Bei der feierlichen Amtseinsetzung von Lai Ching-te als Präsident und Hsiao Bi-khim als Vizepräsidentin der Republik China oder von Taiwan oder von Formosa oder von wie auch immer man dieses Land nennen will (Lai Ching-te zur Namensfrage: «whichever of these names we ourselves or our international friends choose to call our nation, we will resonate and shine all the same») am 20. Mai 2024 machten Hunderte von Vertretern und Vertreterinnen von Ländern rund um die Welt den neuen Amtsinhabern die Aufwartung. Die Schweiz, deren Nationalrat vor einem Jahr die Absicht geäussert hat, die Beziehungen zu Taiwan zu verbessern, glänzte einmal mehr mit Abwesenheit. Nemo, lat. «Niemand» war als offizieller oder halb-offizieller Gast aus der Schweiz dabei. Nicht einmal der gefeierte Schweizer Sänger war dort.
von Maja Blumer, 21. Mai 2024
Nun ja, für Nemo – den Sänger – wäre die Konkurrenz wohl eine Nummer zu gross gewesen. Das wutschnaubende blaue Pferd mit der Regenbogenmähne (eine Bezugnahme auf den ehemaligen taiwanesischen Präsidenten Ma – Ma bedeutet auf Deutsch «Pferd» und Blau ist die Farbe von dessen Partei Kuomintang?!), flankiert von kleinen gelben taiwanesischen Tigern (dem Wappentier auf der alten taiwanesischen Flagge), welches an der Parade im Anschluss an die Rede von Lai Ching-te zu sehen war, war kaum zu toppen.
War die Konkurrenz aber auch für die Schweiz zu gross, um wenigstens einen Parlamentsvertreter, ein Regierungsmitglied im Ruhestand oder einen Vertreter der Wissenschaft nach Taiwan reisen zu lassen (so wie dies andere Länder machten, die keine offiziellen Beziehungen zu Taiwan unterhalten)? Mit Königin Inkhosikati von Eswatini hängt der Korb in sartorialer Hinsicht hoch. Dass mit dem ehemaligen State Secretary Michael Pompeo ein republikanisches Schwergewicht aus den USA dem neuen taiwanesischen Präsidenten die Aufwartung machte, spricht Bände, was die politische Bedeutung von Taiwan betrifft. In quantitativer Hinsicht beeindruckte Japan mit einer Delegation von über 30 Parlamentariern. Wenig überraschend nahm auch die Witwe des ehemaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe, Abe Akie, an den Feierlichkeiten teil; es ist längst bekannt, dass sie und ihre Familie mit Präsident Lai eng befreundet ist. Auch Südkorea war vertreten, wenn auch etwas diskreter.
Unsere Nachbarn liessen sich auch nicht lumpen. Deutschland, Frankreich und Italien waren dabei, auch Vertreter der EU, die Briten, Kanadier und Australier, dazu auch Vertreter des Vatikans, einer der wenigen diplomatischen Verbündeten. Auch Vertreter kleiner Länder wie Schweden, Litauen und der Slowakei oder Singapur liessen sich von der Reise nach Taiwan nicht abhalten. Insgesamt sollen über 500 Vertreter aus dem Ausland an die Amtseinsetzung gereist sein, etwa 200 davon schüttelten Präsident Lai, die First Lady und Vizepräsidentin Hsiao beim Empfang offiziell die Hand (oder offerierten eine Umarmung, die Welt ist in dieser Hinsicht heutzutage kompliziert). Anschliessend bzw. am Folgetag empfing Präsident Lai unzählige Delegationen persönlich.
Im Grunde genommen trafen sich in Taipei am 20. Mai prominente Vertreter jener Länder, deren Teilnahme man sich (diesmal mit «offiziellen» Vertretern) in wenigen Tagen auch anlässlich der Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock erhofft – mit Ausnahme natürlich der Volksrepublik China, deren Teilnahme an der Schweizer Konferenz zweifelhaft ist, und Russlands, das man gar nicht erst einlud. Es ist anzunehmen, dass viele der Teilnehmer an der Amtseinsetzung von Lai Ching-te nicht nur für Small Talk nach Taiwan gereist sind, sondern die Gelegenheit genutzt haben, diskret drängende Probleme zu diskutieren.
Aber warum nutzte der Schweizer Nationalrat die Chance nicht, obwohl er am 2. Mai 2023 (und schon 2021) die Absicht geäussert hat, dass er die Beziehungen zu Taiwan «graduell und im Interesse von Wirtschaft, Kultur, Politik und Wissenschaft verbessern will»? Haben die 97 Parlamentarier, die dafür gestimmt haben, es sich anders überlegt? Oder wollen sie zuwarten, bis der Ständerat seinen Segen zu diesem Vorhaben erteilt hat, was allenfalls nächsten Monat der Fall sein wird (vgl. Motion Knecht/Salzmann, über welche am 12. Juni 2024 debattiert werden soll)?
Die Gelegenheit, Kontakte zur neuen taiwanesischen Regierung anzuknüpfen oder wenigstens in Taipei zu sein, um mit Vertretern anderer Ländern Ideen für die Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock vorzusondieren, hat die Schweiz einmal mehr verpasst. Ist das schlimm? Ja.
U.S. State Secretary Blinken hat an der Müncher Sicherheitskonferenz im vergangenen Februar zu freiwillige Allianzen gesagt:
And if you’re not at the table in the international system, you’re going to be on the menu. – U.S. State Secretary Antony Blinken
Die Schweiz war beim Bankett in Tainan, welches der neue Präsident am Abend des 20. Mai ausrichtete, nicht mit am Tisch. Also stand sie möglicherweise auf dem Menu. Ein Thema bei den Tischgesprächen könnte z.B. die Umsetzung von Sanktionen gewesen sein, aber auch die sich häufenden Hinweise auf Spionage und dgl., Fragen, die auch die Schweiz betreffen.
Hätte sie im Rahmen der «Dinner Table Diplomacy» etwas zu sagen gehabt? Wohl kaum. Schweizer Aussenminister verstehen sich ja angeblich darauf, in vier Sprachen zu schweigen. Diese Kunst hat die Schweizer Vertretung auch gepflegt, als im UN-Sicherheitsrat gleichentags auf Antrag von Russland, China und Algerien eine Schweigeminute zu Ehren des «Schlächters von Teheran» eingelegt wurde.
Das entspricht der diplomatischen Tradition der Schweiz, der Bundesrat hatte ja auch nichts dagegen, als Bundespräsident Felber am 29. Januar 1992 für den «Schlächter von Beijing», der für das WEF angereist war, im Bernerhof in der Bundeshauptstadt einen Empfang ausrichtete, obwohl sein Gast ein Treffen mit Bundesrat Koller, der die Menschenrechtsfrage aufs Tapet bringen wollte, kurzerhand abgesagt hat.
Man kann nur hoffen, dass die Schweizer Regierung ihre Zivilcourage wiederfindet, bevor weitere «Schlächter» die Drohung des Aussenministers der Volksrepublik China umsetzen, dass «alle taiwanesischen Separatisten, welche die Unabhängigkeit anstreben, an den Schandpfahl der Geschichte genagelt werden.»
Zwischenzeitlich ist es am zum unverbesserlichen Separatisten gestempelten Präsident Lai und seinen Verbündeten in Taiwan und in der ganzen Welt, dafür zu sorgen, dass der Nachbarstaat seine Pläne nicht umsetzen kann und dass es irgendwie gelingt, die Situation zu entschärfen. So wie es die sieben Präsidenten vor ihm getan haben, die Taiwan seit dem Inkrafttreten der Verfassung der Republik China aus dem Jahr 1947 regiert haben – und das immerhin seit 1996 als vom Volk gewählte Präsidenten.
Wären die Schweizer überhaupt noch erwünscht, wenn der Bundesrat oder das Parlament seine Meinung ändern sollte und doch noch konkrete Schritte zur Verbesserung der Beziehungen zu Taiwan einleiten möchte? Am 5. Oktober 1949 hat der Schweizer Chefbeamte Alfred Zehnder den Botschafter der Republik China, Dr. Wu Nan-ju, praktisch vor die Tür gesetzt – nota bene ohne dass der Bundesrat einen entsprechenden Beschluss gefasst und ohne dass man dem 1918 abgeschlossenen, immer noch geltenden «Freundschaftsvertrag» mit der Republik China irgendwelche Gedanken gewidmet hätte! Man machte sich im Bundeshaus lediglich Gedanken dazu, wie man die Botschaftsräumlichkeiten und Dokumente der Republik China zuhanden der Volksrepublik China konfiszieren könnte, die Rolle von Dr. Wu Nan-ju oder einem seiner Mitarbeiter wäre gewesen, dass Protokoll zuhanden der bernischen Stadtregierung zu signieren. Wenn man ein Land und seine Regierung 75 Jahre lang bewusst negiert und jegliche politischen Beziehungen ablehnt, muss man damit rechnen, dass plötzliche Avancen auf Misstrauen stossen.