«Houston…ähm Bern: Wir haben ein Problem!»

Es ist noch kaum zehn Jahre her, seit das Freihandelsabkommen mit Hong Kong in Kraft trat und dasjenige mit der Volksrepublik China als Exploit der Schweizer Diplomatie gefeiert wurde. Freiandelsabkommen als Win-Win-Strategie? Beileibe nicht. Für die Schweiz bringt die Aussenhandelsbilanz für das Jahr 2022 die brutale Wahrheit an den Tag: Erstmals wies die Schweiz gegenüber der Volksrepublik China auch dann ein Handelsbilanzdefizit aus, wenn man Hong Kong hinzurechnet. Das Minus beträgt CHF 1’319’804’739. Derweil schrumpfte der traditionelle Handelsbilanzüberschuss gegenüber Taiwan auf gerade noch einmalmal CHF 343’641’307. Ein Versagen der Handelspolitik, für das man ausnahmsweise weder den Amerikanern noch den Chinesen die Schuld in die Schuhe schieben kann.

von Maja Blumer, 29. Januar 2023

Die erschreckenden Zahlen der Schweizer Aussenhandelsbilanz zu Hong Kong, China und Taiwan sind erschreckend. Noch erschreckender ist, dass in der Schweizer Politik, der Schweizer Wirtschaft und erst recht in den Schweizer Presse scheinbar kein Hahn danach schreit.

Ist die Entwicklung der Schweizer Aussenhandelsbilanz mit der Volksrepublik China inklusive Hong Kong beziehungsweise Taiwan ein Problem? Ich würde sagen, ja. Vorab sind einige Details aus der Statistik des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit wichtig:

  • Das Handelsbilanzdefizit mit der Volksrepublik China allein (ohne Hong Kong) betrug 2022 rekordhohe CHF 4’466’098’515; Importen aus China von CHF 20’365’697’084 (+13,5% gegenüber dem Vorjahr) standen Schweizer Exporte von CHF 15’899’598’569 (+2,1%) gegenüber.
  • Die Abhängigkeit von Importen aus der Volksrepublik China stieg in den letzten Jahren enorm an. 9,1% der Gesamtimporte der Schweiz stammten 2022 aus China oder Hong Kong. 2012 waren es noch 6,6%.
  • Freihandelsabkommen hin oder her, als Absatzmärkte spielen China und Hong Kong mit 7,21% Anteil am Gesamthandel eine untergeordnete Rolle. Das war schon 2012 so, als der Anteil der Exporte nach China und Hong Kong 7,17% der Gesamtexporte ausmachten. Zwischen 2012 und 2022 war das Exportwachstum nach China/Hong Kong verglichen mit dem Gesamtexportwachstum exakt durchschnittlich (38,9% vs. 39,4%).
  • Hong Kong hat als Handelsplatz massiv an Bedeutung verloren. Betrug das bilaterale Handelsvolumen (d.h. Importe und Exporte) vor dem Inkrafttretens des Freihandelsabkommens 2012 CHF 8’361’275’786, schrumpfte dieses bis 2022 um fast 40% auf gerade mal noch CHF 5’219’271’814. Was immer der Erfolg des Freihandelsabkommens mit Hong Kong 2012 hätte sein können, er wurde im Folgejahr 2013 durch das Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China kannibalisiert oder durch die faktische Aufgabe des Systems «Ein Land, zwei Systeme» zunichte gemacht. Damit wohl auch die Vorteile weitgehend dahin, die Hong Kong bezüglich Rechtssystem hatte. Es bleibt der Sprachvorteil (Englisch als Hauptsprache neben Kantonesisch) und die traditionellen Beziehungen, wie sie schon im 19. Jahrhundert aufgebaut wurden. Ob das reicht?
  • Derweil legte der Gesamthandel mit Taiwan seit 2012 um über 40% zu, das liegt aber vor allem dran, dass sich die taiwanesischen Exporte fast verdoppelt haben (von CHF 933’265’192 auf CHF 1’701’416’074 und weniger an den Anstrengungen der Schweizer Exportindustrie. Sie steigerte ihre Exporte 2022 zwar gegenüber 2012 von CHF 1’720’352’657 auf CHF 2’045’057’381 (+19%), aber dieses Wachstum war stark unterdurchschnittlich, wenn man bedenkt, dass in derselben Zeit die Gesamtexporte der Schweiz um 39% anstiegen.
  • Wenn man bedenkt, dass Taiwan die Schweiz 2022 gemessen am Bruttosozialprodukt (nominal) wahrscheinlich überholt hat erstaunt, mit welcher Verbissenheit es vom Bundesrat seit Jahren und Jahrzehnten abgelehnt wird, irgend etwas zur Verbesserung der Handelsbeziehungen (oder Überhaupt zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen) zu Taiwan beizutragen.
Die Taiwan hat die Schweiz 2022 gemessen am Bruttosozialprodukt (nominal) überrundet und liegt weltweit auf Rang 21 im Ranking der grössten Volkswirtschaften (https://www.imf.org/external/datamapper/NGDPD@WEO/OEMDC/ADVEC/WEOWORLD). Weder für den Bundesrat noch die Schweizer Wirtschaft ein Grund, die Handelsbeziehungen zu Taiwan zu verbessern?!

Was aber bedeuten diese Zahlen konkret? Einige Annahmen.

Freihandelsabkommen müssen gründlich überdacht werden

Freihandel ist eine wunderbare Sache, falls er tatsächlich dafür sorgt, Zollschranken und administrative Hürden abzubauen, die beidseitigen Geschäftsbeziehungen zu verbessern und im Wettbewerb der Handelspartner für gleich lange Spiesse zu sorgen. Aber wenn man mit einem derart ungleichen Handelspartner wie der Volksrepublik China einen Vertrag abschliesst, wäre schon ein bisschen Überlegung angebracht, wie man sich konkret stellende Probleme im Vertrag angeht. Hintendrein zu hoffen, dass man den Vertrag schon noch irgendwie nachbessern kann, wenn er nicht befriedigt, ist naiv. Und nicht nur das. Die Schweiz hat den Freihandelsvertrag mit Hong Kong mit Füssen getreten, indem sie kurz darauf ein Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China abschloss.

Wenn ein Freihandelsabkommen das deklarierte Ziel, die Absatzmöglichkeiten von Schweizer Unternehmen im Ausland zu verbessern, wie dasjenige mit der Volksrepublik China aufs Gründlichste verfehlt hat, und das nicht nur etwa im letzten Jahr, sondern in den letzten zehn Jahren, wäre es langsam an der Zeit, über die Bücher zu gehen.

Handelsbilanzdefizite und Hot Money

Wieso aber ist das Handelsbilanzdefizit der Schweiz ein Problem, andere Länder haben doch auch Handelsbilanzdefizite mit China: der Exportweltmeister Deutschland, die USA, Indien…?

Die Antwort ist: andere Länder, andere Probleme. Deutschland macht sich zwar zu Recht Sorgen um sein Handelsbilanzdefizit mit China, aber es hat immerhin den Vorteil, in den Euro und die Nato eingebunden zu sein. Die USA haben neben einem grossen Binnenmarkt, eigenen Rohstoffressourcen etc. als wichtigstes Exportprodukt den US-Dollar und haben dadurch das «exorbitant priviledge» sich gegen Schulden alles kaufen zu können. Indien hat ein echtes Problem, es hat ein Handelsbilanzdefizit von USD 100 Milliarden bei einem bilateralen Handelsvolumen mit China von USD 136 Milliarden. Verbunden mit dem latenten Grenzkonflikt zwischen den beiden Ländern wird das extreme Handelsbilanzdefizit auch als Sicherheitsrisiko eingestuft.

Ein Problem ist allerdings allen Ländern gemeinsam. Handelsbilanzdefizite müssen auf der anderen Seite der Bilanz durch Kapitalzuflüsse ausgeglichen werden. Das kann von Vorteil sein, weil das Geld, das man für Konsumgüter ausgegeben hat, wieder für Investitionen in die Schweiz fliesst, oder im Fall der USA (mit Rekordhandelsdefizit) in US-Treasuries. Heikel wird es dann, wenn die Kapitalflüsse sich plötzlich verändern. Wenn «die Chinesen» mit den CHF 4’466’098’515, die sie dank ihrer Verkaufstüchtigkeit verdient haben, indem sie mehr Waren in die Schweiz exportiert haben als sie hier gekauft haben, hier Immobilien, Aktien etc. erwerben wollen, kann das ziemliche Marktverwerfungen auslösen. Noch grössere Marktverwerfungen können aber entstehen, wenn dieses «Hot Money» ebenso plötzlich verschwindet, wie es gekommen ist, etwa wenn sich China entschliesst, keine US-Staatsschulden mehr zu kaufen (was sich nicht genau sagen lässt, da der grösste Teil der offiziell von Belgien gehaltenen Treasuries wahrscheinlich China zuzurechnen sind).

Ein Paradebeispiel ist Hong Kong, welches beides erlebt hat. In den neunziger Jahren, als die recht ausgeglichene Handelsbilanz ins Negative kippte und der Abfluss von «Hot Money» für die Asian Financial Crisis mitverantwortlich war. Dann noch einmal in den letzten zwanzig Jahren, als die Finanzzuflüsse Immobilien für Einheimische unerschwinglich machten, während das Handelsbilanzdefizit grösser und grösser wurde. Und dann noch einmal im Jahr 2022, als die Exporte kollabierten und die Handelsbilanz in den Abgrund stürzte.

Quelle: https://tradingeconomics.com/hong-kong/balance-of-trade#:~:text=Hong%20Kong%20Trade%20Deficit%20Widens%20Sharply&text=(%2D35.7%25).-,For%20the%20whole%20of%202022%2C%20the%20trade%20deficit%20widened%20to,%25%20and%20imports%20by%207.2%25.

Die Abhängigkeit

Zugegebenermassen ist ein Handelsbilanzdefizit noch kein Problem, solange es anderswo ausgeglichen wird. Das gilt insbesondere für die Schweiz, welche übers Ganze gesehen immer noch mehr exportiert als sie importiert. Das Handelsbilanzdefizit mit China wird mit Handelsbilanzüberschüssen in anderen Ländern (z.B. den USA, Hong Kong usw.) mehr als ausgeglichen. Und der Umstand, dass China als Exportmarkt relativ unbedeutend geblieben ist, hat sein Gutes. Wenn die Leute in Peking, Hong Kong und Shanghai plötzlich weniger Schweizer Käse kaufen, ist das nicht gerade der Untergang der Käserei in der Vehfreude.

Appenzeller Senn beim Alpabzug im Klöntal. Er muss sich um einbrechenden Käseexporte nach Hong Kong keine Sorgen machen. (Bild: privat)

Problematisch wird es dort, wo Abhängigkeiten entstanden sind. Wenn fast 10 Prozent der Importe aus China stammen, kann es ziemlich eng werden, wenn diese Importe plötzlich aus irgendeinem Grund wegfallen. Dabei ist festzustellen, dass übers ganze gesehen von den «Supply Chain Disruptions» in der Handelsbilanz wenig zu sehen ist. Bei den chinesischen Exporte in die Schweiz jagten sowohl bei mengenmässiger als auch wertmässiger Betrachtung ein Rekord den anderen. Wenn aber tatsächlich aus innenpolitischen Gründen, z.B. wegen Arbeiterprotesten, in China Produktionskapazitäten stillgelegt werden oder weil aus geopolitischen Gründen wie z.B. Sanktionen oder «Friendshoring» Produktionskapazitäten verschoben werden, kann das massive Auswirkungen auf die gesamte Schweizer Wirtschaft haben, und zwar bezüglich Konsumgütern als auch bezüglich der Industrieproduktion.

Opportunitätskosten bezüglich Taiwan

Schon in Friedenszeiten sind die Opportunitätskosten, welche die Schweiz erleidet, wenn sie aus Rücksichtnahme auf die Gefühle der Führung der Volksrepublik China darauf verzichtet, auf einer Nachbesserung des Freihandelsabkommens zu pochen oder wenigstens mit der taiwanesischen Regierung auch nur schon Gespräche über eine Verbesserung der Handelsbeziehungen zu führen, enorm. Allein bei den Zöllen könnten in Taiwan nach Schätzungen der Handelszeitung CHF 40 Mio. jährlich gespart (oder noch besser in die Festigung Handelskontakte investiert) werden, nicht zu reden von den Möglichkeiten auf dem Exportmarkt, die sich dank dem hohen Wohlstand in der taiwanesischen Bevölkerung und aufgrund der komplementären Industrien bieten würde.

Andere Länder sind diesbezüglich längst dazu übergegangen, sich Alternativen zu erschliessen. Dass Taiwan mit den USA über ein Freihandelsabkommen diskutiert, ist kein Zufall. Ebensowenig, dass in Deutschland debattiert wird, wie man die Abhängigkeit von China reduzieren könnte. Von Handelskrieg zwischen den USA und China zu sprechen, ist längst verfehlt. Spätestens seit die EU und andere Verbündete ihre Sanktionen bezüglich Xinjiang bekräftigt haben, Vertreter verschiedener europäischer Länder ihre Handelsbeziehungen zu Taiwan vertiefen, die Tribune de Genève die taiwanesische Präsidentin Tsai Ing-wen als «incontournable» bezeichnet und Japan und die Niederlande sich den amerikanischen Sanktionen bezüglich gewisser Computerchip-Technologien angeschlossen haben gilt es auch für die Schweiz, sich zu entscheiden, wie lange sie es sich noch leisten kann, abseits zu stehen.

Insbesondere im Hinblick auf die Sanktionen der EU im Zusammenhang mit Xinjiang ist die Ungeduld der EU spürbar. Dass man erst einmal abwarten wollte, bis der Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin vorlag, ist einigermassen nachvollziehbar. Dass der Bundesrat im Dezember 2022 den Entscheid aber noch weiter aufschob, erweckt den Eindruck, dass die Schweiz an ihrer «Geschäftlimacherei» festhalten will und China helfen will, die Sanktionen zu umgehen.

Die Opportunitätskosten dürften ins Unermessliche steigern, sollte die Volksrepublik China ihre Drohung bezüglich eines militärischen Vorgehens bezüglich Taiwan in die Tat umsetzen. Die Vorbereitungen in den Nato-Staaten, Australien und Japan sind in dieser Hinsicht schon am laufen. Eine chinesische Militärattacke scheint eher eine Frage des «wann» als des «ob» zu sein. Während sich Delegationen verschiedener Länder im Regierungspalast in Taipei die Klinke in die Hand geben, will eine Parlamentariergruppe im Februar 2022 eine Erkundungsreise nach Taiwan machen.

Werden diese Parlamentarier die Wellen glätten können, die das «Versehen» der Schweizer Firma Leica Geosystems ausgelöst hat, welche einen zur taiwanesischen Rakete Hsiung Feng III gehörenden Theodolit statt selbst zu reparieren nach Festlandchina geschickt hat? Nicht nur der Ruf der Firma Leica Geosystems, welche für sich in Anspruch nimmt «a wide ranging expertise and a global understanding of the needs and requirements of our customers» zu haben, dürfte Schaden genommen haben, sondern auch der Ruf der Schweizer Handelsleute insgesamt.

Fazit

Je länger die Diskussion über das Freihandelsabkommen mit der Volksrepublik China unterdrückt wird, desto grösser wird die Diskrepanz zwischen immer grösserer Importabhängigkeit von China und den verfehlten Ziele bezüglich der Exporte, nicht zu reden vom wachsenden Handelsbilanzdefizit gegenüber der Volksrepublik China, das sich nicht mehr durch die Exporterfolge nach Hong Kong kaschieren lässt. Die Amerikaner und die EU werden uns hier nicht helfen, eher wird der Schweiz vorgeworfen, sie hintertreibe die verhängten Sanktionen. Die Opportunitätskosten bezüglich Taiwan als attraktiven Exportmarkt schwimmen uns davon. Wir Schweizer haben ein Problem. Eines das wir lösen müssen, bevor die Schweizer Exportindustrie ausgehöhlt wird wie ein Schweizer Käse.


Dr. iur. Maja Blumer (LL.M. Tsinghua) hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und in Taiwan studiert und ist als Rechtsanwältin tätig.