Das chinesische Notfall-Notfallgesetz

Ein vom chinesischen Oberbefehlshaber und Präsidenten Xi Jinping erlassenes Gesetz für eine grosse Bandbreite von «nichtkriegerische» militärische Operationen soll bereits Mitte Juni in Kraft treten und lässt Schlimmes befürchten.

Am Montag, 13. Juni 2022 wurde durch die Nachrichtenagentur Xinhua bekanntgegeben[1], dass der chinesische Präsident Xi Jinping in seiner Funktion als Vorsitzender der Central Military Commission einen Erlass veröffentlicht habe, welcher den Titel 军队非战争军事行动纲要 trägt. Der Erlass soll die militärischen Operationen ausserhalb von Kriegen regeln, vorerst auf provisorischer Basis zu Testzwecken. Der Erlass umfasse 59 Artikel (der Inhalt wurde nicht publiziert) und beinhaltet angeblich die rechtliche Grundlage für die Durchführung von «Missionen» wie Katastrophenhilfe, humanitäre Hilfe, Eskorte und «Friedenssicherung» durch die Volksbefreiungsarmee schaffen und Chinas nationale Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen schützen. Der Erlass soll bereits am Mittwoch, 15. Juni 2022, in Kraft treten.

Wie kommt es, dass ein Präsident und Oberbefehlshaber einen der Schilderung sehr weitreichenden und umfangreichen Erlass in Kraft setzt, der seinem Zweck, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, und seinem Umfang nach, eindeutig den Charakter eines Gesetzes hat. Allerdings mit der Besonderheit, dass das Gesetz nicht veröffentlicht wurde. Wäre das nicht Sache eines ordentlichen Gesetzgebungsprozesses? Oder gilt dieser in militärischen Angelegenheiten nicht? Oder gibt es Gründe, den Gesetzgebungsprozess abzukürzen?

Nun ist es nicht so, dass die Rule of Law (oder zumindest die Rule by Law) plötzlich in China nicht mehr gelten würde oder die chinesische Legislative – der National People’s Congress bzw. das Standing Committee des National People’s Congress (NPCSC) keine Gesetze zum Militär erlassen dürfte oder dies nicht innert nützlicher Frist tun würde. Ganz im Gegenteil: die Liste militärischer Erlasse[2] in den letzten Jahren ist überwältigend. Einige Beispiele: Am 31. März 2022 trat der Entscheid des NPCSC über die militärischen Ränge in der Volksbefreiungsarmee (全国人民代表大会常务委员会关于中国人民解放军现役士兵衔级制度的决定) in Kraft; 2021 das Gesetz über den Status, die Rechte und die Interessen des militärischen Personals (中华人民共和国军人地位和权益保障) sowie das Gesetz über die Küstenwache (中华人民共和国海警法), 2020 das Sicherheitsgesetz für Hong Kong (中华人民共和国香港特别行政区维护国家安全法). Selbst an die Veteranen wurde gedacht (中华人民共和国退役军人保障); schon seit 2018 sorgt ein Gesetz dafür, dass Helden und Märtyrern die Ehre erwiesen wird (中华人民共和国英雄烈士保护法) – zu denken ist da insbesondere an die etwa drei Millionen «Freiwilligen», die im Koreakrieg gekämpft haben. Auch an laufenden Aktualisierungen bereits bestehender Gesetze fehlt es nicht. Im vergangenen Jahr wurde zum Beispiel das Militärdienstgesetz (中华人民共和国兵役法) sowie das Gesetz über den Schutz militärischer Einrichtungen (中华人民共和国军事设施保护法) revidiert, 2020 das Militärpolizeigesetz (中华人民共和国人民武装警察法) und das Gesetz über Offiziere im Aktivdienst (中华人民共和国现役军官法). Der vielleicht grundlegendste Erlass, das Verteidigungsgesetz (中华人民共和国国防) aus dem Jahr 1997, zuletzt revidiert 2009, wurde im Dezember 2020 revidiert und trat am 1. Januar 2021 in Kraft[3].

Es ist schwer vorstellbar, dass seitens des State Council (unter dem Vorsitz von Li Keqiang) und der Central Military Commission (unter dem Vorsitz von Xi Jinping), von dem die Gesetzgebungsprojekte ausgehen, an irgendetwas nicht gedacht wurde oder dass ein Gesetz nicht auf dem neuesten Stand ist.

Es gibt eine wichtige Ausnahme im doppelten Sinne: Der Revisionsentwurf für das Emergency Response and Management Law (突发事件应对管理法) aus dem Jahr 2007 hätte eigentlich im Juni 2022 verabschiedet werden sollen[4], erscheint aber plötzlich nicht mehr auf der Liste der von der NPCSC in der Sitzung vom 21. bis 24. Juni 2022 zu behandelnden Projekte[5]. Der Entwurf[6] wurde im Dezember 2021 vom NPCSC behandelt und ist zwar umfangreich (104 Artikel gegenüber 70 in der Version von 2007), erklärt aber die plötzliche Verzögerung nicht. Neben der Verzögerung einer Routine-Revision fällt eine weitere Besonderheit auf: Der Entwurf wurde nicht wie sonst bei militärischen Erlassen üblich vom State Council und der Central Military Commission gemeinsam verfasst, sondern ausschliesslich vom State Council. Ein deutliches Signal: Die Bewältigung von Notfällen ist Sache der Zivilverwaltung und nicht des Militärs.

Das ist nichts Neues, sondern entspricht der aktuellen chinesischen Gesetzgebung[7]. Das Kommando für die Bewältigung schwerer Notfälle liegt beim State Council, die Volksbefreiungsarmee und die Armeepolizei haben zudienende Funktion (Art. 8 des Emergency Response and Management Law). Die Central Military Commission spielt zwar auch eine Rolle (Art. 14 des Emergency Response and Management Law), aber es dürfte nicht die Idee gewesen sein, dass diese über den Kopf des State Councils hinweg entscheidet.

Notfälle im Sinne des geltenden Emergency Response and Management Law sind gemäss dessen Artikel 3 Naturkatastrophen, Unglücksfälle, Unfälle im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Vorfälle im Bereich der öffentlichen Sicherheit, die plötzlich auftreten und schwere soziale Schäden verursachen oder verursachen können und für die Massnahmen zur Bewältigung von Notfällen ergriffen werden müssen. Also ziemlich genau die Bereiche, die gemäss Presseberichten durch den neuen Erlass von Xi Jinping abdeckt werden[8].

Dass nunmehr zwei Erlasse zur Regelung des gleichen Problems unkoordiniert nebeneinanderstehen, ist schon im Normalfall ungünstig. Im Katastrophenfall ist das Vorliegen einer doppelten Kommandostruktur ein Super-GAU, das Risiko, dass die Katastrophe, die zu bewältigen wäre, durch fehlende Koordination noch verschlimmert wird, ist immens. 

Genau dies dürfte im Rahmen der «Zero Covid Policy» faktisch geschehen sein – eigentlich ein typischer Anwendungsfall des Emergency Response and Management Law. Es gibt wenig Zweifel, dass die Zero Covid Policy von der Zentrale ausging, und zwar nicht vom State Council Premier Li Keqiang, sondern von Präsident Xi Jinping. Es gibt auch Hinweise, dass die «Dabai» (大白), welche die Bevölkerung während der Lockdowns in Shanghai in Furcht und Schrecken versetzten, zum Teil der Volksbefreiungsarmee angehörten. 

Eine mögliche Erklärung ist, dass der von Präsident Xi Jinping notfallmässig in Kraft gesetzte Erlass zu nicht-kriegerischen Militäreinsätzen die Ausserkraftsetzung des Emergency Response and Management Law rechtfertigen sollen, d.h. als Notfall-Notfallgesetz zu qualifizieren ist. Die Massnahmen und Befehlsstrukturen unter dem Titel der Zero Covid Policy würden damit als erfolgreich dargestellt, das Emergency Response and Management Law inklusive des Revisionsentwurfs des Premiers als so schlecht, dass es nicht einmal revisionsfähig ist und daher durch den Präsidenten persönlich erlassenen Gesetz ersetzt werden muss.

Social Distancing in Shanghai. Es empfiehlt sich, die aktuellen Entwicklungen in China genauestens zu beobachten, und das nicht nur auf den offiziellen Kanälen. Hier: Screenshot eines Amateurfilms auf dem Youtube-Kanal von Zaiyeshuo (https://www.youtube.com/watch?v=oi2wk5BLcaA).

Möglich ist aber auch, dass die Kommandostrukturen der Zero Covid Policy mit dem neuen Erlass für einen Notfall in sehr naher Zukunft als «Best Practice» verankert werden sollen. Sehr nahe Zukunft deshalb, weil offensichtlich keine Zeit blieb, die gewünschten Änderungen im Emergency Response and Management Law zu verankern, was von Widerständen im NPCSC oder im State Council einmal abgesehen, innerhalb des ordentlichen Gesetzgebungsprozesses innerhalb von wenigen Tagen hätte geschehen können.

Mögliche Anwendungsfälle für das ab 15. Juni 2022 geltende Notfall-Notfallgesetz sind der Spekulation überlassen. Sie reichen von einer «friedlichen» Annektion Taiwans (ähnlich dem Ukrainekrieg, welcher von Präsident Putin als «militärische Spezialoperation» bezeichnet wird) oder einzelner taiwanesischer Firmen wie beispielsweise der Microchipherstellerin TSMC[9] , der Niederschlagung von Volksaufständen im ganzen Land, militärischer Überwachung des südchinesischen Meers, Wiederbelebung der chinesischen Wirtschaft etc. Unter die im Erlass von Xi Jinping erwähnten Begriffe «nationale Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen» lässt sich so ziemlich alles und jedes subsumieren. 

Wem dies noch nicht genügend beunruhigend erscheint, noch ein Hinweis auf eine historische Besonderheit. Der Erlass trägt die Bezeichnung 纲要 (Gāngyào), eine im Gesetzgebungsprozess in China nicht mehr allzu häufig anzutreffende Bezeichnung, welcher in etwa mit «Kompendium» oder «Programm» übersetzt werden kann. Berühmtheit erlangte ein unter diesem Namen erlassenes nationalen Programm für die landwirtschaftliche Entwicklung von 1956 bis 1967 (全国农业发展纲要) und steht in einem direkten Zusammenhang mit dem «Grossen Sprung nach vorn», der mit seiner absurden Landwirtschaftspolitik zur wohl grössten Hungersnot der Weltgeschichte führte, die Zahl der Todesopfer wurde auf etwa 50 Millionen Menschen geschätzt.

Was immer der Anlass für das Notfall-Notfallgesetz sein mag, empfiehlt es sich, die Situation in China im Auge zu behalten, und insbesondere Medienberichte mit der nötigen Aufmerksamkeit zu lesen.


[1] https://www.globaltimes.cn/page/202206/1268037.shtml

[2] https://npcobserver.com/legislation/13th-npc/#New

[3] https://npcobserver.com/legislation/national-defense-law/

[4] https://npcobserver.com/legislation/emergency-response-law/

[5] https://npcobserver.com/2022/05/31/npcsc-session-watch-antitrust-telecom-fraud-enforcement-of-court-judgments–more/

[6] https://npcobserver.com/wp-content/uploads/2021/12/Emergency-Response-and-Management-Law-Draft.pdf

[7] Englische Version verfügbar unter http://english.mee.gov.cn/Resources/laws/envir_elatedlaws/201705/t20170514_414040.shtml

[8] https://www.globaltimes.cn/page/202206/1268037.shtml

[9] https://www.businessinsider.com/china-must-seize-apple-chipmaker-taiwan-tsmc-if-sanctioned-economist-2022-6?r=US&IR=T