Sonnenlicht über der Insel: Die geopolitische Bedeutung der taiwanesischen Sonnenblumenrevolution

Vor neun Jahren nahm am 10. April 2014 die Sonnenblumenrevolution, die Besetzung des taiwanesischen Parlaments durch Studenten, nach 23 Tagen ein glückliches Ende. Der 11. April markiert einen Neuanfang in der taiwanesischen Geschichte und vielleicht auch einen Neuanfang in der Weltgeschichte, in denen politische Geschäfte nicht mehr einfach zwischen Regierungsoberhäuptern im Hinterzimmer beschlossen und an den Betroffenen vorbeigeschleust werden können.

von Maja Blumer, 11. April 2023

In der Weltpresse wurde die Sonnenblumenrevolution – anders als die Regenschirm-Revolution in Hong Kong oder die Maidan-Revolution in der Ukraine im selben Jahr – kaum beachtet. Mit der Sonnenblumen-Revolution wandten sich taiwanesische Studenten gegen ein im Geheimen ausgehandeltes Abkommen zwischen der taiwanesischen Regierung und derjenigen der Volksrepublik China, das ohne nähere Prüfung am Parlament hätte vorbeigeschleust werden sollen. Mit der Sonnenblumenrevolution wurde das am Ende erfolgreich verhindert.

Versuche, den parlamentarischen Prozess auszuhebeln finden auch in gefestigten Demokratien immer wieder statt, man denke nur an das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China, bei dem man es etwas gar eilig hatte, oder das «Notrecht», zu dem der Schweizer Bundesrat in letzter Zeit so gern Zuflucht sucht (zuletzt mit der «Fusion» von CS und UBS). Oder die Rentenreform in Frankreich, welche Präsident Macron ohne Schlussabstimmung im Parlament durchzusetzen versucht.

Insofern ist die Sonnenblumenrevolution ein innerstaatliches Ereignis, das in einem demokratischen Staat zum courant normal gehört. Wenn die Demokratie ausgehebelt wird, kann es unter Umständen notwendig sein, zu unkonventionellen Mitteln zu greifen, zu denen eben auch eine Parlamentsbesetzung gehören kann. Im Fall der Sonnenblumenrevolution ist der Oberste Gerichtshof Taiwans zum Schluss gekommen, es habe sich um einen legitimen Akt zivilen Ungehorsams gehandelt, im Oktober 2021 wurden die letzten Anklagen gegen die Rädelsführer fallen gelassen.

So ganz die Regel ist es allerdings nicht, dass junge Menschen sich für Demokratie einsetzen, und damit auch noch Erfolg haben. Der glückliche Ausgang der 24-tägigen Parlamentsbesetzung und der anschliessenden Strafverfahren – rund 400 Teilnehmer waren anfänglich Ziel der Strafuntersuchung – ist alles andere als selbstverständlich. Auch nicht, dass es keine Toten oder Schwerverletzten gab. Insbesondere diejenigen Studenten, die tagsüber in den Hörsälen ihrer Universitäten waren und sich zwischen Sperren und Wasserwerfern hindurchkämpften, um im taiwanesischen Parlament Nachtwache zu halten, bekamen einiges ab. Nicht zu reden vom psychischen Druck, der auf allen lastete. Der Ausgang der Sache war keineswegs gewiss, das Land hätte leicht in die Zeiten der Einparteiendiktatur und des «Weissen Terrors» zurückfallen können, welche Taiwan jahrzehntelang geprägt hatten.

Die Haltung, die Angst, aber auch der Mut der jungen Taiwaner, die an der Parlamentsbesetzung teilnahmen, kommt vielleicht am besten im Lied zum Ausdruck, das sie gemeinsam sangen:

Nach 321 Stunden im taiwanesischen Parlament machen sich die Sonnenblumenrevolutionäre mit dem Lied «Sonnenlicht über der Insel» neuen Mut.

島嶼天光 tó-sū thinn-kng
Sonnenlicht über der Insel

親愛的媽媽Tshin-ài ê ma-ma
請你毋通煩惱我Tshiánn lí m̄-thang huân-ló guá
原諒我 行袂開跤Guân-liōng guá, kiânn buē khui kha
我欲去對抗袂當原諒的人Guá beh khì tuì-khòng buē-tàng guân-liōng ê lâng

歹勢啦 愛人啊Pháinn-sè–lah, ài-jîn–ah
袂當陪你去看電影Buē-tàng puê lí khì khuànn tiān-iánn
原諒我 行袂開跤Guân-liōng guá, kiânn buē khui kha
我欲去對抗欺負咱的人Guá beh khì tuì-khòng khi-hū lán ê lâng

天色漸漸光Thinn-sik tsiām-tsiām kng
遮有一陣人Tsia ū tsi̍t tīn lâng
為了守護咱的夢Uī tio̍h siú-hōo lán ê bāng
才做更加勇敢的人Tsiânn-tsuè kīng-ka ióng-kám ê lâng

天色漸漸光Thinn-sik tsiām-tsiām kng
已經不再驚惶Í-king put-tsài kiann-hiânn
現在就是彼一工Hiān-tsāi tiō sī hit tsi̍t kang
換阮做守護恁的人Uānn gún tsuè siú-hōo lín ê lâng

已經袂記哩 是第幾工Í-king buē kì-lit, sī tē kuí kang
請毋通煩惱我Tshiánn m̄-thang huân-ló guá
因為阮知影 無行過寒冬In-uī gún tsai-iánn, bô kiânn kuè hân-tang
袂有花開的彼一工Buē ū hue khui ê hit tsi̍t kang

天色漸漸光Thinn-sik tsiām-tsiām kng
天色漸漸光Thinn-sik tsiām-tsiām kng
已經是更加勇敢的人Í-king sī kīng-ka ióng-kám ê lâng

天色漸漸光Thinn-sik tsiām-tsiām kng
咱就大聲來唱著歌Lán tiō tuā-siann lâi tshiūnn tio̍h kua
一直到希望的光線I̍t-tit kàu hi-bāng ê kng-suànn
照著島嶼每一個人Tshiò tio̍h tó-sû muí tsi̍t ê lâng

天色漸漸光Thinn-sik tsiām-tsiām kng
咱就大聲來唱著歌Lán tiō tuā-siann lâi tshiūnn tio̍h kua
日頭一(足百)上山Ji̍t-thâu tsi̍t peh tsiūnn suann
就會使轉去啦Tiō ē-sái tńg–khì ah

現在是彼一工Hiān-tsāi sī hit tsi̍t kang
勇敢的台灣人Ióng-kám ê Tâi-uân-lâng


Liebe Mutter,
bitte nimm keinen Anstoss an mir.
Vergib mir, ich kann hier jetzt nicht weg,
Ich will gegen diejenigen kämpfen, denen nicht vergeben werden kann.

Die Mächte des Bösen. Meine Liebe, 
ich kann Dich nicht ins Kino begleiten. 
Vergib mir, ich kann hier jetzt nicht weg.
Ich will gegen diejenigen kämpfen, die uns schikanieren und ausbluten lassen.

Die Dämmerung ist nahe.
Hier gehen einige Menschen auf die Barrikaden,
um unseren gemeinsamen Traum zu verwirklichen
und haben sich deshalb geschworen, noch mutiger zu sein als zuvor.

Die Dämmerung ist nahe.
Die Furcht hat sich bereits gelegt.
Heute ist der Tag, an dem mir für einmal die Rolle zufällt,
Dich zu beschützen.

Die Tage erscheinen längst uferlos. 
Bitte nimm keinen Anstoss an mir,
denn wenn der harscheste Winter kommt
ist der Tag nicht mehr fern, an dem sich die Frühlingsblüten öffnen.

Die Dämmerung ist nahe.
Die Dämmerung ist nahe.
Wir sind bereits mutigere Menschen.

Die Dämmerung ist nahe.
Lasst uns dieses Lied mit lauter Stimme singen,
bis das Licht der Hoffnung 
über allen Menschen der Insel aufgeht.

Lasst uns dieses Lied mit lauter Stimme singen,
Wenn der erste Sonnenstrahl den Berggipfel erreicht, 
ist die Zeit gekommen, nach Hause zu gehen.

Heute ist der Tag gekommen,
ein mutiger Taiwaner zu sein.

Quelle: https://kuasu.tgb.org.tw/song/1/, Text: 楊大正, Übersetzung aus dem Taiwanesischen: Maja Blumer

Die Sonnenblumenrevolution hat allerdings auch einen geopolitischen Aspekt. Zunächst hatte sie Einfluss auf den Niedergang der 2014 vorherrschenden Partei Kuomintang (KMT) und den Aufstieg der heutigen Regierung der Democratic People’s Party (DPP) unter Präsidentin Tsai Ing-wen. Die chinesische Regierung macht sich zur Zeit recht viel Mühe, Tsai Ing-wen als Erzfeindin hochzustilisieren und versuchte kürzlich, die amerikanische Seite davon abzuhalten, die taiwanesische Präsidentin, die zusammen mit einem Teil ihres Kabinetts in den USA Zwischenhalt machte, zu empfangen. Mit nicht gerade durchschlagendem Erfolg, sieht man einmal von der komischen Seite ab:

Der Komiker LeLe Farley nimmt die von der chinesischen Seite organisierten Proteste gegen den Besuch von Präsidentin Tsai Ing-wen auf die Schippe.

Spass beiseite. Die Versuche der chinesischen Regierung scheinen je länger je mehr kontraproduktiv zu sein. Während die amerikanische Regierung beim letzten Besuch eines amtierenden taiwanesischen Präsidenten, Lee Teng-hui (er war von 1988 bis 2000 an der Spitze der taiwanesischen Regierung und der erste direkt gewählte taiwanesische Präsident) in den USA noch zögerte, ihm 1995 ein Visum zu erteilen, damit er an seiner Alma Mater, der Cornell University, an einem Treffen teilnehmen konnte, war eine Visaverweigerung beim Zwischenhalt von Tsai Ing-wen kein Thema mehr. Nachdem sich die Vizepräsidenten William Lai Ching-te und Kamala Harris bereits rein zufällig getroffen haben, fehlt eigentlich nur noch ein Treffen zwischen den Präsidenten Tsai und Biden. Diese «rote Linie» haben die beiden Seiten zwar noch nicht überschritten, abgesehen davon scheinen die Einschüchterungsversuche der chinesischen Regierung in letzter Zeit vor allem zu bewirken, dass die Republikaner und Demokraten einen Wettkampf darin liefern, der taiwanesischen Seite einen möglichst warmherzigen Empfang zu bieten.

Seit der Sonnenblumenrevolution ist es auch in Taiwan je länger je weniger wahrscheinlich, dass sich die taiwanesischen Bevölkerung dem Diktat eines totalitären Staates unterwirft, auch wenn die Strafmassnahmen schmerzen und in einer Demokratie naturgemäss verschiedene Auffassungen bestehen, wie mit China umzugehen sei und ob die Sonnenblumen-Revolutionäre richtig gehandelt haben oder nicht.

Die Sonnenblumen-Revolutionäre wollten 2014 weder auf ihre besorgten Mamas (oder den besorgten damaligen Präsidenten Ma) hören und auch nicht den Wünschen ihrer hedonistischen Freunde, die lieber ins Kino gehen wollten, hören. Es ist unwahrscheinlich, dass sie und all diejenigen, die sie damals unterstützten, heute plötzlich eine Kehrtwende machen und nun plötzlich auf den (ehemaligen) Präsidenten Ma hören, oder auch auf den (noch) französischen Präsidenten Ma(cron). 

Die Ironie der Geschichte ist, dass beide Ma’s mit ihrem Kotau in China letzte Woche eine ziemliche Bruchlandung erlitten, während Tsai Ing-wen in den USA ihre Zwischenlandungen machte:

Der Vorgänger von Tsai Ing-wen, Ma Ying-jeou versuchte auf einer 12-tägigen Reise (vom 27. März 2023 bis zum 7. April 2023) die Beziehungen zum chinesischen Festland zu kitten. Ein Mitglied der Entourage von Ma, Bruce Liao (seines Zeichens Assistenzprofessor für Verfassungsrecht an der National Chengchi University) erregte wohl am meisten Aufsehen. Er veröffentlichte auf Facebook ein Bild von sich, wie er in Shanghai zur Konterattacke gegen das chinesische Festland, symbolisiert durch ein chinesisches Polizeifahrzeug, schreitet; seine «Entschuldigung» wegen seines kindischen Verhaltens und der dadurch verletzten Gefühle der chinesischen Bevölkerung ist wohl eher als Satire zu qualifizieren – die Allusion auf den Song «Fragile» Namewee ist unübersehbar.

Weniger lustig fanden einige das Interview bei Politico bzw. Les Echo, welches Präsident Macron auf seiner Heimreise aus China, wo er vom 5. bis 8. April einen Staatsbesuch absolviert hatte, gab. Darin warf er den USA indirekt vor, den Konflikt zwischen Taiwan und China anzuheizen und gab zu verstehen, das Problem sei eigentlich nicht China sondern die USA, deren Verhalten zu einer «Überreaktion» verleite, und indem er versuchte Verständnis für die chinesische Sicht zu wecken, das sich ja auch Sorgen um seine Einheit mit Taiwan mache (Wörtlich: «Les Chinois aussi sont préoccupés par leur unité et Taïwan, de leur point de vue, en est une composante. Il est important de comprendre comment ils raisonnent.»). Kein Wort dazu, dass es bezüglich dieses Konflikts noch andere Sichtweisen gäbe. Kein Wort dazu, was es für Europa bedeutet, wenn Xi Jinping seine Drohung, Taiwan gewaltsam zu annektieren, wahr macht.

Das Interview Macrons löste einen ziemlich heftigen Proteststurm aus. Die Inter-Parlamentary Alliance on China (IPAC) warfen Macron in einem offenen Brief, der von Dutzenden Parlamentariern in Europa, Australien und Neuseeland unterzeichnet wurde (einschliesslich von Nationalrat Molina) Geschichtsvergessenheit vor:

IPAC STATEMENT ON THE REMARKS OF PRESIDENT MACRON REGARDING TAIWAN

Posted on 11 April 2023

We the Inter-Parliamentary Alliance on China (IPAC) were dismayed to learn of President of France’s remarks made aboard COTAM Unité on 9th April, specifically his contention that Europe should avoid being “caught up in conflicts which are not ours” – a clear reference to escalating tensions across the Taiwan Strait.

With Beijing ramping up military exercises in the South China Sea, and showing continuing support for Russian aggression in Ukraine, this is the worst possible moment to send a signal of indifference over Taiwan. President Macron’s ill-judged remarks not only disregard the vital place of Taiwan in the global economy, but undermine the decades-long commitment of the international community to maintaining peace across the Taiwan Strait. History is a harsh judge of past efforts to appease authoritarians. Unfortunately the President shows little sign of having learned the lessons of the past.

It should be emphasised that the President’s words are severely out of step with the feeling across Europe’s legislatures and beyond. The thirty legislatures in the IPAC network are united in the unshakable belief that any unilateral attempt to change the status quo must be resisted, and the democratic voice of the Taiwanese people must be respected.

Monsieur le Président, you do not speak for Europe. IPAC will work to ensure that your remarks serve as a wake-up call to democratic governments to do everything possible to ensure that Beijing’s aggressive stance towards Taiwan receives the hostile reception it deserves from the international community.

Einer der Unterzeichner, Sir Ian Duncan Smith ging noch einem Interview noch weiter. Als Grund dafür, weshalb Macron Xi Jinping quasi grünes Licht für sein zunehmend aggressives Verhalten gegenüber Taiwan gab, ortete der britische Parlamentarier primär Egoismus.

Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der französische Parlament bewusst auf Konfrontationskurs mit den Parlamentariern in seinem eigenen Land wie auch mit den USA ging, um einerseits von den wegen der Rentenreform aufgebrachten Franzosen abzulenken, andererseits vom Besuch einer französischen Parlamentarierdelegation in Taiwan, welche am kommenden Sonntag (16. April 2023) erwartet wird. 

In der Debatte um das Interview mit Macron bzw. das, was nach der Zensur (laut Politico wurden einige «ehrlichere» Aussagen nachträglich gestrichen) davon übrig blieb, ging allerdings ein wichtiger Aspekt vergessen. Macron sagte angeblich Folgendes (Hervorhebungen durch die Autorin):

La question qui nous est posée à nous Européens est la suivante : avons-nous intérêt à une accélération sur le sujet de Taïwan ? Non. La pire des choses serait de penser que nous, Européens, devrions être suivistes sur ce sujet et nous adapter au rythme américain et à une surréaction chinoise. Pourquoi devrions-nous aller au rythme choisi par les autres ? A un moment donné, nous devons nous poser la question de notre intérêt. Quel est le rythme auquel la Chine elle-même veut aller ? Veut-elle avoir une approche offensive et agressive ? Le risque est celui d’une stratégie autoréalisatrice du numéro un et du numéro deux sur ce sujet. Nous Européens, nous devons nous réveiller. Notre priorité n’est pas de nous adapter à l’agenda des autres dans toutes les régions du monde.

Le piège pour l’Europe serait qu’au moment où elle parvient à une clarification de sa position stratégique, où elle est plus autonome stratégiquement qu’avant le Covid, elle soit prise dans un dérèglement du monde et des crises qui ne seraient pas les nôtres. S’il y a une accélération de l’embrasement du duopole, nous n’aurons pas le temps ni les moyens de financer notre autonomie stratégique et deviendrons des vassaux alors que nous pouvons être le troisième pôle si nous avons quelques années pour le bâtir.

Macron wünscht sich mit anderen Worten – wie viele andere – nichts anderes, dass China und die USA so lange stillhalten, bis er das wahrgenommene Duopol China-USA zu einem Triopol ausgebaut hat. Dass die bewährte strategische Zwiespältigkeit aufrecht erhalten wird, bis Europa (oder Frankreich?) zu alter Grösse zurückgefunden hat. Dass man Geschäfte mit beiden Seiten hinter verschlossener Tür macht, während man vordergründig daran festhält, dass es nur ein China gibt und man sich in diesem «internen» Konflikt «neutral» verhalten will. Dabei blendet man die Tatsache lieber aus, dass Taiwan vielleicht mit Europa enger verflochten ist als die Ukraine.

Wenn Macron gehofft hat, Xi Jinping würde sich durch seinen Kotau davon abhalten lassen, in Taiwan die Muskeln spielen zu lassen, hat er sich geirrt. Kaum hatte der Flieger des französischen Präsidenten abgehoben, liess der chinesische Oberbefehlshaber in der Taiwanstrasse seine Muskeln spielen. Das war nicht eine Überreaktion auf ein «Fehlverhalten» der USA, sondern folgt einem bewährten Muster, wie auch die grösseren chinesischen «Militäroperationen» (der Koreakrieg 1950 bis 1953, der Grenzkonflikt mit Indien während der Kubakrise 1962 und der missratene Angriff auf Vietnam 1979) einer gewissen Logik folgten. Auch der bereits erwähnte Besuch des taiwanesischen Präsidenten bei seiner Alma in den USA wurde 1995/1996 mit Militärmanövern quittiert – immerhin liess man damals, 1995, von chinesischer Seite durchsickern, dass man nicht mit scharfer Munition schiessen würde. Ob die Militärmanöver dieses Mal nach drei Tagen beendet werden und keine scharfen Schüsse fallen, kann man nur hoffen.

Vielleicht kann man Macron zugutehalten, dass er mit seinem Kotau in China sein Bestes versucht hat, um zu verhindern, dass die Sache immer schneller aus dem Ruder läuft. Nur dürfte er einen Punkt übersehen haben: Das Tempo wird nicht nur von den USA vorgegeben, auch nicht nur von China, und erst recht nicht von ihm selbst. Sondern auch, und vor allem, von den Taiwanern. Von mutigeren und weniger mutigen Taiwanern, von jüngeren und älteren Taiwanern, von China-affinen und US-affinen Taiwanern, von Idealisten und Geschäftsleuten. Und auch von den Sonnenscheinrevolutionären. 

Anders als für die Chinesen, die Franzosen oder die Amerikaner geht es nicht um irgendeinen fernen Konflikt, den die Angehörigen dieser Länder nicht einen Deut interessiert. Für die Taiwaner geht es ums Überleben: das Überleben der taiwanesischen Demokratie und des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Systems, dass sie sich über Jahrzehnte aufgebaut haben. Der Kampf für die Freiheit kann nicht auf den St. Nimmerleinstag verschoben werden, wer wie Macron glaubt, in «quelques années» sei es leichter, hat bereits verloren.

Die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen rief bei ihrem Zwischenhalt in der Ronald Reagan Library in Kalifornien ein Zitat von Präsident Reagan in Erinnerung:

“Freedom is never more than one generation away from extinction. It must be fought for and defended constantly by each generation.”

Es gibt keinen idealen Zeitpunkt um zu handeln. Die Sonnenblumen-Revolutionäre wären auch lieber ins Kino gegangen oder hätten sich auf ihre Vorlesungen konzentriert. Aber sie haben im März und April vor neun Jahren das Risiko auf sich genommen und sind für das eingestanden, was sie wichtig hielten. Ob mit langfristigem Erfolg, wird die Zeit weisen.

Die Ronald Reagan Library wurde nach dem Besuch von Präsidentin Tsai wie viele andere Personen und Institutionen auch auf die Sanktionsliste Chinas gesetzt. Was würde Präsident Reagan, der China 1984 als dritter amerikanischer Präsident nach Nixon (1972) und Ford (1975) einen Taiwanbesuch abstattete und bezüglich der Lösung der Taiwanfrage ebenfalls auf Granit biss? Vielleicht das, was einer der Sanktionierten, der stellvertretende Generalsekretär der taiwanesischen DPP dazu sagte:

“I think that in this era, being sanctioned by an authoritarian regime should be a decoration for members of the free world, and it is very glorious.”


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua) hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und in Taiwan studiert. Sie ist als Rechtsanwältin tätig.

Aus dem Lied Morgenlicht über der Insel:
Wenn der harscheste Winter kommt
ist der Tag nicht mehr fern, an dem sich die Frühlingsblüten öffnen.
Wenn der erste Sonnenstrahl den Berggipfel erreicht, 
ist die Zeit gekommen, nach Hause zu gehen.
Bild: Kirschblüten auf dem Yangmingshan – wörtlich des «Bergs des Sonnenlichts»– bei Taipei (Bild: privat).