Unterstützern Taiwans zählen und diesen in seiner Rolle als Schweizer Aussenminister, der von Taiwan plötzlich nichts mehr wissen will, als trojanisches Pferd betrachtet.
Auf der Liste der «die-hard» Separatisten, welche ihrer Meinung nach die Todesstrafe verdienen, figurieren immerhin zwei prominente taiwanesische Aussenpolitiker: die heutige Vizepräsidentin und ehemalige quasi-US-Botschafterin Hsiao Bi-khim und der ehemalige Aussenminister und heutige Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats Joseph Wu.
Diese Leute sind für Rotchina nicht gefährlich, weil sie als militante Vertreter auftreten, die eine Unabhängigkeit Taiwans fordern und irgendwelche willkürlich gezogenen «Roten Linien» überschreiten, etwa in der Form einer Unabhängigkeitserklärung. Vielmehr beschränken sie sich darauf, der ganzen Welt mit rationalen Argumenten aufzuzeigen, dass Taiwan de facto ein unabhängiges, demokratisches Land ist, das über ein tragfähiges aussenpolitisches Netzwerk verfügt. Ein Land, das vielleicht bald gar keine Botschafter hat, aber dafür immer mehr Freunde, die bereit sind, ihre Unterstützung Taiwans zum Ausdruck zu bringen.
Ein demokratisch regiertes, international vernetztes und militärisch starkes Taiwan ist für die Volksrepublik China weit gefährlicher als ein Land, welches zwar über eine riesigen technologischen und wirtschaftlichen Vorsprung verfügt, den man aber einfach beseitigen kann, indem man das Land in den Schoss des Mutterlandes «zurückführt» (genau wie es Deng Xiaoping 1979 vorschwebte), etwa indem man den Alleinherrscher umbringt und das Land international isoliert. Insofern erstaunt nicht weiter, dass sich die Volksrepublik China unter anderem auf prominente chinesische Aussenpolitiker eingeschossen hat.
Bundesrat Cassis hat fast vier Jahre lang dafür gesorgt, dass Taiwan auch in der Schweiz über ein politisches Beziehungsnetz verfügt. Wenn er nicht in den Verdacht geraten will, ein unverbesserlicher taiwanesischer Separatist zu sein, der die Todesstrafe verdient, tut er gut daran, unter Beweis zu stellen, dass er die Front gewechselt hat.
Jedenfalls dürfte mit der Unterstützung der chinesischen «Lawfare» durch die Schweizer Botschaft und indirekt auch durch den Bundesrat eine Kooperation beispielsweise im Wissenschafts- und Technologiebereich, wie sie vom Nationalrat gefordert wird, in weite Ferne rücken. Man kann in der Schweiz nicht einerseits die Enthauptung einer Regierung propagieren und gleichzeitig von dieser Regierung präferenziellen Zugang zu Schlüsseltechnologien erwarten. Hätte sich die Schweiz bezüglich China etwas neutraler verhalten, wie das der «unverbesserliche Separatist» und ehemalige taiwanesische Aussenminister Joseph Wu in einem Interview im Dezember 2022 angeregt hat, würden die Dinge wohl anders liegen. Der radikale Seitenwechsel von Bundesrat Cassis vom quasi-Botschafter Taiwans zum Verfechter einer radikalen Einchinapolitik ist wohl nicht gerade geeignet, die Neutralitätspolitik der Schweiz zu stärken.
Profilierungsversucher der Botschafter in der Volksrepublik China?
Die Schweizer Diplomaten in der Volksrepublik China kämpfen schon seit 1949 dagegen an, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken und sich mit ihren Anliegen bei der chinesischen Regierung Gehör zu verschaffen.
Der Diplomat Jéquier, der interimistisch in der Volksrepublik China die Schweiz vertrat und Anfang Oktober 1949 gegenüber Zhou En-lai in Aussicht stellte, die Schweiz würde die Volksrepublik China anerkennen, reiste Mitte Oktober 1949 aus China ab. Der Kotau hat ihm möglicherweise die Ausreise erleichtert, denn eigentlich wurde er schon Anfang September nach Bern zurückbeordert. Jéquier hat aber mit seiner Quasi-Anerkennung der eben erst aus der Taufe gehobenen Volksrepublik China ein schweres Erbe hinterlassen.
Zurück blieb 1949 der Schweizer Generalkonsul in Shanghai, Koch. Koch fiel im Kreis der Ausländer und verbliebenen Konsule in Shanghai, welche von den Maoisten an der Ausreise gehindert wurden, durch ein «somewhat negative leadership»8 auf. Irgendwann konnten in den Folgejahren auch die letzten Schweizer ausreisen, welche die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannt hatten und deshalb bei der Machtübernahme der Kommunisten in Festlandchina hängen blieben (schon damals zeigte sich, dass es sich lohnt, sich umfassend zu informieren und sich bei den Informationen nicht einfach auf die Schweizer Botschaft zu verlassen).
Die Schweizerkolonie in der Volksrepublik China bestand 1974/1975 aus zwei alten Damen, welche mit Chinesen verheiratet waren, einem halben Dutzend Studenten und drei Sprachlehrern in Peking, Xi’an und Guangdong. Hinzu kamen etwa ein halbes Dutzend Botschaftsmitarbeiter in Peking. Die Frau des Botschafters empfing die beiden alten Damen jeweils Dienstags in den Botschaftsräumlichkeiten zum Kaffee. Für den Botschafter bestand darüber hinaus die Möglichkeit, sich mit Repräsentanten der chinesischen Regierung über das Wetter oder die Vorzüge der chinesischen Küche zu unterhalten. Der Botschafter Albert Natural dazu in seinem Schlussrapport vom 24. Juni 19759:
Cela ne va pas très loin et constitue intellectuellement une des grandes humiliations du séjour à Pekin.
Was sich in den letzten Jahren bezüglich der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Volksrepublik China in den letzten 50 Jahren effektiv geändert hat, ist schwer zu sagen. Der Personalbestand der Schweizer Botschaft in Beijing hat sich in etwa verzehnfacht, nicht zu reden von den inzwischen vier Konsulaten (Chengdu10, Guangzhou, Hong Kong und Shanghai) und weiteren regierungsnahen Organisationen (u.a. Swissnex). Vervielfacht hat sich die Zahl der «Dialoge». Auf greifbare Ergebnisse, insbesondere bezüglich der als notwendig erachteten «Nachbesserung» des Freihandelsabkommens, wartet man allerdings vergeblich. Die Schweiz hatte noch nicht einmal genügendes diplomatisches Gewicht, um die Volksrepublik China dazu zu bewegen, einen Vertreter an den Friedensgipfel auf dem Bürgenstock zu entsenden.
Versuchen die Schweizer Diplomaten, die Schweiz auf Kosten von taiwanesischen Spitzendiplomaten als praktisch einzigen westlichen Verbündeten der Volksrepublik China zu etablieren und so eine Verdoppelung des Personalbestands in Beijing zu rechtfertigen, während sich die USA und viele europäische Länder zunehmend die wirtschaftliche und geopolitische Bedeutung Taiwans und anderer Länder der First Island Chain hervorheben, was auch hinsichtlich der diplomatischen Ressourcen ihren Niederschlag findet?
Das ist schon 1950 gehörig schiefgelaufen, als Bundespräsident Petitpierre und seine Entourage mit Entsetzen feststellen musste, dass die meisten westlichen Staaten keinesfalls bereit waren, Taiwan und die koreanische Halbinsel den Kommunisten zu überlassen. Petitpierre schwebte offenbar vor, Ostasien den Sowjets zum Frass vorzuwerfen (Japan und die Philippinen wären kaum unbehelligt geblieben). Petitpierre hatte gehofft, dass sich die USA mit ganzer Kraft für die Verteidigung Europas einsetzen würden. Dass die Nordkoreaner mit der Unterstützung der Sowjets in Südkorea einmarschierten, fand Petitpierre offensichtlich nicht schlimm. Schlimm fand er, dass Präsident Truman sich entschloss, Südkorea zur Hilfe zu eilen (Petitpierre bekam offenbar nicht mit, dass es sich um einen breit abgestützten Beschluss des UN-Sicherheitsrates handelte). Noch schlimmer fand er, dass Präsident Truman vorhatte, Formosa zu verteidigen (genaugenommen hinderte Truman die Republik China wie auch die Volksrepublik China daran, sich gegenseitig anzugreifen, dies mit Einverständnis der Republik China). Petitpierre sah damals schon die Sowjets in die Schweiz einmarschieren, bei denen er gerade erst zu Kreuze gekrochen war. Die Befürchtungen Petitpierres bewahrheiteten sich damals zum Glück nicht.
Vielleicht wäre es aber schon damals klüger gewesen, sich mit der Strategie der Nato-Länder auseinanderzusetzen, statt auf die Erfolge der Schweizer Diplomaten in Beijing und Moskau zu hoffen.
Völker- und staatsrechtliche Verpflichtungen der Schweiz
Ein grosser Unterschied zu 1950 besteht allerdings. Damals war die Schweiz nicht Mitglied der UNO, sondern war aussenpolitisch in die Isolation geraten. Spätestens mit der temporären Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat hat es sich der Bundesrat zum Ziel gesetzt, dank dem «direkten Zugang zu den wichtigsten Akteuren des Weltgeschehens ihre Interessenwahrung stärken.11»
Nun zeigen gerade die Beispiele der taiwanesischen Spitzenpolitiker Hsiao Bi-khim und Joseph Wu, dass es nicht entscheidend ist, ob man offiziell am gleichen Tisch sitzt und einen Sitz im UN-Sicherheitsrat beanspruchen kann. Entscheidend ist, ob man sich mit überzeugenden rationalen Argumenten und konstruktiven Lösungsvorschlägen bei seinen Gesprächspartnern Gehör verschaffen kann.
Der anlässlich des Friedensgipfels auf dem Bürgenstock initiierte Revitalisierung der UN-Charta kann ein Ansatz für einen Frieden in der Ukraine sein, möglicherweise auch weiterer Konflikte.
Wenn die Schweiz als Friedensstifterin glaubwürdig sein will, täte sie gut daran, sich an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten.
Dazu gehört Art. 2 Nr. 4 UN-Charta. Sie verbietet den Gebrauch und die Androhung militärischer Gewalt gegen andere Staaten. Verboten sind neben Krieg auch alle diese Intensität nicht erreichenden militärischen Massnahmen.
Wenn die Schweiz mithilft, staatliche Propaganda zu verbreiten, mit der die Auslöschung von Politikern eines fremden Staates mithilfe der Armee propagiert wird, riskiert sie, zur Mittäterin zu werden.
Was will die Schweiz sagen, wenn die Volksbefreiungsarmee die Drohung der Auslöschung der taiwanesischen Vizepräsidentin, des taiwanesischen Verteidigungsministers sowie des Generalsekretärs des Nationalen Sicherheitsrats sowie dutzender wenn nicht Millionen anderer wahrmacht, welche von der Volksrepublik China zu Staatsfeinden gestempelt wurden:
- Will sie im UN-Sicherheitsrat die Position vertreten, die Bestrafung von Hsiao Bi-khim und Joseph Wu sei notwendig, weil sie sich erfrechten, als Vertreter der verfassungsmässigen Regierung der Republik China mit anderen Staaten sowie den Medien gedeihliche Beziehungen zu pflegen?
- Oder will sie behaupten, sie hätte die Presseschau ihrer Botschaft in Beijing nicht gelesen und sei sich der Tragweite der Pläne der chinesischen Regierung nicht bewusst gewesesen?
- Oder will sie einmal mehr behaupten, die Republik China gebe es nicht mehr, weil der Bundesrat die Volksrepublik China irgendwann anerkannt habe?
Im letzten Fall täte die Schweiz gut daran, einmal über die Bücher zu gehen und die entsprechenden Bundesratsbeschlüsse hervorzukramen. Im Gegensatz zu allen anderen Protokollen der Bundesratssitzungen sucht man einen Beschluss, in dem die Volksrepublik China anerkannt bzw. die Republik China «aberkannt» hätte vergeblich. Die gesamte Chinapolitik der Schweiz der letzten 75 Jahre, die auf diesen – höchstwahrscheinlich fiktiven – Bundesratsbeschlüssen beruht, droht in sich zusammenzustürzen, wie ein Kartenhaus. Der bereits angeschlagene Ruf der Schweiz als neutrales, demokratisches und friedliebendes Land dürfte dabei zusätzlichen Schaden erleiden.
Abgesehen davon kann es nicht angehen, dass Schweizer Diplomaten in Beijing politische Vorstösse torpedieren, indem sie Beziehungen zu Taiwan unterbinden. Wie etwa die am 28. Februar 2024 vom Nationalrat gutgeheissene Motion Atici (22.371312) umgesetzt werden soll, wonach die Schweiz «die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft, Technologie, Innovation und Kultur mit Taiwan festigen und vertiefen» soll, ist ein Rätsel. Dazu müsste man ja mit den Vertretern einer Regierung Gespräche führen, die es nach offizieller Leseart der Schweiz nicht gibt und deren Mitglieder entsprechend der von der Schweizer Botschaft in Beijing kolportierten Meinung die Todesstrafe verdienen. Es wäre Taiwan nicht zu verargen, wenn es lieber die Forschungs- und Technologiezusammenarbeit mit den USA, Deutschland und anderen Ländern vertieft, mit denen es bereits entsprechende Verträge abgeschlossen hat oder zumindest gute bilaterale Beziehungen pflegt. Das ist umso bedauerlicher, als es Dr. Ignazio Cassis als ehemaliger quasi-Diplomat Taiwans es in der Hand gehabt hätte, an die zwischen April 2014 und Dezember 2017 geknüpften Beziehungen aufzubauen.
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Nein. Es ist Schweizer Diplomaten in Beijing zu untersagen, Propaganda zur Rechtfertigung der Ermordung taiwanesischer Politiker durch die Volksbefreiungsarmee weiterzuverbreiten. Wenn die Schweiz bzw. insbesondere Bundesrat Cassis die Augen vor dem Tun ihrer Botschafter in Beijing die Augen verschliessen, riskieren sie, gegen das Gewaltverbot von Art. 2 UN-Charta zu verstossen und setzen den guten Ruf der Schweiz als neutrales, friedliebendes und demokratisches Land aufs Spiel.
- https://www.sinoptic.ch/embassy/presseschau/ ↩︎
- https://www.taipeitimes.com/News/front/archives/2024/08/10/2003822020 ↩︎
- Diverse taiwanesische Politiker, einschliesslich Präsident Lai, zeigten dann auch Verständnis für die Haltung dieser Celebrities (https://www.youtube.com/watch?v=JWgJqBQqa0Q). ↩︎
- Gegenüber Bundesrat Honegger, der kurz danach in Beijing weilte, stellte Deng Xiaoping den Krieg gegen Vietnam als «leichte (?)» Aktion dar, mit der dem undankbaren Vietnam eine Lektion erteilt worden sein, für die ganz Ostasien dankbar sei, weil sonst Vietnam zum Kuba des Ostens würde. Mit der erteilten «Lektion» habe die Volksrepublik China den Mythos zerstört, dass Vietnam nach den USA und der UdSSR die drittstärkste Militärmacht der Welt sei. Bundesrat Honegger liess diese und andere problematische Aussagen von Deng Xiaoping unwidersprochen. Das Protokoll zum Gespräch findet sich unter www.dodis.ch/52762. ↩︎
- https://www.tagesspiegel.de/internationales/chinesische-spezialoperation-gegen-taiwan-pekinger-einheitsfront-stimmt-fur-todesliste-9478640.html ↩︎
- https://www.efk.admin.ch/wp-content/uploads/publikationen/berichte/sicherheit_und_umwelt/beziehungen_im_ausland/22223/22223be-version-definitive-v04.pdf ↩︎
- https://www.nzz.ch/schweiz/cassis-beerdigt-die-china-strategie-ld.1838093 ↩︎
- Telegramm von Generalkonsul McConaughy in Shanghai an U.S. State Secretary Acheson vom 29. Dezember 1949 (https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1949v09/d1188 ↩︎
- https://dodis.ch/37707 ↩︎
- Das Konsulat in Chengdu ist seit längerem nicht besetzt und hätte auch aus Kostengründen aufgegeben werden sollen. Im Frühling dieses Jahres wurde aus unerfindlichen Gründen – Prestige? Druck aus Beijing? – beschlossen, dieses weiterzuführen. ↩︎
- https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-89193.html ↩︎
- https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20223713 ↩︎