Laissez-faire des Bundesrats gegenüber China: Risiko für den Schweizer Tourismus?

Am 11. Januar 2023 hat der Bundesrat beschlossen, die Empfehlungen der EU betreffend aus China einreisenden Passagieren nicht umzusetzen, mit der Begründung, aufgrund der in China zirkulierenden Omikron-Variante bestünde derzeit ein geringes Risiko für die Bevölkerung in der Schweiz und für das schweizerische Gesundheitssystem. Auch wenn dieser Entscheid ein Stück weit nachvollziehbar ist, wurden wichtige Aspekte ausser Acht gelassen. Nicht zuletzt die Interessen des Schweizer Tourismus.

von Maja Blumer, 11. Januar 2023

Während alle umliegenden Länder eine Testpflicht von aus China einreisenden Personen umgesetzt haben und unter anderem die USA und Deutschland von Reisen nach China schon längst abraten, gibt es jetzt schon eine neue Sorte von Reiseempfehlungen: Der indische Fernsehsender WION rät den Zuschauern, von Reisen nach Thailand abzusehen, weil dieses – sei es auf Druck aus Beijing, sei es zur Wiederbelebung des Tourismus, sei aus epidemiologischen Überlegungen – von jeglichen Kontrollmassnahmen absieht. Thailand ist eine der wichtigsten chinesischen Tourismusdestinationen und hofft, schnell an die Zahlen von «vor Covid» anknüpfen zu können, als zum Höhepunkt der chinesischen Reisewelle 2019 rund 12 Millionen chinesische Touristen das Land besuchten.

Der Schweizer Bundesrat hat am 11. Januar 2022 entschieden, dass er erst einmal zuwarten will und darauf verzichtet, Reisende aus China auf Covid zu testen, einen Test vor Abflug zu verlangen oder anderweitige Massnahmen anzuordnen. Grundlage für den Entscheid bildet laut der Medienmitteilung des Bundesrats die «epidemiologische Lage». In China zirkuliere die Omikron-Variante, und viele Schweizer wären gegen Covid geimpft oder hätten eine Infektion durchgemacht, so dass für sie nur ein geringes Risiko bestehe.

Das ist zunächst einmal nachvollziehbar. Wenn in China tatsächlich «nur» die Omikron-Variante zirkuliert, wie der Bundesrat annimmt, ist aus epidemiologischer Sicht tatsächlich nicht nachvollziehbar, wieso man nun plötzlich wieder Massnahmen einführen sollte, die man im Februar 2022 fallen gelassen hat. Zwar ist in der Schweiz seit ca. November 2021 eine deutliche Übersterblichkeit bei den über 65-Jährigen auszumachen, woran das liegt, ist allerdings nicht klar. Hier blindlings Empfehlungen umzusetzen und zu hoffen, sie wirkten, ist jedenfalls nicht empfehlenswert.

Aus Erfahrung wird man bekanntlich klug, und mit der Übernahme von Empfehlungen der WHO bzw. indirekt von Massnahmen, bei denen die neuen Ansätze aus der Volksrepublik China (Maskenpflicht, Lockdowns, Tests, Impfung) eine gewisse Rolle spielten, hat man gemischte Erfahrungen gemacht. Vielleicht wäre es rückblickend besser gewesen, dem Beispiel Schwedens zu folgen, das von Anfang an eine konsequente Politik der Entscheidungsfreiheit verfolgt hat (allerdings war es diesmal gerade Schweden, welches als eines der ersten eine EU-weite Testpflicht für aus China einreisende Personen angeregt hat).

Die in den letzten drei Jahren verfolgen Strategie im Zusammenhang mit Covid, vom laissez-faire zugunsten von WEF in Davos und Jugendolympiade in Lausanne, über Grenzschliessungen und Lockdowns, über Masken-, Test- und faktischen Impflichten bis hin zur Segregation von Personen, die den Nutzen dieser Massnahmen nicht einsehen wollten, hat ziemlich grosse Kollateralschäden hinterlassen.

Kollateralschäden vielleicht noch nicht einmal in wirtschaftlicher Hinsicht, aber in sozialer. Nur weil sich 70% der Bevölkerung hat beknien lassen, sich mindestens einmal impfen zu lassen, ändert das weder etwas am Entscheid, welcher von der Minderheit für sich gefällt wurde, nicht. Ebenso wenig daran, dass diese Minderheit als als Covidioten, Schwurbler etc. bezeichnet wurde und wie aussätzige Behandelt wurden. Dass es im Februar 2022 in einer 180°-Kehrtwendung plötzlich hiess, es sei jetzt alles wieder gut, macht das Geschehene für die Betroffenen nicht ungeschehen.

Aus epidemiologischer Sicht kann man den chinesischen Behörden nun gewiss nicht vorwerfen, dass sie ebendiese Kehrtwendung um 180° mit einiger Verzögerung nun auch vollbracht haben. Die Frage ist nur: was legt das chinesische Gesundheitssystem momentan lahm und lässt die Aufbahrungshallen und Krematorien überquellen? ist es wirklich «Omikron»? Und in welcher Untervariante: in der relativ harmlosen Version von Ende 2021? Oder in der derzeit kursierenden «Höllenhund-Variante»? Und wenn es keines von beidem ist: ist das, was in China kursiert, ein rein chinesisches Problem, oder eines, das auch uns betreffen könnte? Und ist der chinesische Impfstoff tatsächlich so schlecht, oder sind die 88% der Schweizer Bevölkerung, die sich in den letzten 6 Monaten auf einen «Booster» verzichtet haben, genauso gefährdet wie die chinesische Bevölkerung?

Auch in Hinblick auf die politischen Beziehungen zu China ist eine gewisse Zurückhaltung des Bundesrates beim «autonomen Nachvollzug» der EU-Empfehlung verständlich. Die chinesische Regierung hat allen Ländern, die Testpflichten für chinesische Reisende einführen, mit Retorsionsmassnahmen angedroht und ihnen vorgeworfen, es handle sich um «Einreisebeschränkungen», die «unwissenschaftlich und diskriminierend» seien. Das ist einigermassen belustigend, weil China auch nach «Öffnung» der Grenzen weiterhin einen Covid-Test verlangt.

Japan und Südkorea sind bereits mit Retorsionsmassnahmen konfrontiert, indem keine Visas mehr ausgestellt werden. Es bleibt abzuwarten, ob Japan und Korea zur Gegenretorsion greifen. Beide Länder haben gewisse Erfahrungen mit Boykotten chinesischer Touristen und Konsumenten und heissen stattdessen Touristen aus Taiwan, Europa, den USA und anderen Ländern mit offenen Armen willkommen. Wirtschaftlich dürften die Retorsionsmassnahmen Chinas daher verkraftbar sein und eher der Volksrepublik China selber schaden.

Wie aber sieht es aus, wenn die Volksrepublik China Retorsionsmassnahmen gegenüber der Schweiz ergreifen würde, falls diese dem Vorbild der Nachbarländer folgt und eine Testpflicht für Ankommende aus China anordnet? Der Bundesrat hat sich in seiner Medienmitteilung ebenso wenig geäussert wie zu seinen anderen Überlegungen, welche über die rein epidemiologische Einstufung hinausgehen.

Bezüglich der Handelsbeziehungen dürften die Auswirkungen gering sein. Schweizer Geschäftsleute mit minimalen Landeskenntnissen werden während des chinesischen Neujahrs kaum nach China eilen wollen, denn ihre chinesischen Geschäftspartner sind in dieser Zeit nämlich typischerweise in ihren Heimatdörfern zu finden, wo sie Familienbesuche absolvieren, Baijiu trinken, Karaoke singen, Feuerwerk abbrennen und Mahjiang spielen – eine interessante Erfahrung, wenn einem als Ausländer die Ehre zukommt, bei einer chinesischen Familie Gast zu sein, aber sicher nicht Jedermann’s Sache.

Dorfszene während des chinesischen Frühjahrsfests irgendwo tief in einer Provinz. (Bild: privat)

Anders sähe es bezüglich des Tourismus aus. Den meisten chinesischen Touristen dürfte es auf einen Covid-Test mehr oder weniger auch nicht mehr ankommen. Aber die Symbolwirkung wäre gross, wenn man als Reisender unter Generalverdacht gestellt wird.

Aus nüchterner wirtschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, ob es sich auswirken würde, wenn die chinesischen Gäste wegbleiben würden. Aber welche Bedeutung haben die chinesischen Gäste für uns aktuell? In der Schweiz wurden 2019 insgesamt 1,39 Millionen Logiernächte von insgesamt rund einer Million chinesischen Gästen gezählt, d.h. es kamen viele, sie blieben aber nur kurz. Die grösste «Reisegruppe» welche die Schweiz im Mai 2019 auf einen Schlag besuchte, hatte 12’000 Köpfe – eine Massenabfertigung, welche weder aus Gäste- noch aus Gastgebersicht allen gefallen dürfte. Was die Gäste aus Deutschland (3,9 Millionen Logiernächte), den USA (2,5 Millionen Logiernächte), Grossbritannien (1,6 Millionen Logiernächte) sich zu diesem «Overtourism» dachten, kann dahingestellt bleiben.

Ab 2020 änderte sich das Bild komplett. Mit knapp 36’000 Logiernächten rangierten die chinesischen Gäste gerade knapp hinter der Ukraine, irgendwo unter «ferner liefen». In den ersten drei Quartalen 2022 sah es nicht wesentlich besser aus: mit gerade mal 93’000 Logiernächten konnten sich China gerade mal knapp hinter Dänemark und Portugal halten.

Es wäre den Schweizer Hoteliers zu gönnen, wenn sie wieder mehr Touristen aus China begrüssen könnten. Doch riskieren sie, dass Gäste aus anderen Ländern wegbleiben? (Bild: Thunersee mit Niesen, privat)

Mit der Grenzöffnung könnte sich das abrupt ändern, vorausgesetzt den reisefreudigen Chinesen, welche über einen gültigen Pass verfügen gelingt es auch, ein Visum und einen bezahlbaren Flug zu ergattern. Spätestens beim Visum beginnt schon das Problem. Es wäre chinesischen Besuchern nicht zu verargen, wenn sie ein Schweizer Schengen-Visum nutzen würden und nach der Landung in Kloten, Basel oder Genf nach Mailand, Hamburg, Paris oder wohin auch immer weiterreisen würden. Konsequenterweise müssten die Schengen-Länder, welche eine Testpflicht für ankommende Passagiere aus China vorsehen, diese an die Visavergabe anknüpfen und der Schweiz das Recht auf Erteilung von Schengen-Visa entziehen.

Das grössere Problem dürften aber die Gäste aus anderen Ländern sein: Gästen aus Deutschland, den USA, Grossbritannien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Spanien, Indien, Österreich, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Kanada, Brasilien, Polen, Israel, Singapur, Australien, Schweden, Südkorea, Dänemark und Portugal, sie alle haben der Schweiz in den vergangenen drei Jahren die Treue gehalten und waren weit bedeutsamer als die Touristen aus China. Verprellt die Schweiz diese Gäste, weil sie von diesen entweder als opportunistisch eingestuft wird oder gar als gefährliches «Virusvariantengebiet» (wie vielleicht vom Fernsehsender WION in der oben erwähnten Sendung bezüglich etwas gar drastisch dargestellt).

Bleibt zu hoffen, dass sich das, was im Moment in China grassiert, tatsächlich relativ harmlos ist und sich die Vorsichtsmassnahmen als überflüssig erweisen. Für die Zukunft wäre es zu wünschen, dass der Schweizer Bundesrat eine etwas umfassendere Interessen- und Risikoabwägung vornimmt.


Dr. iur. Maja Blumer hat in der Schweiz, in der Volksrepublik China und Taiwan studiert. Sie arbeitet als Rechtsanwältin.