Die Schweiz und der UN-Sicherheitsrat: rechtliche Verpflichtungen

Am 9. Juni 2022 wurde die Schweiz mit 187 Stimmen für zwei Jahre als Mitglied in das UN Security Council gewählt. Heute beginnt der erste Arbeitstag der Schweizer UN-Botschafterin im Sicherheitsrat. Höchste Zeit, sich über die Aufgaben, die ihm aus rechtlicher Sicht dabei zukommen.

von Maja Blumer, 2. Januar 2023

Der grosse Plan des Bundesrats

Die Schwerpunkte, welche sich der Bundesrat für die zweijährige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat gesetzt hat, sind erschreckend vage. Es sind dies: (1) Nachhaltigen Frieden fördern, (2) die Zivilbevölkerung schützen, (3) Klimasicherheit angehen und (4) Effizienz verstärken. Die Aussenpolitische Kommission fügte dieser Liste noch weitere Punkte hinzu (5) dem Schutz der Zivilbevölkerung in Myanmar und der Situation der Rohingya soll besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, (6) die Stärkung des Menschenrechtsschutzes, und (7) die weltweite Hunger- und Ernährungskrise.

Das ist alles schön und recht, angesichts der weltpolitischen Lage aber offensichtlich wenig geeignet, irgendetwas zur Lösung von aktuellen Problemen beizutragen. Schlimmer noch, die Zielsetzung zielt an den Kernaufgaben des Sicherheitsrats vorbei, welche dieser von Rechts wegen hat. Höchste Zeit, sich diesen Kernaufgaben einmal zu widmen.

Schlüsselrolle des UN-Sicherheitsrats bei Sanktionen und Militäreinsätzen

Gemäss Art. 25 der UN-Charta haben die Mitgliedstaaten der UNO «die Beschlüsse des Sicherheitsrates im Einklang mit dieser Charta anzunehmen und durchzuführen.» Während die Vollversammlung der UNO und zahlreiche Sonderorganisationen der UNO sich mit der Friedensförderung, dem Schutz der Zivilbevölkerung, der Klimasicherheit, den Menschenrechten und Hunger- und Ernährungskrisen in der Welt.

Jedoch kann gemäss Art. 25 der UN-Charta allein der UN-Sicherheitsrat (im Rahmen seiner Aufgaben) gegenüber allen Mitgliedstaaten verbindliche und damit auch durchsetzbare Beschlüsse fassen. Diese Befugnis bezieht sich konkret auf die Resolutionen gemäss Kapitel VII der UN-Charta, welche «Massnahmen des Sicherheitsrats bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen» betrifft.

Kapitel VII der UN-Charta sieht bei Friedensbruch oder Angriffshandlungen ein mehrstufiges Vorgehen vor:

  • Zunächst stellt er fest, «ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt» (Art. 39 UN-Charta, erster Teilsatz).
  • Wenn er dies bejaht, gibt er Empfehlungen ab oder beschliesst Massnahmen (Art. 39 UN-Charta, erster Teilsatz).Die erste Eskalationsstufe sind Sanktionen, namentlich «die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegraphen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten [wozu heutzutage auch Internet- und Satellitenverbindungen zählen würden] und den Abbruch diplomatischer Beziehunge» (Art. 41 UN-Charta).
  • In einer zweiten Eskalationsstufe, wenn der Sicherheitsrat zum Schluss kommt, dass die Massnahmen unter Ausschluss von Waffengewalt gemäss Art. 41 UN-Charta unzulänglich sein würden oder sich diese bereits als unzulänglich erwiesen haben, so kann der Sicherheitsrat «mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens erforderlichen Massnahmen durchführen», wobei diese Massnahmen «Demonstrationen, Blockaden und andere militärische Einsätze einschliessen» (Art. 42 UN-Charta).

Ein Musterbeispiel für das Vorgehen des Sicherheitsrats ist der Koreakrieg:

  • Nachdem die nordkoreanischen Truppen am 25. Juni 1950 die Demarkationslinie zum Süden überschritten hatten, reagierte der UNO-Sicherheitsrat am gleichen Tag mit seiner Resolution 82 und ordnete einen sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und einen Rückzug der nordkoreanischen Truppen hinter die Demarkationslinie (beim 38. Breitengrad) an. Die Resolution wurde mit neun Stimmen (Republik China, Frankreich, Grossbritannien, USA, Cuba, Ecuador, Ägypten, Indien und Norwegen) zu einer Enthaltung (Jugoslawien) angenommen.
  • Zwei Tage später, am 27. Juni 1950, folgte Resolution 83. Darin empfahl der Sicherheitsrat, dass die Mitglieder der Republik Korea die nötigen Unterstützungsleistungen erbringen, um den bewaffneten Angriff zurückzuschlagen. Diesmal stimmten 7 Mitglieder für die Resolution (Republik China, Frankreich, Grossbritannien, USA, Cuba, Ecuador und Norwegen), eines dagegen (Jugoslawien).
  • In Resolution 84 unterstellte der UNO-Sicherheitsrat am 7. Juli 1950 die Streitkräfte der Staaten, welche in Nachachtung der Resolution 83 die Republik Korea unterstützen wollte, dem Kommando der USA und erlaubte diesem, im Rahmen der Militäroperationen die Flagge der UNO zu verwenden. Für die Resolution 84 stimmten 7 Mitglieder: Die Republik China, Frankreich, Grossbritannien, USA, Cuba, Ecuador und Norwegen. Indien und Jugoslawien enthielten sich der Stimme.
  • Mit Resolution 85 vom 31. Juli 1950 wurden Massnahmen zur Unterstützung der Zivilbevölkerung angeordnet. Die Resolution wurde mit neun Stimmen (Republik China, Frankreich, Grossbritannien, USA, Cuba, Ecuador, Ägypten, Indien und Norwegen) zu einer Enthaltung (Jugoslawien) angenommen.

Dank dem entschlossenen Handeln des Sicherheitsrates und den Ländern, die Streitkräfte und Sanitätstruppen stellten, war es schliesslich möglich, der Resolution 82 zum Durchbruch zu verhelfen. Mit Resolution 90 vom 31. Januar 1951 strich der Sicherheitsrat den Punkt «Antrag betreffend Angriff auf die Republik Korea» von seiner Traktandenliste. Diesmal einstimmig.

Und die Schweiz? Wenn sie etwas dazu zu sagen gehabt hätte, wäre sie dagegen gewesen. Der damalige Bundespräsident und Aussenminister Max Petitpierre war hellauf entsetzt über das Vorgehen der UNO. Lag es daran, dass die Schweiz 1945 noch nicht einmal zur Gründungsversammlung der UNO eingeladen war (und auch zu stolz, um um eine Einladung zu bitten?). Lag es daran, dass die Schweiz ernsthaft befürchtete, die Sowjets würden in Europa angreifen, während die USA und die anderen Mitglieder der Alliierten in Korea kämpften? War es eine persönliche Aversion gegen den amerikanischen Präsidenten Truman, dem er vorwarf, das Vorgehen der USA sei «weder juristisch, politisch noch militärisch zu rechtfertigen», die amerikanische Aussenpolitik sei «inkohärent, widersprüchlich, unvorsichtig und von innenpolitischen Sorgen geprägt»? War es die Sorge um den Schweizerbürger Gérald Matti, der von den Nordkoreanern gefangen genommen wurde? Sah er bezüglich der Volksrepublik China, die er am 17. Januar 1950 etwas voreilig anerkannt hatte (und welche die treibende Kraft im Koreakrieg war) die Felle davonschwimmen? Oder war das Politische Departement (wie das EDA damals hiess), gar von Kommunisten unterwandert?

Sicher ist, die Selbstherrlichkeit, mit der Bundesrat Petitpierre während und nach dem 2. Weltkrieg beharrlich in die aussenpolitische und wirtschaftliche Isolation trieb (er wurde am 14. Dezember 1944 gewählt und war bis zum 30. Juni 1961 im Amt) wird sich Bundesrat Cassis nicht leisten können. Ebenso wird er sich ein tagelanges Hin- und Her bis zur «autonomen» Übernahme der (in der EU und den USA seit langem vorbereiteten) Sanktionen nicht noch einmal leisten können, ohne mit den sanktionierten Ländern in einen Topf geschmissen zu werden.

Hätte der UN-Sicherheitsrat 1950 nicht konsequent eingegriffen, würde es heute das «Wunder am Han Fluss» nicht geben. Uferpromenade am Han Fluss in Seoul (Bild: privat)

Sicher ist auch: Das «Wunder am Han Fluss» würde es heute nicht geben, wenn der Sicherheitsrat im Juni und Juli 1950 nicht derart konsequent eingegriffen hätte.

Der Schönheitsfehler des Sicherheitsrats: die P5

Warum, wenn das Vorgehen des Sicherheitsrats im Koreakrieg letztendlich erfolgreich war, kam es im Ukrainekrieg nicht zur Anwendung?

Ein Grund dafür ist rechtlicher Natur. Die Bestimmungen der UN-Charta betreffend die Befugnisse des Sicherheitsrates zur Durchsetzung seiner Beschlüsse hat einen Schönheitsfehler: Das Vetorecht der «P5».

P5 steht für die fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Seit der seit 1945 unverändert geltenden Bestimmung von Art. 23 (1) UN-Charta sind dies: Die Republik China, Frankreich, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Grossbritannien und Nordirland sowie die Vereinigten Staaten von Amerika. Den P5 kommt ein Vetorecht zu, das in Art. 27 (3) UN-Charta verankert ist. Nicht ganz zufällig handelt es sich bei diesen fünf Vetomächten um Gründungsmitglieder der UNO und nicht ganz zufällig handelt bzw. handelte es sich bei den P5 um Atommächte.

Grundsätzlich machte und macht das Vetorecht Sinn. Erstens konnte jedes UNO-Mitglied, ob Gründungsmitglied oder später hinzugekommenes Mitglied entscheiden, ob es mit diesem Vetorecht «leben kann». Umgekehrt hätten weder die USA noch die Sowjetunion Mehrheitsbeschlüsse akzeptiert. Zweitens war es 1945 schlicht undenkbar, dass ein permanentes Mitglied und damit eine Atommacht seine völkerrechtlichen Verpflichtungen in einem Grad verletzt, dass eine Intervention nach Kapitel VII der UN-Charta notwendig wird. Wenn mehrere Atommächte aufeinander losgehen, kann man sich nur noch im nächsten Bunker verkriechen. Da helfen dann Aufrufe des Sicherheitsrats, man solle doch lieb und nett zueinander sein, auch nicht mehr.

Bezüglich des Vetorechts bestehen vier Ausnahmen:

  • Erstens bedürfen Beschlüsse des Sicherheitsrates über Verfahrensfragen lediglich der Zustimmung von neun Mitgliedern des Sicherheitsrats (Art. 27 (2) UN-Charta). Umstritten ist allerdings, ob beim Beschluss, eine Frage als Verfahrensfrage zu qualifizieren, auch ein Veto eingelegt werden kann (doppeltes Veto).
  • Zweitens haben sich die P5 bei Beschlüssen auf Grund des Kapitels VI und des Artikels 52 (3) der Stimme zu enthalten (Art. 27 (3) UN-Charta).
  • Drittens werden Abwesende und Stimmenthaltungen nicht mitgezählt. Dies spielte namentlich in Bezug auf die obenerwähnten Resolutionen 82 bis 85 eine Rolle: bei diesem fehlte der Vertreter der Sowjetunion, der den Sicherheitsrat seit Januar 1950 boykottierte, nachdem sein Begehren, statt der Republik China die Volksrepublik China in die UNO aufzunehmen, am 13. Januar 1950 scheiterte, ob dies tatsächlich geschah, weil er das kommunistische Bruderland unterstützen wollte, oder ob dies geschah, weil die Sowjetunion im Koreakrieg hinter den Kulissen die Fäden zog, ist unklar.
  • Viertens darf ein angegriffenes Land das «naturgegebene» Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung ausüben «bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen getroffen hat».

Die UN-Charta enthält also bezüglich des Falles, dass eine Vetomacht seine völkerrechtlichen Verpflichtungen in einem Grad verletzt, dass Massnahmen nach Kapitel VII notwendig werden, eine empfindliche Lücke. Zwar darf ein Land sich wehren und auch seine Verbündeten zur Hilfe rufen, aber bis der Sicherheitsrat in Aktion tritt kann schon sehr viel Schaden angerichtet worden sein. Diese Lücke hätte sich bereits 1945 auswirken können, wenn nicht glücklicherweise die Sowjetunion gerade im richtigen Zeitpunkt den Sicherheitsrat boykottiert hätte und damit den Weg für eine sofortige Intervention des Sicherheitsrats ebnete.

Im Ukrainekrieg hat sich diese Lücke in schmerzhafter Weise bemerkbar gemacht. Bereits am 25. Februar 2022 – also ein Tag nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – wurde im Sicherheitsrat eine von Albanien und den USA vorgelegte Resolution zur Beendigung der Ukrainekrise diskutiert; sie wurde von 11 Mitgliedern angenommen, China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich der Stimme. Russland legte das Veto ein.

Mittlerweile ist klar, dass der Sicherheitsrat in der gegenwärtigen Konstellation handlungsunfähig ist und bleibt. Diesbezüglich können sich alle anderen UN-Institutionen (Generalversammlung, Internationaler Gerichtshof usw.) den Mund fusselig reden, sie werden wenig bis gar nichts bewirken.

Aus dieser Pattsituation gibt es zwei Auswege: einen pragmatisch-politischen und einen rechtlichen (oder eine Kombination davon).

Die neuen P11

Der pragmatisch-politische Ausweg scheint momentan im Vordergrund zu stehen. Entscheidungen werden durch neue Allianzpartner gefällt, ich nenne sie der Einfachheit halber «die P11».

Die P11 traten erstmals in ihrer aktuellen Formation beim G-20 Gipfel in Bali auf, nachdem russische Raketen über polnischem Gebiet niedergegangen war. Ein typischer Fall für den Sicherheitsrat, eigentlich. Der trat gar nicht erst in Erscheinung, stattdessen trafen die P11 ad hoc die nötigen Entscheidungen. Ein Photo des japanischen Aussenministeriums zeigt sie in trauter Runde.

Die «P11» bei ihrem ersten Auftritt in Bali (Bild: https://japan.kantei.go.jp/101_kishida/diplomatic/202211/_00016.html)

Mitglieder der P11 sind somit momentan:

  • Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission
  • Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates
  • Giorgia Meloni, italienische Ministerpräsidentin
  • Emmanuel Macron, französischer Präsident
  • Pedro Sánchez, spanischer Ministerpräsident
  • Rishi Sunak, britischer Premierminister
  • Mark Rutte, holländischer Ministerpräsident
  • Olaf Scholz, deutscher Bundeskanzler
  • Joe Biden, US-Präsident
  • Justin Trudeau, kanadischer Premierminister
  • Fumio Kishida, japanischer Premierminister

Was die P11 genau diskutiert und entschieden haben, ist nicht so ganz klar. Sicher ist, dass sie verhindert haben, dass Art. 5 des Nato-Vertrags angerufen werden musste, der vorsieht:

«Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.»

Wäre dieser Bündnisfall infolge der in Polen (einem Nato-Staat) gelandeten russischen Raketen eingetreten, hätten plötzlich die Nato-Länder einschliesslich der Atommächte Frankreich, Grossbritannien und USA der Atommacht Russland (und möglicherweise der Volksrepublik China) gegenübergestanden.

Die Volksrepublik China als Verbündeter Russlands? Aussagen des neuen chinesischen Aussenministers und damaligen Botschafters in Washington lassen es vermuten.

Dies wurde durch die P11 gerade knapp vermieden, indem beschlossen wurde, die Schuld für die fehlgeleitete Rakete den Ukrainern in die Schuhe zu schieben. Bei den Sprengungen der Gasleitungen Nordstream 1 und 2 hat man es tunlichst vermieden, einen Schuldigen zu benennen, auch wenn dieser den P11 sehr wohl bekannt sein dürfte.

Es ist durchaus denkbar, dass die P11 wieder in Aktion treten würden, sollte eines der EU-Länder bzw. NATO-Staaten bzw. der mit diesen Länder eng Verbündeten angegriffen werden. Zu denken ist insbesondere an einen Angriff der Volksrepublik China auf Südkorea, Japan oder Taiwan (was auch die Präsenz von Premier Fumio Kishida beim ersten Auftritt der P11 erklären dürfte).

Denkbar ist allerdings auch, für diesen Fall den Sicherheitsrat wieder zu reaktivieren. Dazu gibt es verschiedene rechtliche Möglichkeiten.

Rechtliche Möglichkeiten zur Reaktivierung des Sicherheitsrats

Eine Möglichkeit, damit der Sicherheitsrat seine Handlungsfähigkeit wiedererlangen kann, ist in der UN-Charta angelegt. Zwei Länder, die in letzter Zeit besonders eifrig von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, sind entsprechend der UN-Charta gar nicht Mitglieder der P5: Russland und die Volksrepublik China. Sie okkupieren die Sitze die gemäss Art. 23 (1) UN-Charta die Republik China und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

Es gibt weder einen rechtlichen noch einen politischen Grund, der Russland als Nachfolger der ca. 15 Sowjetrepubliken legitimiert. Wenn ein Grund bestünde, Russland als Mitglied im Sicherheitsrat zu behalten, müsste die UN-Charta geändert werden – wozu gemäss Art. 108 f. der UN-Charta der entsprechende Beschluss von zwei Dritteln der Mitglieder der Generalversammlung und allen permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates ratifiziert werden müsste.

Noch klarer ist der Fall bezüglich der Republik China. Nun ist es das Recht der UN-Generalversammlung, Mitglieder aufzunehmen oder aufzunehmen, nicht zu bestreiten (wobei die Resolution 2578, mit der die «Vertreter von Chiang Kai-shek», nicht aber die Republik China ausgeschlossen wurden, auf rechtlich ziemlich wackligen Füssen steht). Irgendwelche Resolutionen der Generalversammlung ändern nichts an der Tatsache, dass die UN-Charta nun mal vorsieht, dass der Republik China ein permanenter Sitz im Sicherheitsrat zusteht. Dass die Republik China eben nicht das gleiche ist wie die Volksrepublik China dürfte auch einem Blinden auffallen, auch wenn die Volksrepublik China krampfhaft versucht, Resolution 2578 umzudeuten.

Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob es nicht ohnehin klüger wäre, die UN-Charta den modernen Gegebenheiten anzupassen und statt drei Nato-Ländern (USA, Frankreich, Grossbritannien) auch anderen Ländern eine stärkere Stellung einzuräumen, die willens und fähig sind einen Beitrag zur Durchsetzung des Völkerrechts zu leisten zu mögen.

Prestigedenken und Hoffnungen, dass die Schweiz «Zugang zu den Grossmächten und zu Informationen, die sie normalerweise nicht hätte» bekommt, dürften sich dagegen relativ rasch als Chimäre herausstellen. Hinzu kommt, dass die Selbsteinschätzung der Schweiz, sie sei neutral und glaubwürdig nicht in allen Weltgegenden geteilt wird. Schon gar nicht in Russland und China.

Dass eine Eskalation nicht nur, aber auch, in Bezug auf China und Taiwan droht, ist inzwischen auch dem Bundesrat klar geworden. Die Zusicherung, dass sich das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sich auf diesen Ernstfall vorbereite, wirkt wenig glaubwürdig, wenn ausgeführt wird, «über allfällige Sanktionen entscheide die Schweiz aufgrund einer Güterabwägung». Wenn der Ernstfall eintritt, muss sofort und koordiniert reagiert werden, das hat der Koreakrieg gezeigt, der Ukrainekrieg (wo die Schweiz mit einem Verzug von rund einer Woche reagierte) und zuletzt die G11. Die Zusicherung «Uno-Sanktionen würde die Schweiz wie immer übernehmen.» ist lächerlich, Sanktionen des Sicherheitsrates würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Veto von Russland und/oder der Volksrepublik China scheitern. Resolutionen der UN-Generalversammlung sind lediglich rechtlich nicht bindende Empfehlungen, die sich nur in Einzelfällen zum Völkergewohnheitsrecht entwickeln. Dazu stellt sich die Frage, was die Schweiz den zu erwartenden Druckversuchen entgegenzustellen hat.

Die Diskussion der Frage von Nationalrat Walder in seiner Interpellation vom 22. September 2022, «Stellt sich die Schweiz auf eine Verschlechterung ihrer Beziehungen mit der Volksrepublik China ein?» wurde verschoben. Die Kritik von SVP-Nationalrat Roger Köppel in der Debatte die Motion APK-S. Institutionalisierung des Austauschs und der Koordination von Schweizer Akteuren gegenüber China (Whole of Switzerland)» mag etwas arg zugespitzt sein, aber sie enthält ein Körnchen Wahrheit:

«Wir sehen eine schweizerische Politik, die im Zustand der eingebildeten Grossmachtstellung zu leben scheint. Ich muss Sie, Herr Bundespräsident, korrigieren. Sie haben vorhin gesagt: “Les absents ont toujours tort.” In der Weltpolitik gilt leider das Gegenteil. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz nicht anwesend. Und im Rückblick hat sich herausgestellt, dass die Abwesenden in diesem Fall recht hatten. Ziehen Sie also aus der Geschichte nicht die falschen Schlussfolgerungen. Die Neutralität ist eben nicht das, was wir uns hier in der geschlossenen Abteilung einreden; die Neutralität entspricht der Wahrnehmung, die die Welt draussen von uns hat. Das ist ganz entscheidend.
Wie nimmt uns die Welt im Moment wahr? Wir sind auf der Liste der feindlichen Staaten von Russland, ob wir das wollen oder nicht, ob wir das anders verstehen oder nicht. Wir haben China entrüstet. China war empört, Herr Bundespräsident, über die China-Strategie der Schweiz, die der Bundesrat im Glauben verabschiedet hat, dass sie in China, in Peking, eitles Wohlgefallen auslösen würde. Das Gegenteil war der Fall.»

Bleibt zu hoffen, dass sich die Schweizer Politik mit den aufgeworfenen Fragen befasst, bevor es zu einem weiteren Anwendungsfall von Kapitel VII der UN-Charta kommt und dem überraschten Bundesrat nichts anderes übrig bleibt, den Entscheiden der P11 hintennachzuhinken.


Dr. iur. Maja Blumer hat an der Universität Bern und an der Tsinghua University in Beijing Recht studiert und an der Beijing Language and Culture University sowie an der National Chengchi University in Taipei die chinesische Sprache erlernt.