Die aussenpolitische Offensive des chinesischen Präsidenten der letzten Tage dürfte als eines der grössten diplomatischen Desaster in die Weltgeschichte eingehen. Dass liegt nicht daran, dass sich die chinesische oder westliche Seite nicht redlich Mühe gegeben hätten. Und noch nicht einmal an sprachlichen Barrieren. Sondern an der Unfähigkeit der beteiligten Personen, einander zuzuhören und an den vorschnellen Schlüssen, die aus dem Gesagten gezogen werden.
von Maja Blumer, 20. November 2022
Die chinesiche Aussenpolitik hat nicht nur mit dem Problem des «Lost in Translation», der «Gaffe», die jedem einmal passiert und noch nicht einmal mit gewalttätigen Botschaftsmitarbeitern zu kämpfen, von denen andernorts in diesem Blog berichtet wurde, sondern mit einem Versagen in der Königsklasse der Diplomatie, dem Dialog. Ein Paradebeispiel für das komplette Versagen des diplomatischen Dialogs ist der Wortwechsel zwischen dem Führer der Volksrepublik China, Xi Jinping, und dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau anlässlich des G20-Gipfels in Bali, der weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat.
Nach einer anfänglich ziemlich adäquaten Berichterstattung in den grossen Medienkanälen wurde das Gespräch hochgespielt (siehe dazu die «China Show» vom 19. November 2022, ab Minute 27:30). Hier scheint insbesondere die «50-Cent-Army» (五毛) am Werk gewesen zu sein, die versucht haben, Xi Jinping als Sieger des Wortwechsels darzustellen.
Als die Sache in den Schweizer Medien durchgesickert war, waren dort Schlagzeilen zu lesen wie «Xi Jinping und Justin Trudeau streiten sich vor laufender Kamera» (NZZ), «’Non si fa così’, Xi Jinping furioso con Trudeau al G20» (Swissinfo), «Xi Jinping critique Justin Trudeau devant les caméras» (französische Ausgabe des Blicks), Xi Jinping verärgert über Kanadas Premier (Tagesanzeiger).
In den englischsprachigen Medien und in Kanada wurde etwas weniger Zurückhaltung an den Tag gelegt: «Little Potato peeled, China’s Xi dresses down Trudeau at summit» (Toronto Sun), «Chinese President Xi Jinping accuses Trudeau of ‘leaking’ details of conversation to media» (CBC) etc. war dort zu lesen, die Kommentarspalten überquollen mit tausenden von Beiträgen.
Das chinesische Aussenministerium ruderte – angeblich – eilends zurück, wie Reuters berichtete, jedenfalls soll die Sprecherin des Aussenministeriums an der regulären Pressekonferenz vom 17. November 2022 gesagt haben, es habe sich um ein völlig normales Gespräch gehandelt und Xi Jinping habe Justin Trudeau nicht kritisiert. Das Problem bei dieser von der Nachrichtenagentur Reuters wiedergebenen Botschaft ist, dass Mao Ning selbst zensuriert wurde. Tatsächlich findet sich zwar eine Videoaufnahme von der fraglichen Pressekonferenz, wo sie genau das gesagt hat. Auf der offiziellen Website des Aussenministeriums ist zur Affäre aber nichts zu lesen. Gemäss Global Times hat sie etwas ganz anderes gesagt. Was nun wirklich gilt werden wir wohl nie wissen.
Was wir aber wissen, ist, was Xi Jinping und Justin Trudeau tatsächlich gesagt haben – verbal und nonverbal. Es lohnt sich, diesen «dialogue de sourds» (um einen Begriff meines Kollegen Henri Feron zu wählen) einmal im Detail anzuschauen (in Klammern: eigene Übersetzung der Autorin):
Xi Jinping: 不合適!我們所有討論內容被洩漏。不合適!(Unpassend! Alle unsere Diskussionen sind durchgesickert. Das ist unpassend! )
Übersetzer: Alles was wir diskutiert haben, ist an die Presse durchgesickert. Das ist unpassend!
Justin Trudeau: (nickt)
Xi Jinping: 而且我們不是那樣進行的。(Und das ist nicht unsere Art, es zu tun.)
Übersetzer: Und das ist nicht so, wie wir die Konversation geführt haben.
如果有誠心咱們就療應以互相尊重態度來進行很好的溝通。否則這個結果就不好說了。(Wenn Aufrichtigkeit besteht, können wir gut und mit gegenseitigem Respekt kommunizieren. Andernfalls sind die Konsequenzen nicht absehbar.)
Übersetzer: Wenn auf Ihrer Seite Aufrichtigkeit besteht…
Justin Trudeau (fällt dem Übersetzer ins Wort, Xi Jinping schaut scheinbar verwirrt nach links und rechts):We believe in free and open and frank dialogue and that is what we will continue to have. We will continue to look to work constructively together, but there will be things we will disagree on, and we will have to…
Xi Jinping (fällt Justin Trudeau ins Wort): 創造條件,創造條件。(Schaffen Sie die Voraussetzungen, schaffen Sie die Voraussetzungen.)
Xi Jinping: 好。(Gut)
(Xi Jinping und Justin Trudeau schütteln die Hände und machen sich vom Acker.)
Xi Jinping (im Gehen, mutmasslich auf Justin Trudeau bezogen): 很天真!(Ziemlich naiv!)
Auffallend am Gespräch ist, dass die Botschaft, die die beiden Politiker vermitteln wollten, auf der Gegenseite überhaupt nicht angekommen ist. Dabei muss man annehmen, dass Justin Trudeau kein Chinesisch versteht und Xi Jinping kein Englisch. Dass dürfte auch ein Grund sein, weshalb Xi Jinping scheinbar verwirrt nach links und rechts schaut – er mag zwar nicht verstanden haben, was Justin Trudeau gesagt hat, er hat aber sehr wohl wahrgenommen, dass die übliche Reihenfolge (erst die Botschaft in der eigenen Sprache, dann die Übersetzung, dann die Stellungnahme der Gegenseite) über den Haufen geworfen worden ist.
Dass Xi Jinping es als Respektlosigkeit wahrgenommen hat, dass Justin Trudeau den Übersetzer nicht hat ausreden lassen, lässt sich daraus schliessen, dass er mit gleicher Münze zurückzahlt und Justin Trudeau nicht ausreden lässt und das Gespräch abrupt abbricht, ohne sich dazu zu äussern, welche Voraussetzungen für die Fortführung der Gespräche wären, welche seiner Meinung durch die kanadische Seite zu schaffen wären. Und was die unabsehbaren Konsequenzen wären, von denen er spricht.
Dass Xi Jinping den Eindruck erweckt, dass er ziemlich aufgebracht ist, könnte daran liegen, dass sich die diplomatische Mission als schwieriger erweist, als sich das Xi Jinping wohl erhofft hatte. Daran ist bei weitem nicht nur Justin Trudeau schuld.
Die Machtdemonstration gegenüber dem deutschen Bundeskanzler Scholz hat sich als Schuss in den eigenen Fuss erwiesen. Nicht nur sass Bundeskanzler Scholz zusammen mit Ursula van der Leyen am Tisch der Grossmächte, als US-Präsident Biden eine Notfallsitzung im Zusammenhang mit der auf polnischem Gebiet niedergegangenen Raketen einberief – Xi Jinping war, im Gegensatz zum japanischen Premier Kishida, nicht eingeladen. Dass in den deutschen Medien gleichentags die neue China-Strategie «geleakt» wurde, welche eine deutlich härtere Gangart in Aussicht stellt, machte die Sache auch nicht gerade besser.
Dass das kanadische Aussenministerium wenige Tage zuvor eine ähnliche Vorschau auf die neue Strategie für den Indo-Pazifik gegeben hat, macht die Sache für Xi Jinping auch nicht gerade besser. Wenn es dazu noch stimmt, dass Justin Trudeau ein Treffen mit Xi Jinping abesagt hat, um als rechte Hand von Joe Biden an dieser Sitzung teilzunehmen.
Dass es auch zwischen Joe Biden und Xi Jinping zu Kommunikationspannen gekommen ist, versteht sich fast von selber. Das ist allerdings Thema einen anderen Blog.
Man kommt nicht umhin, Xi Jinping eine gewisse Bewunderung zu zollen, dass er am G20-Gipfel ausgeharrt hat. Es wäre ihm zu wünschen gewesen, er hätte bei seinem nächsten Zwischenhalt in Thailand ein bisschen mehr diplomatisches Geschick an den Tag gelegt. Leider kam es dort zu einer weiteren «Gaffe», als Xi Jinping es unterliess, Premier Prayut die Hand zu schütteln.
Und dann kommen noch die Probleme dazu, welche Xi Jinping «zu Hause» hat. Bereits beim ersten Auslandsaufenthalt machten Putschgerüchte die Runde. Nun macht es den Eindruck, als ob gegen die Zero-Covid Politik, die Xi Jinping als persönliches Verdienst ansieht, ernsthaft Widerstand erwächst, und zwar nicht nur in Beijing, wo der Protest auf der Sitong-Brücke mit der «Toilettenrevolution» ein erstaunlich grosses Echo auslöste (mit dem Erfolg, dass öffentliche Toiletten nur noch mit «grünem» Code betreten werden dürfen. Nachdem bei Foxconn bis zu 100’000 Mitarbeiter «ausgebüxt» sind, ist es auch in der Wirtschaftsmetropole Guangzhou zu grossen Protesten gekommen.
Wer sich nun Hoffnungen macht, dass es in China rasch zu einem Kurswechsel kommt, so dass man wieder ungestört Geschäfte mit dem Reich der Mitte machen kann, sei daran erinnert, dass gewaltsame Aufstände in der Volksrepublik China in der Vergangenheit mit grosser Regelmässigkeit brutal niedergeschlagen wurden.
Ob die Auguren recht behalten, dass Xi Jinping als Diplomat impotent sei, wird sich zeigen. Eines ist schon jetzt sicher: die chinesische Aussenpolitik ist spannender als auch schon.