Auch wenn nicht bekanntgegeben wurde, um was für Objekte bei den zwei weiteren UFOs es sich genau handelte, woher sie kamen und welche Zwecke damit verfolgt wurden, kann man einmal davon ausgehen, dass die USA ihre F-22 nicht dreimal hintereinander aufsteigen lassen, um ein heiteres Ballonschiessen zu veranstalten, sondern dass die USA und Kanada ihre Souveränität durch die drei Objekte in ernsthafter Weise gefährdet sahen. Schon beim ersten Mal war es daher falsch und gefährlich, von einer «Posse» zu sprechen.
“Mr Bond, they have a saying in Chicago: ‘Once is happenstance. Twice is coincidence. The third time it’s enemy action’.”
Nur gibt es bei dieser Theorie der «Enemy Action» ein Problem. Wir wissen, dass das erste Flugobjekt aus China kam, bei den weiteren zwei Objekten noch nicht mal das. Wenn wir es mit «Enemy Action» zu tun haben, wäre es schon nützlich, zu wissen, wer denn genau der Feind ist. Die naheliegendste Methode wäre, schnell in China anzurufen und zu fragen, wohin man die Rechnung für den Abschuss der drei Objekte schicken soll – und zu verhindern, dass die Dinge eskalieren. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin tat genau dies:
David Martin, CBS News: Did you try to your Chinese counterpart? Lloyd Austin: I did, I called him or I put in a request for a call, and they did not accept that request.
Es ist aber schlicht und einfach möglich, dass man auf der chinesischen Seite nicht wusste, was man sagen sollte. Die Amerikaner dürften jedenfalls bezüglich des ersten «Ballons» eine ziemlich genaue Vorstellung haben, was sie genau abgeschossen haben. Es ist aber durchaus denkbar, dass die chinesische Regierung, oder genauer Xi Jinping, die Kontrolle darüber verloren hat, was seine Mitarbeiter genau über den amerikanischen Kontinent losgeschickt haben.
Die westliche Wahrnehmung, dass Xi Jinping ein allmächtiger Führer ist, der nach seiner «Wahl» im Oktober seine Machtbasis noch ausgeweitet hat, könnte täuschen. Davon, dass hinter den Kulissen heftige Machtkämpfe toben und sich die Frage stellt, ob Xi Jinping das «Mandat des Himmels» verloren hat, war hier schon mehrfach die Rede. Es ist durchaus die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Xi Jinpings Gegner dessen diplomatischen Avancen zu torpedieren suchen, indem sie Flugobjekte in Serie Richtung amerikanischen Kontinent loslassen. Es wäre nicht das erste Mal – schon im November ging der erste grosse Auftritt von Xi Jinping gründlich in die Hose.
Immer häufiger ist von einem bewaffneten Konflikt zwischen Taiwan und China die Rede, in den wahrscheinlich die USA und weitere Länder hineingezogen würde. Der amerikanische General Minihan machte etwa kürzlich Schlagzeilen, indem er erklärte, sein Bauchgefühl sage ihm, die USA könnten schon bis 2025 in einen Krieg mit China verwickelt werden. Er begründete dies damit, dass sowohl die USA als auch Taiwan durch die Präsidentenwahlen abgelenkt würden – der neue taiwanesische Präsident soll im Mai 2024 sein Amt antreten, im November 2024 finden dann die amerikanischen Präsidentenwahlen statt.
Das Problem bei dieser und anderen Vorhersagen, dass Bauchgefühle etwa so verlässlich sind wie die Gegenüberstellung der Zahlen von Truppenstärken und rationalen Argumenten gegen den Krieg. Das Magazin «The Diplomat» brachte es kürzlich auf sage und schreibe 10 gute Gründe, weshalb Xi Jinping nicht so schnell angreifen werde (https://thediplomat.com/2023/01/10-reasons-xi-wont-attack-taiwan-anytime-soon/).
Beides, eine selbsterfüllende Prophezeiung, dann und dann werde es zum Krieg kommen, wie auch das Zerstreuen von Befürchtungen hinsichtlich eines Krieges scheint mir gefährlich. Unter dem Strich sind Kriege immer ein riesiges Verlustgeschäft, nur kümmern diese Verluste diejenigen, die Glauben, einen Profit aus einem Krieg zu ziehen, herzlich wenig.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass auch der Koreakrieg 1950 in einer Phase ausgebrochen ist, als sich die ganze Welt scheinbar nichts mehr wünschte, als Frieden. Und auch Mao und Stalin vorgaben, es gebe keinen Grund für einen Krieg. So sollen sie bei einem ihrer ersten Treffen am 16. Dezember 1949 in Moskau folgende Konversation geführt haben:
Comrade Mao Zedong: The most important question at the present time is the question of establishing peace. China needs a period of 3-5 years of peace, which would be used to bring the economy back to pre-war levels and to stabilize the country in general. Decisions on the most important questions in China hinge on the prospects for a peaceful future. With this in mind the CC CPC [Central Committee of the Communist Party of China] entrusted me to ascertain from you, comr[ade]. Stalin, in what way and for how long will international peace be preserved.
Comrade Stalin: In China a war for peace, as it were, is taking place. The question of peace greatly preoccupies the Soviet Union as well, though we have already had peace for the past four years. With regards to China, there is no immediate threat at the present time: Japan has yet to stand up on its feet and is thus not ready for war; America, though it screams war, is actually afraid of war more than anything; Europe is afraid of war; in essence, there is no one to fight with China, not unless Kim Il Sung decides to invade China?
Peace will depend on our efforts. If we continue to be friendly, peace can last not only 5-10 years, but 20-25 years and perhaps even longer.
Kim Il Sung hat zwar China soweit ersichtlich nicht angegriffen. Stattdessen standen Mao’s «Freiwillige» wenige Monate später an der Seite der nordkoreanischen Truppen und kämpften gegen die Alliierten.
Gewisse Parallelen zur heutigen Situation sind unverkennbar. Damals schien es Mao, der als starker Mann die China (mit der Ausnahme von Formosa und Hong Kong) unangefochten regierte; heute ist es Xi Jinping, der China (mit der Ausnahme von Formosa) scheinbar unangefochten regiert. Damals schien China nach dem Bürgerkrieg nichts mehr zu brauchen, als ein paar Jahre Frieden, um wirtschaftlich auf die Beine zu kommen. Heute scheint China nichts mehr als ein paar Jahre Frieden zu brauchen, um sich von den Folgen des Kriegs gegen Covid zu erholen und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Eine der grössten Säuberungsaktionen Mao’s gegen «Konterrevolutionäre» innerhalb und ausserhalb der kommunistischen Partei begann 1950 (und soll bis 2 Millionen Tote gefordert haben). Zwei weitere grosse Säuberungskampagnen begann 2009 unter Xi Jinping, einerseits das «6521 Project» gegen Dissidenten aller Art und dann ab 2012 die Antikorruptions-Kampagne innerhalb der Partei.
Eine mögliche Erklärung für den Koreakrieg, in dem sowohl die Sowjetunion als auch China involviert waren, könnte sein, dass die internen Säuberungsaktionen für Stalin und Mao nicht genug Sicherheit für ihren Machterhalt boten, und sie auf einen äusseren Feind angewiesen waren.
Sicher ist nur eins: Auf die chinesische Rhetorik bezüglich win-win-Situation, friedlicher Koexistenz, Wetterballonen etc. ist genau so wenig Verlass wie auf die Einstufung des Schweizer Fernsehens des Abschusses des chinesischen Luftschiffs als «Ballon-Posse».
Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua), hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China sowie in Taiwan studiert. Sie ist als Rechtsanwältin tätig.
Identifizierte Flugobjekte der Schweizer Luftwaffe über dem Zürichsee. (Bild: privat)