Die Zweistaatenlösung der Schweiz: eine Patentlösung für Taiwan oder «neuer Wein in alten Schläuchen»?

Gleich bei ihrem ersten Auftritt im Sicherheitsrat setzte sich die UN-Botschafterin der Schweiz, Pascale Baeriswyl, in die Nesseln, indem sie eine «Zweistaatenlösung» für Israel plädierte. Wenn die Schweiz bereits eine Patentlösung für den Konflikt zwischen Palästina und Israel bereithält: wäre eine Zweistaatenlösung, wie sie der Schweiz vorschwebt, nicht auch eine Lösung für den latenten Konflikt zwischen der Republik China (Taiwan) und der Volksrepublik China? Die Sache ist wohl ein wenig komplizierter als man sich das im Schweizer Bundeshaus vorstellt.

von Maja Blumer, 17. Januar 2023

Kaum war das neue Jahr eingeläutet, traf sich der UN-Sicherheitsrat am Donnerstag, 5. Januar 2023 zu einer Krisensitzung. Mit am runden Tisch zum ersten Mal auch die Schweiz. Es ging einmal mehr um den Konflikt zwischen Israel und Palästina (oder müsste man sagen, zwischen den Israeliten und Palästinensern?).

Anlass für die Krisensitzung des Sicherheitsrats bot ein Besuch des israelischen Sicherheitsminister auf dem Tempelberg. Aus palästinensischer Sicht eine ungeheure Provokation in einem besetzten Gebiet, aus israelischer Sicht eine Routineangelegenheit, wie sie sich keineswegs zum ersten Mal ereignet hatte. Der israelische Botschafter Gilad Erdan dazu:

I figured that if this important body is meeting to discuss such a trivial matter, then we clearly achieved world peace overnight. After all, why else would this Council dedicate its time to such a menial occurrence?” 

Gelegenheit für den ersten grossen Auftritt der UN-Botschafterin in New York, Pascale Baeriswyl. Sie bezog in erstaunlich deutlichen Worten Stellung gegen Israel indem sie dem israelischen Sicherheitsminister an den Kopf warf: «Solche einseitigen Aktionen drohen, den Status quo auf dem Tempelberg/Haram al-Sharif zu stören und damit die gesamte Region zu destabilisieren.» Dem Sicherheitsminister eines fremden Landes als Botschafterin eines angeblich neutralen Drittstaates vorzuwerfen, er gefährde die Sicherheit nicht nur seines eigenen Landes sondern der ganzen Region ist ziemlich «starker Tobak». Der Auftritt dürfte wohl nicht gerade geeignet sein, die Rolle der Schweiz als Vermittlerin schmackhaft zu machen.

Ausgerechnet das hat sich die Schweiz auf die Fahne geschrieben. Die Botschafterin führte nämlich an dieser denkwürdigen Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 5. Januar 2023 aus (Hervorhebungen durch die Autorin):

During its mandate as an elected member, Switzerland will work to promote peace in the region, based on a two-state solution, negotiated by both sides in accordance with international law and internationally agreed parameters, including UN Security Council resolutions.

In line with this position, Switzerland stresses the need to preserve the historical status quo on the Haram al-Sharif/Temple Mount, including respecting Jordan’s role as custodian over the Holy Sites.

…We call on the leaders of all parties to avoid inflammatory or provocative language that could exacerbate the conflict and provoke further violence.

…We are aware of the risk of escalation and the negative consequences this would have for peace and security in the region and beyond. We hope that this meeting will reaffirm the need to preserve the historic status quo and help prevent further tensions. Switzerland calls on all parties to respect international law, including international humanitarian law and human rights.

We also encourage the parties to address the root causes of the conflict and restore a political horizon for a negotiated two-state solution. Switzerland is at their disposal to facilitate the resumption of a credible dialogue in this sense.

Bezüglich der von Botschafterin Baeriswyl vertretenen «Zweistaatenlösung», ist das zwar nicht nur die Idee der Partei von Botschafterin Baeriswyl, der SP, sondern auch die offizielle Schweizer Politik des Bundesrates. Man kann Botschafterin Baeriswyl also kein eigenmächtiges Vorgehen vorwerfen (wie dies in gewissen SVP-Kreisen geschieht), wenn sie diese offizielle Politik vertritt, auch wenn sie im Anbetracht der gegenwärtigen Diskussion um die Neutralitätspolitik etwas gar undiplomatische Worte gewählt hat. Die von der Botschafterin vorgebrachte Idee der Zweistaatenpolitik ist zudem nicht gerade weltbewegend, sie ist schon ziemlich abgestanden – wenn nicht gar klinisch tot – und trägt dem Umstand, dass beispielsweise rund eine halbe Million israelischer Siedler das Westjordanland ihre Heimat nennen, keine Rechnung. Es bräuchte im Falle von Israel und Palästina schon eines Wunders biblischen Ausmasses, um der Idee der Zweistaatenpolitik zum Durchbruch zu verhelfen. Allerdings ist es gerade die Bibel, welche davor warnt, sich am «status quo» festzuklammern, in einem Gleichnis, das sich um den Konflikt zwischen Judentum und Christentum dreht, sagt das Evangelium dazu:

Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Kleid; denn der neue Stoff reißt doch vom alten Kleid ab, und es entsteht ein noch größerer Riss.
Auch füllt niemand neuen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißt der Wein die Schläuche; der Wein ist verloren, und die Schläuche sind unbrauchbar. Neuer Wein gehört in neue Schläuche.

Markus, 2,21-22

Über die Rolle der Schweiz und der Zweistaatenlösung zwischen Israel und Palästina dürfte sich auch Botschafterin Baeriswyl keine Illusionen machen. Aber sind ihre Bemerkungen vielleicht nicht in Bezug auf Israel zu verstehen, sondern weit darüber hinaus? Früher oder später wird sich Botschafterin Baeriswyl und damit auch die Schweiz im Sicherheitsrat höchstwahrscheinlich mit einem weit heisseren Eisen zu befassen haben: Mit den diversen Grenzkonflikten der Volksrepublik China mit seinen Nachbarn im Allgemeinen und dem Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Republik China (Taiwan). Viele ihrer Worte in ihrer ersten Rede im Sicherheitsrat scheinen auf diesen Konflikt gemünzt zu sein, etwa von «Destabilisierung» oder von «Status quo» die Rede ist. Nur von einer Zweistaatenlösung darf man bezüglich des Konflikts in der Taiwanstrasse natürlich nicht sprechen, ohne den ewigen Zorn der Volksrepublik China auf sich zu ziehen.

Gerade im Fall Chinas könnte aber eine Zweistaatenpolitik zielführend sein. De facto bestehen schon seit jeher zwei Staaten, es gibt nichts zu trennen, keine gemeinsam genutzten Gebiete (wie das Westjordanland oder den Tempelberg) auseinanderzudividieren. De facto wird eine Zweistaatenpolitik von den meisten Staaten bezüglich Taiwan seit langem mehr oder weniger offen praktiziert.

Würde die Schweiz allerdings in Bezug auf Taiwan ebenfalls für eine Zweistaatenpolitik plädieren und aktiv darauf hinwirken wollen, müssten allerdings schon einige Weichen gestellt werden

Zunächst müssten ja darüber Diskussionen geführt werden, wie diese Zweistaatenlösung aussehen würde. Wie sähe z.B. die Vertretung in der UNO aus, welche gegenseitigen Sicherheitsgarantien gibt man sich (sowohl die Volksrepublik China als auch Taiwan sind bis auf die Zähne bewaffnet) etc.?

Der Sicherheitsrat ist dafür eindeutig das falsche Gremium. Solange Russland den Sitz der Sowjetunion innehat und die Volksrepublik China denjenigen der Republik China gilt hier das Motto: «Wer nicht am Tisch sitzt, steht auf dem Menu». Die Wirkungslosigkeit des Sicherheitsrats im Krieg gegen die Ukraine wurde zu genüge demonstriert. Solange der UN-Charta diesbezüglich nicht zum Durchbruch verholfen wird, ist unwahrscheinlich, dass der Sicherheitsrat zwischen Taiwan und der Volksrepublik China vermitteln kann. Das liesse sich zwar ohne weiteres ändern, indem man einfach die UN-Charta anwendet, dass Bundesrat Cassis diese Lösung gemeint hat, als er am 12. Januar 2022 an einer ministeriellen Debatte des UN-Sicherheitsrats zum Thema Rechtsstaatlichkeit für die Einhaltung der UN-Charta plädiert hat, ist unwahrscheinlich. Zwar zähle ich Mitglieder von gewissen Aussenministerien zu den eifrigsten Lesern meines Blogs (denen ich hiermit für die geschätzte Aufmerksamkeit und die interessanten Rückmeldungen höflich danke), doch die Mitarbeiter des schweizerischen EDA gehören mit ziemlicher Sicherheit nicht dazu und dürften entsprechend meinen Artikel vom 2. Januar 2023 ihrem Chef nicht zur Kenntnis gebracht haben, der sich unter anderem darum dreht, wer denn im Sicherheitsrat von Rechts wegen Einsitz nehmen müsste.

Es gibt natürlich noch andere Foren. Da ist einmal das Ad-hoc Gremium, welches im vorstehenden Artikel als «P11» bezeichnet habe. Und dann gibt es noch das WEF, das in diesen Tagen in Davos tagt und wo Taiwan (bzw. die Spannungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik China), noch einmal Taiwan (bzw. Computerchips aus taiwanesischer Produktion) und Energie auf dem Programm stehen. Das Grundproblem ist allerdings auch hier, dass zwar über, aber nicht mit Taiwan diskutiert werden darf. Damit zerschlagen sich eigentlich alle Hoffnungen, welche der neue Schweizer Botschafter in China, Jürg Burri, in einem von einem philippinischen Fernsehsender ausgestrahlten Interview zum Ausdruck gebracht hat, durch die Anlässe wie das WEF könnte Ideen ausgetauscht werden und einander zugehört werden, was der erste Schritt zu einer friedlicheren Welt sei (ab Minute 1:55):

Ausgerechnet die Schweiz ist es im Übrigen, die seit 1950 eine Hauptverantwortung hat, dass Taiwan weder in internationalen Gremien eine Stimme erhält und zwischen den hunderten von «Public Figures» vom albanischen Premier bis zum Finanzminister aus Zimbabwe am diesjährigen WEF kein einziger Vertreter der Republik China zu finden ist. Die Volksrepublik China ist dagegen prominent vertreten, der Schweizer Bundesrat auch fast in corpore anwesend. Diskussion ja, aber nur mit denen, die die gleiche Meinung vertreten, wie man selbst? Na dann viel Erfolg.

Macht sich hie und da eines der Mitglieder des Bundesrats vielleicht doch Gedanken, ob Cüplidiplomatie mit Gleichgesinnten wirklich zielführend ist, den Weltfrieden voranzubringen? Und sprechen sie vielleicht sogar darüber, untereinander aber auch mit anderen Politikern aus aller Welt?

Heute wäre ein guter Tag dazu, jährt sich der Entscheid des Bundesrats Petitpierre, der am 17. Januar 1950 im Alleingang beschlossen hat, das maoistische Regime anzuerkennen und dabei alle völkerrechtlichen Prinzipien über Bord zu werfen und den immer noch geltenden Freundschaftsvertrag mit der Republik China mit Füssen zu treten. Immerhin fasste Petitpierre den Beschluss der Anerkennung des maoistischen Regimes in die Form eines Telegramms, auch wenn man einen entsprechenden Beschluss des Bundesrates oder eine rechtliche Begründung für diesen singulären Entscheid vergeblich sucht. (Öffentlich) dokumentiert ist nur eine Selbstermächtigung von Bundesrat Petitpierre selber vom 7. Oktober 1949 und eben jenes Telegramm an Mao Zedong vom 17. Januar 1950.

Bezüglich der angeblich gleichzeitig erfolgten «Aberkennung» der Republik China sucht man vergeblich nach einem Dokument, welches die Rechtmässigkeit des Vorgehens von Max Petitpierre dokumentiert. Er scheint sich auf den Präzendenzfall von 1939 berufen zu haben, wo in ähnlicher Weise das faschistische Regime von General Franco anerkannt und die verfassungsmässige spanische Regierung aberkannt wurden.

Mit der 1950 von Max Petitpierre zementierten Einchinapolitik hat sich die Schweiz einen weiteren Präzedenzfall geschaffen. In der Folge wurden – auch in der Schweiz – 22 Jahre (von 1950 bis 1972) lang epische Diskussionen über die Zulassung «Rotchinas» in diversen internationalen Organisationen geführt und noch einmal ca. 28 Jahre (von 1982 bis 2000) ebenso epische Diskussionen über die internationalen Beziehungen Taiwans, bis man glaubte, mit der Einbindung der Volksrepublik China und die WTO die magische Lösung gefunden zu haben und mit der Ausweitung der quasi-diplomatischen Beziehungen eine Kompromissformel gefunden zu haben, die nichts anderes als eine faktische Zweistaatenpolitik ist.

Nur die Schweiz hat sich dieser Zweistaatenpolitik seit jeher verschlossen und jegliche politische Diskussion abgeblockt. Dies nicht etwa nur in den letzten Jahren. Stets war die Argumentation, es gebe nur ein China, und weil «wir» die Volksrepublik China anerkannt hätten, könnten «wir» Taiwan nicht anerkennen. Diese Argumentation liesse sich beliebig fortsetzen, gerade auch in Bezug auf Israel wo das, was aus palästinensischer Sicht besetzte Gebiete sind, aus israelischer Perspektive historisch zu Israel gehörende Stätten sind.

Wenn die Schweiz nun aber bezüglich Israel und Palästina eine Zweistaatenpolitik für zielführend erachet und sich dabei auf UN-Charta, Status quo, Dialog etc. beruft, muss sie sich die Frage gefallen lassen, ob die gleichen Prinzipien nicht auch für Taiwan gelten sollten. Müsste die Schweiz nicht auch die Volksrepublik China zum Dialog aufrufen und dazu, mit Taiwan in Verhandlung über eine Zweistaatenlösung zu treten oder zumindest zu diskutieren, was man unter «One China» versteht? Müsste die Schweiz nicht auch China vorwerfen, Brandreden zu halten, Gewalt anzudrohen bzw. gar anzuwenden und so den fragilen Frieden in der Region und der Welt zu gefährden (man denke z.B. an die Drohungen gegenüber Nancy Pelosi, Shinzo Abe, Annalena Baerbock, gegenüber diversen Mitgliedern der taiwanesischen Regierung und diversen anderen Personen, denen gedroht wurden, sie würden sich blutige Köpfe holen)?

Und wenn das nicht möglich ist: Müsste die Schweiz nicht auch mindestens ihre Politik so ausrichten, selber den Status quo zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, welcher nun einmal der ist, dass es zwei Staaten mit einem je eigenen Territorium, einer je eigenen Regierung, einer je eigenen Bevölkerung mit einer je eigenen Sprache (inklusive eigenen Schriftsystemen), einem je eigenen Militär, einem je eigenen Wirtschafts- und Rechtssystem sind? Zwei Staaten, die die Schweiz je einzeln anerkannt hat: die Republik China 1913, die Volksrepublik China 1950. Zwei Staaten, mit denen die Schweiz je diverse Verträge abgeschlossen hat. Wenn die Schweiz nicht über das Rückgrat verfügt, sich an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu halten, so täte sie besser dran, ihren Sitz im Sicherheitsrat freizugeben und ihre Diplomaten ihre Fähigkeit perfektionieren zu lassen, was sie angeblich am besten können: In allen vier Landessprachen zu schweigen.


Dr. iur. Maja Blumer, LL.M. (Tsinghua) hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und Taiwan studiert und ist als Rechtsanwältin tätig.