Ein Fall für Zhao Lijian: Hurra! Wir haben eine Force Majeure!

Kurz vor dem Besuch von US-Staatssekretär Blinken wurde bekannt, dass über den USA ein chinesischer Ballon schwebt. Was momentan sicher ist, ist dass es kein Kinderballon ist. Und eigentlich überhaupt kein Ballon, sondern ein «unbemanntes Luftschiff» zu «Forschungszwecken», wie es von offizieller chinesischer Seite heisst. China habe die Kontrolle über das Luftschiff verloren und dieses sei unerwartet nach Montana gedriftet. Schuld daran sind die völlig unerwarteten Winde, welche als «Westerlies» (Westwinddrift) bekannt sind. Ein typischer Fall von «Force Majeure», so das chinesische Aussenministerium. Staatssekretär Blinken hat den Besuch in China vorerst einmal «verschoben», wie das Aussenministerium am Samstagmorgen, 4. Februar mitteilte.

von Maja Blumer, 4. Februar 2023

Nur um eines klarzustellen, ich habe keine Ahnung von Ballonen und Luftschiffen und was man damit zu «Forschungszwecken» alles anstellen kann. Postsendungen über die feindlichen Linien bringen oder Bomben abwerfen, wie man es schon im 19. Jahrhundert gemacht hat? Einen elektromagnetischen Impuls (EMP) auslösen, eine «kurzzeitige breitbandige elektromagnetische Strahlung, die bei einem einmaligen, hochenergetischen Ausgleichsvorgang abgegeben wird»?

Als Juristin habe ich ein klein wenig mehr Ahnung, was den Begriff «Force Majeure» (höhere Gewalt) angeht. Diese wird im Vertragsrecht oft angerufen, selten mit Erfolg. Ich verweise diesbezüglich auf die Habilitationsschrift meines ehemaligen Büronachbarn Prof. Christoph Brunner. Schon jetzt lässt sich sagen, so sehr man in China es liebt, den Begriff Force Majeure anzurufen, in diesem Fall haben wir es damit mit Sicherheit nicht damit zu tun.

Und als Seglerin habe ich mit dem Wind, der entweder zu schwach, zu stark, jedenfalls aber fast immer in die falsche Richtung bläst, in den letzten knapp fünfzig Jahren auch so die eine oder andere leidige Erfahrung gemacht. Da hilft auch das Monumentalwerk «Météo Stratégie – croisière et course au large» von Jean-Yves Bernot, das seit Jahr und Tag in der Achterkabine liegt, leider nicht weiter. Im vorliegenden Fall ist aber auch der Wind, genauer die «Westerlies» nicht Schuld am verirrten Ballon. Internationales See- und Luftrecht allerdings eher. Mit den für Schiffe geltenden Grenzen, die für See- und Luftschiffe gleichermassen gelten, ist nicht zu spassen. Diese sind wesentlich beständiger als der Wind. Ausreden wie: «ich habe nicht gewusst, wo die Grenze verläuft» oder: «ich bin abgedriftet», werden von der Küstenwache nicht unbedingt akzeptiert.

Aber wenden wir uns erst einmal der Medienmitteilung des chinesischen Aussenministerium zu, in dem sich die chinesische Seite für Debakel um den Ballon zu rechtfertigen versucht. Am Samstag, 4. Februar 2022, 10:21 (Ortszeit Beijing) veröffentlichte das chinesische Aussenministerium folgendes Statement (Übersetzung und Hervorhebungen durch die Autorin):

F: Am 3. Februar erklärten hochrangige Beamte des US-Aussenministeriums in einer Telefonkonferenz, dass US-Aussenminister Blinken aufgrund des Eindringens eines unbemannten chinesischen Luftschiffs in den US-Luftraum beschlossen habe, seine geplante Reise nach China zu verschieben. Haben Sie dazu einen Kommentar?

A: Was das unbeabsichtigte Eindringen eines chinesischen unbemannten Luftschiffs in den US-Luftraum aufgrund Force Majeure (höhere Gewalt) betrifft, so hat die chinesische Seite dies überprüft und der US-Seite mitgeteilt, es handelt sich um ein ziviles Luftschiff, das für Forschungszwecke, hauptsächlich für meteorologische Zwecke, eingesetzt wird. Unter dem Einfluss der Westwinddrift bzw. aufgrund seiner begrenzten Selbststeuerungsfähigkeit kam das Luftschiff weit von seinem geplanten Kurs ab. Dies ist eine völlig unerwartete Situation, die durch Force Majeure (höhere Gewalt) verursacht wurde, und die Fakten sind eindeutig. China handelt stets in strikter Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und respektiert die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder. Wir haben nicht die Absicht, das Hoheitsgebiet oder den Luftraum eines souveränen Landes zu verletzen, und haben dies auch nie getan. Einige Politiker und Medien in den USA haben den Vorfall aufgebauscht, um China anzugreifen und zu verleumden. Die chinesische Seite lehnt dies entschieden ab.

Die Aufrechterhaltung des Kontakts und der Kommunikation auf allen Ebenen ist eine wichtige gemeinsame Vereinbarung, die der chinesische und der amerikanische Präsident bei ihrem Treffen auf Bali getroffen haben. Eine der Aufgaben der diplomatischen Teams beider Seiten besteht darin, die bilateralen Beziehungen ordnungsgemäss zu verwalten und insbesondere unerwartete Situationen mit kühlem Kopf und Umsicht zu meistern. In der Tat hat keine der beiden Seiten jemals einen Besuch angekündigt. Es ist Sache der USA, ihre letzte Ankündigung zu machen, und wir respektieren das.

Dazu kann man, jedenfalls aus Juristen- und Seglersicht unter Verweis auf die obenstehende Literatur kurz und knapp und auf Englisch ausgedrückt nur sagen: «Complete BS».

Bemerkenswert ist eigentlich nur die psychologische Strategie der Wolf Warriors, zu der wieder einmal gegriffen wird, derjenige der Projektion: Es ist nicht China, das ein Luftschiff über den USA kreisen lässt, das die Volksrepublik China entweder nicht kontrollieren kann oder will. Das Problem sind die «Politiker und Medien», die die Sache aufbauschen, um China anzugreifen und zu verleumden. Und es ist Staatssekretär Blinken, der sich nicht an die Vereinbarung zwischen den Führern gehalten hat, indem er das Treffen abgesagt hat, auf der chinesischen Seite wäscht man sich die Hände in Unschuld, da man den Besuch noch nicht angekündigt hat (notabene gehört es zu den diplomatischen Gepflogenheiten, den Besuch eines Gastes einige Tage im Voraus anzukündigen, so beispielsweise auch der Besuch von Schweizer Parlamentariern in Taiwan am vergangenen Donnerstag vom taiwanesischen Aussenministerium angekündigt wurde).

Auf der anderen Seite des Pazifiks nahm man die Sache keinesfalls auf die leichte Schulter. Staatssekretär Blinken wählte im Rahmen einer Pressekonferenz zusammen mit dem südkoreanischen Aussenminister deutliche Worte zum Vorfall um das Luftschiff (deutsche Übersetzung und Hervorhebungen durch die Autorin):

Im Lichte des inakzeptablen Verhaltens Chinas verschiebe ich meine für dieses Wochenende geplante Reise nach China. Wie sie wissen, haben die Präsidenten Xi und Biden bei ihrem Treffen in Bali im November vereinbart, dass ich nach Beijing reisen würde, um die Diskussionen weiterzuführen. Wir waren quer durch die gesamte Verwaltung damit beschäftigt, die Vorbereitung zu treffen, um gehaltvolle Gespräche über bezüglich für das amerikanische Volk und auf der ganzen Welt wichtige Anliegen zu führen. [… ]

Gestern wurde gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass wir einen Spionageballon entdeckt haben und verfolgen, der über dem Territorium der USA verharrt. Wir verfolgen den Ballon weiterhin eng. Wir sind uns sicher, dass es sich um einen chinesischen Spionageballon handelt.

Sobald der Ballon entdeckt wurde, handelte die US-Regierung, um sich gegen das Sammeln sensitiver Daten zu schützen und kommunizierten das Problem direkt mit der Regierung der Volksrepublik China via diverse Kanäle.

Die Mitglieder meines Teams führte Gespräche mit unseren Partnern und anderen Institutionen sowie dem Kongress. Wir traten in Kontakt mit unseren engen Alliierten und Partnern um sie über die Anwesenheit eines Spionageballons in unserem Luftraum zu informieren.

Wir sind zum Schluss gekommen, dass die Ausgangslage für einen konstruktiven Besuch [in China] zur Zeit nicht günstig ist.

In meinem Gespräch heute mit Minister Wang Yi stellte ich klar, dass dieser Spionageballon im US-Luftraum eine eindeutige Verletzung der Souveränität der USA und des Völkerrechts ist; dass es eine unverantwortliche Handlungsweise ist und dass die Entscheidung der Volksrepublik China, kurz vor meinem geplanten Besuch so zu handeln, den geplanten vertieften Diskussionen abträglich sind.

Interessant erscheinen mir neben der deutlichen Ablehnung der Idee eines zufälligen Handelns und den Beteuerungen, es handle sich nicht um die Verletzung von Völkerrecht drei Dinge: Erstens der Kontext der Worte Blinkens, zweitens die Frage des «wie weiter» und drittens die Frage des Timings.

Dass Blinken sein Statement in Anwesenheit des südkoreanischen Amtskollegen hielt, mit dem er gerade ein Abkommen zur Vertiefung der technologischen (sprich: auch militärischen) Zusammenarbeit unterzeichnet hatte, spricht Bände. Immerhin steht Südkorea immer noch im latenten Krieg mit Nordkorea (es besteht nur ein Waffenstillstand), an dem die Volksrepublik China auf nordkoreanischer Seite involviert war und ist, scheint mir ein Wink mit dem Zaunpfahl zu sein. Wenn China statt Gesprächen eine militärische Eskalation anstrebt, können die USA mit ihren Allianzpartnern dasselbe tun..

Zweitens steht die Frage im Raum: wie weiter? In den Worten von Blinken klang etwas vom «Bündnisfall» an, in den die engen Allianzpartner (die anderen Nato-Mitglieder, AUKUS und Japan und Südkorea) involviert wären. Lässt sich das Problem lösen, indem das angeblich nicht kontrollierbare Luftschiff einfach zum mehr oder weniger kontrollierten Absturz gebracht wird? Hat man wenigstens unter Kontrolle, was an Bord ist? Oder wartet man, bis die «Easterlies» den Ballon auf wundersame Weise wieder nach China zurückbringen? Oder vielleicht die «Eastern Lies»?

Und dann das Timing. Die Xi-plomacy in Bali wurde eine verirrte russische Rakete gestört, welche die Ukrainer angeblich nicht im Griff hatten. Nun wird das Xi-plomatische Treffen von Blinken mit seinem Amtskollegen in Beijing durch einen verirrten chinesischen Ballon torpediert, den China angeblich nicht im Griff hat. Langsam scheint China die Kontrolle über seine Aussenpolitik zu verlieren.

Sollte der Wolf Warrior Zhao Lijian wieder als Retter in der Not herbeizitiert werden? Er soll doch jetzt im «Department of Boundary and Ocean Affairs» im chinesischen Aussenministerium arbeiten, vielleicht weiss er Rat im Umgang mit den unberechenbaren «Westerlies».

Nachtrag vom 5. Januar 2022

Der Ballon wurde wenige Stunden nach der Veröffentlichung dieses Beitrags von der amerikanischen Luftwaffe über der Atlantikküste abgeschossen und die Küstenwache ist daran, die Ladung des Luftschiffs zu analysieren. Fest steht momentan, dass der Ballon, den China angeblich nicht kontrollieren konnte, nun halt von den Amerikanern kontrolliert wurde. Beide Seiten sind sich einig, dass Völkerrecht verletzt wurde. Ob durch das von chinesischer Seite verursachte Eindringen des Ballons in den amerikanischen Luftraum und dessen Ladung oder den Abschuss wird noch zu klären sein.


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua), hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und in Taiwan studiert. Sie ist als Rechtsanwältin tätig.

Wind und Grenzen im Griff. Segler im Öresund. (Bild: privat)