Die «Free 的 Man Revolution» in China

Was viele für undenkbar hielten, ist am vergangenen Wochenende zur Realität geworden: Wie im Lauffeuer verbreiteten sich Proteste über Städte in ganz China und erreichten schliesslich die Kapitale in Beijing. Bilder von Hunderten von Studierenden der Elite-Universität Tsinghua, die vor der Zijingyuan-Kantine auf dem Universitätscampus protestieren, gingen um die Welt.

von Maja Blumer, 28. November 2022

Das Bild von Studierenden der Tsinghua-University, welche vor der Zijingyuan-Kantine auf dem Campus protestieren, ging um die Welt.

Kürzlich habe ich mich darüber mokiert, dass man nicht erwarten kann, Nachrichten zur politischen Entwicklungen in China mit der Tageszeitung zum Morgenkaffee serviert zu bekommen. Ausnahmen bestätigen die Regeln: Heute zeigten Tageszeitungen und Nachrichtenportale weltweit ein mir wohlvertrautes Bild: chinesische Studierende der Elite-Universität Tsinghua vor der Zijingyuan-Kantine auf ihrem Universitätscampus.

Sie befassten sich allerdings nicht mit dem wohlvertrauten Problem, mit der man sich als Student in der Vergangenheit in der rein subjektiv besten Universitätskantine der Welt der rein subjektiv besten Universität der Welt täglich konfrontiert sah: In welchen Stock lässt man sich mit der Rolltreppe in diesem Schlaraffenland katapultieren? Steht einem der Sinn eher Gongbao-Hühnchen oder Teigtaschen, süss-sauer oder scharf?

Die Studierenden befassten sich auch nicht mit dem sonst üblichen Studium wissenschaftlicher Erkenntnisse. Aber sie befassten sich mit dem wissenschaftlichen Fortschritt. Während Protestierende anderswo weisse A4-Blätter hochhielten, die chinesische Nationalhymne sangen («Steh auf! Wir wollen keine Sklaven mehr sein!…»), «Nieder mit Xi Jinping» skandierten, Slogans des «Bridge Man» in Toiletten kritzelten, Barrikaden niederrissen etc., stellten die Tsinghua-Studenten ihre Intelligenz unter den Beweis und liessen sich etwas Besonderes einfallen: Sie hielten Blätter in die Höhe, welche für Eingeweihte die erste Friedmann-Gleichung erkennen lassen.

Wie der aus Hong Kong geflüchtete Politiker Nathan Law festgestellt hat, beinhaltet die Botschaft einmal ein Wortspiel: von einem Chinesen gelesen klingt der Name des russischen Physikers und Mathematikers Friedman wie «Free 的 Man» oder «Free the Man».

Man kann aber noch eine weitere Botschaft hineinlesen, denn die erste Friedmann-Gleichung hat durchaus eine philosophische Komponente. Friedman’s Formel geht davon aus, dass der Kosmos nicht etwas statisches ist, aber Vorhersagen erlaubt. Die Zeitschrift Forbes hat dies einmal wie folgt auf den Punkt gebracht:

The first Friedmann equation describes how, based on what is in the universe, its expansion rate will change over time. If you want to know where the Universe came from and where it’s headed, all you need to measure is how it is expanding today and what is in it. This equation allows you to predict the rest!

Es geht mit anderen Worten darum, Gesetzmässigkeiten der Gegenwart zu erkennen und damit den Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft zu schlagen. Das ist derart banal, dass es schon wieder genial ist.

Diese Formel sollten vielleicht auch westliche Investoren bedenken. Kaum kursierten die ersten Gerüchte, dass die Zero-Covid-Politik gelockert werden könnte und sahen die Präsidenten Xi Jinping und Biden in Bali die Hände schütteln, keimte die Hoffnung bei den westlichen Investoren, es sei nun alles wieder in Ordnung und man könne nun Geschäften wie vorher.

Proteste wie diejenigen der Tsinghua-Studenten könnten denjenigen, die auf «weiter wie bisher» hoffen, ebenso sehr einen Strich durch die Rechnung machen wie denjenigen, die von einer Rückkehr in die guten alten Zeiten der Reform- und Öffnungspolitik träumen.

Weiter wie bisher?

Dass die Behörden vorübergehend «Ordnung schaffen» ist dabei durchaus nicht auszuschliessen. Weiterwursteln wie bisher ist in China eine bewährte Taktik, geblendet durch die unaufhörliche Propaganda ist der Glaube, der eingeschlagene Weg führe doch noch irgendwann zum Ziel, unerschütterlich.

Paradebeispiel sind Foxconn-Werke in Zhengzhou. Die Arbeitsbedingungen dort geniessen schon seit Jahren einen schlechten Ruf, so dass die Rekrutierung von Arbeitskräften sich als schwierig erwies. Unter anderem scheint man sich mit Arbeitern aus Xinjiang beholfen zu haben, die wahrscheinlich nicht ganz freiwillig nach Zhengzhou gekommen sind. Nachdem Anfang November 2022 zehntausende von Arbeitern ausgebüxt sind, gelang es Mitte November nochmals, neue Arbeiter zu rekrutieren, ob mit schönen Versprechungen oder mit Zwang, ist nicht so ganz klar; die Rede ist davon, dass ausgemusterte Soldaten und Beamte mit Bonuszahlungen geködert wurden. Die «Lösung» hielt gerade einmal ein paar Tage hin, bis gewaltsame Unruhen ausbrachen. Diese wurden mit einem gewaltigen Aufgebot an Sicherheitskräften – Polizei, Militär, Paramilitärs – niedergeschlagen und die Leute allem Anschein nach wieder nach Hause geschickt (wobei man sich nicht wundern würde, wenn dieses Zuhause von einem Stacheldrahtverhau umzäunt wäre). Womit man bezüglich der Rekrutierungsprobleme wieder auf Feld A wäre, so dass man wieder mit den gleichen nichtbewährten Scheinlösungen aufwarten kann.

Da hat die chinesische Zensur noch funktioniert: Damit die Welt nichts von der Niederschlagung der Proteste bei den Foxconn-Werken erfährt, wurde dieser Beitrag kurz nach seiner Ausstrahlung wie andere auch mit einer «Altersbeschränkung» versehen. Eine beliebte Methode, Youtuber mundtot zu machen, denn wer sich einloggt, muss wissen: Die chinesischen Behörden hat höchstwahrscheinlich Möglichkeiten, auf diese Daten zuzugreifen.

Ähnliches lässt sich in Shanghai beobachten, wo den friedlichen Protesten nicht nur mit einem massiven Polizeiaufgebot und Verhaftungen (auch eines ausländischen Journalisten von BBC) begegnet wurde, sondern mit dem Bau von neuen behelfsmässigen Mauern.

Dass ein autokratisches System mit solchen Methoden aufrecht erhalten werden kann, zeigt sich exemplarisch an der DDR, wo die Mauer auch mehr als 28 Jahre gehalten hat. Welche wirtschaftlichen und sozialen Kosten das zur Folge hatte, ist bekannt.

Solange mit immer stärkeren Repressionen an der Zero-Covid-Politik festgehalten wird, braucht man sich als Westler keine Illusionen zu machen. Ja, irgendwie wird das System am Laufen bleiben, aber: Das von Klaus Schwab so bewunderte System, das er kürzlich im chinesischen Staatsfernsehen CGTN als «Rollenmodell für viele Länder» bezeichnet hat, eilt in einem beängstigenden Tempo dem WEF-Ideal von «You will own nothing…» entgegen.

Und wenn die Zero-Covid-Policy doch aufgegeben wird?

Tatsächlich ist es auch das Szenario denkbar, dass die ausgebrochenen Proteste von der Regierung nicht länger unter Kontrolle gebracht werden können und sie zur Aufgabe der Zero-Covid-Policy gezwungen werden, zumal die Kosten für die Umsetzung für die lokalen Behörden ins unermessliche steigern.

Auch in diesem Szenario sollten allerdings die Entwicklungstendenzen der Vergangenheit beobachtet werden, um Vorhersagen für die Zukunft zu machen. China musste schon mehrfach von einer unhaltbaren Politik abkehren, die unsägliches Leid schaffte. Ein besonders krasses Beispiel ist der Grosse Sprung nach Vorne, von welchem die maoistische Regierung 1961 aufgrund ihrer katastrophalen Auswirkungen (welche schon drei Jahre zuvor erkennbar waren) abrücken musste. Dies führte nicht etwa dazu, dass man sich auf die durchaus auch in China vorhandenen Erfahrungen zurückgriff, sondern man kaschierte die Angelegenheit mit einer «Vorwärtsstrategie» und Mao zettelte einen Krieg mit Indien an (der ein glimpfliches Ende nahm, weil die Kuba-Krise, von der man in China annahm, sie würde die USA ablenken, abrupt beendigt wurde).

Ähnlich verhielt es sich mit der Kulturrevolution, welche China endgültig in den wirtschaftlichen Abgrund führte. Sie führte zwar zur im Westen gefeierten Reform- und Öffnungspolitik, aber erst, als China mit einem weiteren Krieg in Vietnam den Kürzeren gezogen hatte.

Die «Free the Man Revolution» kann in China zu einer Wende führen, die es erlaubt, dass die chinesische Bevölkerung ihr wirtschaftliches und kulturelles Potential zur freien Entfaltung zu bringen. Das ist nicht selbstverständlich, aber es kann gelingen, so wie es anderswo gelungen ist. Wie schrieben doch die Autoren des Stäfner Memorials vor über 200 Jahren:

«Die Liebe zur Freiheit sowie der Hass gegen alle Arten des Despotismus ist der Menschheit eigen. Jener huldigten alle aufgeklärten Völker vom Aufgang bis zum Niedergang.» – Heinrich Nehracher, Johann Kaspar Pfenninger, Heinrich Ryffel und Andreas Staub, Stäfner Memorial, 1794

Die Verfasser des Stäfner Memorials wurden für ihre Liebe zur Freiheit hart bestraft. Aber selbst heute wärmen die Kachelöfen des Mitautoren Heinrich Nehracher und seiner Familie noch manche Stube am Zürichsee – Öfen, die nicht gebaut hätten werden dürfen, wenn es nach der Zürcher Obrigkeit gegangen wäre. Vielleicht werden die Studierenden der Tsinghua Universität auch eines Tages gefeiert werden, weil sie bahnbrechende Erfindungen gemacht haben, gerade weil – und nicht obwohl – sie für die Freiheit eingetreten sind.


Dr. iur. Maja Blumer, Rechtsanwältin, LL.M., hat in Bern und an der Tsinghua University Recht studiert. Sie lässt sich beim Blogverfassen am liebsten von einem 1792 gebauten Nehracher-Ofen den Rücken wärmen.